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KALENDERGESCHICHTEN/028: 04-2013   Die Zeit steht still ... und die Gefahr ist groß (SB)



Buntstiftzeichnung: © 2013 by Schattenblick

Jonathan, Rupert und Käpt'n Carlo

Die Zeit steht still ... und die Gefahr ist groß

(SB) - Rupert schnüffelte den Teppich entlang hinaus auf den Flur und tat so, als ob er eine Maus verfolgen würde. Er hoffte, dass er auf diese Weise sein Herrchen von Jonathans Mauseloch weg locken konnte. Doch just in dem Moment, als Mäuserich Jonathan los spurtete, um zu fliehen, wurde er von Herrn Becker entdeckt. Der rief laut nach seinem Hund: "Rupert, hierher, hier ist noch eine Maus!"

Voller Entsetzen bremste Rupert seinen Lauf, so schnell, dass er mit den Hinterbeinen wegrutschte und beinahe auf dem Bauch gelandet wäre. Er rappelte sich wieder hoch und stürmte in die Stube zurück. Dort stand Herr Becker mit ausgestrecktem Arm und wies mit dem Zeigefinger auf Jonathan, der in flinkem Lauf seinen Besen hinter sich her zog, dann aber plötzlich stehen blieb. Rupert stutzte und wunderte sich. Drohend fuchtelte Jonathan mit dem Besen vor Rupert herum.

Herr Becker beobachtete dieses merkwürdige Schauspiel. "Rupert, du wirst doch wohl keine Angst vor dieser Maus haben?" Rupert setzte sich hin und fauchte leise zu Jonathan hinüber: "Hey, was soll das werden? Verschwinde, lauf! Lauf auf den Flur, dann kann ich dich verfolgen und du kannst dich verstecken! Schnell!"

Doch Jonathan wirbelte weiter mit seinem Besen umher. Verzweifelt sah Rupert zu seinem Herrchen auf. Doch was war das? Herr Becker stand dort wie eine Statue. Er bewegte sich nicht, zeigte immer noch mit ausgestrecktem Arm auf die Maus. Mit offenem Mund blickte er auf Rupert, und es sah aus, als wolle er gerade etwas sagen ...

"Rupert, nun kannst du aufhören zu staunen!", rief da Jonathan. Und Rupert entgegnete: "Ich verstehe überhaupt nichts, was geht hier vor?"

"Ich habe mit meinem Besen die Zeit angehalten. Dein Herrchen merkt von all dem nichts. Aber wir können nun in aller Ruhe überlegen, wie wir verschwinden können", erklärte Jonathan. "Na ja, nicht ganz in Ruhe, irgendwann läuft die Zeit wieder weiter und Herr Becker ist so munter wie ein Fisch im Wasser!", räumte er ein.

"Wow, wuff und wow, das ist verrückt! Das ist einfach toll! Konntest du das schon immer?"

"Nein, natürlich nicht. Und ich sage dir gleich, ich kann es auch nur ganz selten anwenden. Es kostet mich verdammt viel Kraft. Ich bin total kaputt und meistens ratze ich danach Ewigkeiten. Also, beeile dich, such einen Platz, wo ich bleiben kann. Ich merk' schon, dass ich ganz schlapp werde. Rupert sah, wie Jonathan in sich zusammensackte und schließlich lang ausgestreckt auf dem Boden liegen blieb. Seinen Besen hielt er allerdings fest in seiner Hand.

Rupert fühlte sich ziemlich mies. Was sollte er denn nur machen? Sein Herrchen konnte sich jeden Moment wieder bewegen. Das wäre schrecklich, denn dann würde er die Maus reglos daliegen sehen und ...

"Oh, nein, oh nein, er wird sie dann aufheben und ...?" Rupert mochte gar nicht weiterdenken. In seiner Verzweiflung rief er so laut er konnte nach Käpt'n Carlo: "Schnell, bitte, komm schnell, Käpt'n. Eine Katastrophe, ich brauche Hilfe. Hiiilfee!"

Der Papagei war gerade nach einem langen Schläfchen aufgewacht und putze sein Gefieder, als er das Rufen von Rupert aus der Stube hörte. Sofort flog er los, landete neben Hund, Maus und Mann und begriff rein gar nichts. "Was hat sich denn hier zugetragen? Ich vermag aus dieser doch recht unbegreiflichen Situation keine sinnvollen Schlüsse ziehen. Also kann ich auch nicht verstehen, worin die Katastrophe besteht. Doch wenn ich recht bedenke, sieht es ganz so aus, als ob ..."

"Sei still, halt den Schnabel und hör zu!", brüllte Rupert. Der Papagei war so erstaunt über die ungehobelte Redeweise, dass er darauf gar nichts erwidern konnte. Sprachlos stierte er auf Rupert.

"Entschuldige bitte, Käpt'n, ich bin so aufgeregt. Wir müssen Jonathan retten, ganz schnell, jetzt gleich." Käpt'n Carlo räusperte sich und nickte stumm. In kurzen Worte berichtete Rupert, was geschehen war.

"Bleib ruhig, Rupert, ich werde Jonathan vorsichtig in meine Krallen nehmen und ihn erstmal ins Wohnzimmer transportieren. Dort verstecke ich ihn unter dem Sessel. Dann sehen wir weiter." Kaum hatte er das gesagt, schritt er auch schon zur Tat, nahm die Maus ganz sanft und flog davon. Glücklicherweise regte sich Herr Becker noch nicht.

"Und ich?", fragte sich Rupert. "Was mache ich denn jetzt? Ah, ja, ich weiß, ich werde zur Stubentür gehen, dort stehen bleiben und sobald Herrchen sich bewegt, stürze ich zu ihm. Dann wird er denken, dass ich hinter der Maus hergelaufen bin und sie gefangen habe. Am besten kaue ich noch ein wenig. Vielleicht meint er dann, dass ich die Maus gefressen habe. Ja, das ist ein guter Plan", beschloss Rupert, ganz mit sich zufrieden. Er brauchte auch nicht lange zu warten. Herr Becker drehte sich um, als er seinen Hund in die Stube tapsen hörte. "Na, da bist du ja. Hast du die Maus gefangen?"

Rupert setzte sich artig neben sein Herrchen und ließ sich auf den Rücken klopfen. Dann kaute er. Herr Becker beugte sich hinunter und herzte seinen Hund: "Braver Rupert, das hast du fein gemacht. Sag mal, hast du die Maus etwa aufgefressen?"

"Wuff", machte Rupert.

"Na, du bis mir ja einer, also hat man so etwas schon gesehen? Ein toller Hund bist du!" Nochmals klopfte Herr Becker ihn freundschaftlich auf den Rücken und struffelte sein Fell. Dann hob er die beiden kleinen Bretter auf und nagelte sie vor den Eingang zu Jonathans Mauseloch. "Sicherheitshalber", sagte er, während er hämmerte, "sicherheitshalber, sonst zieht dort vielleicht doch noch wieder eine Maus ein."

Rupert schlich sich ins Wohnzimmer. Käpt'n Carlo saß wieder oben auf seiner Stange und sah einfach nur hübsch und lieb aus. Das konnte er wirklich gut. Rupert legte sich neben den Sessel, so dass er die Sicht auf Jonathan versperrte.

"Jonathan, bist du wach?", flüsterte er und versuchte einen Blick auf die Maus zu werfen. "Jonathan, du musst wach werden, lange kannst du nicht hier bleiben!" Doch die Maus schlief tief und fest.

"Rupert, hast du schon eine Idee, wo wir ihn hinbringen können?", erkundigte sich Käpt'n Carlo ungewöhnlich kurz.

"Nicht wirklich. Aber uns muss etwas einfallen, bevor ...", Rupert konnte seinen Satz nicht vollenden, denn der Staubsauger, mit dem Herr Becker die Stube drüben saugte, lärmte schrecklich. "Hoffentlich will er nicht auch hier staubsaugen", raunte der Papagei beunruhigt.

Buntstiftzeichnung: © 2013 by Schattenblick

Grafik: © 2013 by Schattenblick

Die Begegnung mit dem Schatten

Papagei und Hund mussten ganz schnell einen neuen Platz für die Maus finden, denn sie befürchteten, dass Herr Becker mit dem Staubsauger auch ins Wohnzimmer kommen könnte ...

"O je, Käpt'n lass dir was einfallen, bitte", jammerte Rupert aufgelöst.

"Ich habe eine Idee. Angesichts der knappen Zeit, fasse ich mich kurz: Wir bringen ihn schnell in die Küche und stecken ihn in einen leeren Kochtopf. Dort wird er bestimmt nicht so schnell gefunden. Oder vielleicht legen wir ihn in eine Cornflakes-Packung oder in eine Zuckerdose oder ...", schlug Käpt'n Carlo vor.

"Nein, nein, bloß nicht in die Küche. Wer weiß, wann dort gekocht oder gegessen wird, nein, das ist viel zu gefährlich ...!"

"Wie wäre es, wenn ich ihn ganz oben auf das Bücherregal hinlege ...?"

"Nein, was ist, wenn er aufwacht, sich umdreht und hinunter fällt?", lehnte Rupert auch diesen Vorschlag ab.

Ihre mühsamen Überlegungen wurden von einem lauten Klingeln unterbrochen. Sie hörten, wie Herr Becker den Staubsauger ausstellte und über den Flur an die Haustür ging. "Ah, Guten Tag, Herr Jensen", begrüßte er seinen Nachbarn.

"Guten Tag. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass mein Kater, der Peterle, heute ganz früh morgens nach Hause gekommen ist."

"Das ist ja prima", freute sich Herr Becker.

"Möchten Sie, dass ich ihn noch einmal zu Ihnen bringe, wegen der Maus?"

"Nein, vielen Dank. Unser Maus-Problem wurde gelöst. Mein Rupert hat sie gefangen, heute morgen. Toll, nicht wahr?", berichtete er stolz.

"Ja, das ist doch mal eine ganz einfache Lösung, dann also, nichts für ungut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag", verabschiedete sich der Nachbar.

Rupert und Käpt'n Carlo hatten alles mit angehört. "Schnell, Rupert, das ist eine Gelegenheit wie es keine zweite gibt. Lauf auf den Flur und lass dir irgendetwas einfallen, wie du die beiden Menschen ablenken oder stören kannst. Wir benötigen dringend die offene Haustür! Ich hebe derweil Jonathan auf. Während du Radau machst, fliege ich mit ihm hinaus in den Garten. Du folgst uns sofort nach! Hast du alles verstanden? Hohe Eile ist geboten!"

"Klar", bellte Rupert und war bereits auf dem Flur. Er stürmte auf Herrn Becker zu und umkreiste ihn und seinen Nachbarn schwanzwedelnd und laut bellend. Mit einem Blick sah er, dass die Haustür noch offen stand.

"Hallo, hallo, da ist ja unser Held", rief Herr Becker. Der Nachbar streckte seine Hand aus und versuchte Rupert zu streicheln. Genau in dem Moment flog der Käpt'n mitsamt Jonathan über die Köpfe der erschreckten Menschen hinweg, hinaus zur Tür in den Garten. Rupert stürzte hinter Papagei und Maus her.

So laut er konnte brüllte Herr Becker: "Rupert, hierher, aber sofort. Rupert komm! Ruuupeeert! Verdammt, Rupert komm hierher!" Er war viel zu aufgeregt, um freundlich zu bleiben.

Herr Jensen stand ganz verdaddert da und beobachtete das Geschehen: "Hier ist ja was los! Herr Becker hat es aber auch nicht leicht mit seinen Tieren."

Rupert kam nicht zurück. Er versteckte sich unter der Hecke. Käpt'n Carlo war hoch in eine Baumkrone geflogen. Sie verhielten sich still und warteten ab.

Herr Becker war bestürzt: "Ich habe den Papagei in Pflege genommen, gestern erst. Und nun ist er fort. Ich muss ihn unbedingt finden. Herr Svenson wird verrückt vor Kummer, wenn seinem Papagei etwas passiert. Verdammt, und ich habe ihm versprochen, gut auf sein Tier aufzupassen. Damit der Vogel bleiben durfte, musste die Maus weg. Das habe ich auch geschafft - keine Maus mehr im Haus - aber nun sind Rupert und Käpt'n Carlo fort. Was ist nur in sie gefahren?"

"Darf ich Sie beruhigen, Herr Becker?", unterbrach der Nachbar den Redeschwall. "Ich bin sicher, Ihr Hund wird nicht lange fortbleiben. Wenn Sie mich fragen, hecken die irgendetwas aus! Ja, es sieht ganz danach aus, als ob die beiden etwas im Schilde führen. Machen Sie sich nicht allzu viele Sorgen. Ich kenne das von meinem Kater. Der streunt herum, bis er hungrig wird, dann sitzt er wieder vor der Tür."

Herr Becker bedankte sich bei seinem Nachbarn: "Ja, hoffentlich behalten Sie recht. Ich werde jetzt noch in den Garten gehen und nach ihnen Ausschau halten." Doch er entdeckte weder den Papagei, der sich geschickt im Blätterdach des Baumes verbarg, noch seinen Hund unter der zugewachsenen Hecke. Betrübt lenkte Herr Becker seine Schritte zur Haustür, drehte sich noch einmal um, ging ins Haus und schloss die Tür.

Wenige Augenblicke später trötete der Papagei: "Alle Piraten sind von Bord. Ausguck meldet freie Sicht bis zum Horizont. Auf Matrosen, alle Mann an Deck!"

Rupert streckte seine Nase unter den Blättern hervor: "Kein Schiff weit und breit! Was redet Käpt'n Carlo nur für ein wirres Zeug?"

Käpt'n Carlo flatterte hinab, die Maus samt Besen hing immer noch schlapp in seinen Krallen. Kurz vor dem Boden ließ er Jonathan aus niedrigster Höhe sanft fallen.

"Du meine Güte, der schläft ja wie ein Toter", meinte Rupert. "Was machen wir nun?"

"Wir werden solange hier auf ihn aufpassen, bis er wieder erwacht. Dann beraten wir gemeinsam die nächsten Schritte. Wir sollten allerdings das Gebüsch aufsuchen, um aus dem Blickfeld zu gelangen, da es zu befürchten steht, dass Herrn Becker die Unruhe packt und er doch noch einmal in den Garten hinaus geht, um uns zu suchen!"

"Du meine Güte", dachte Rupert, "wird Käpt'n Carlo jemals in einfachen Sätzen sprechen?" Selbst verneinte er sich seine Überlegung. "Okay, Käpt'n", sagte er laut und begab sich auf die Suche nach einem geeigneten Versteck in den Büschen, in dem sie alle drei Platz finden konnten. Mittlerweile war es später Nachmittag. Immer noch regte sich die Maus nicht.

"Über Nacht will ich aber nicht draußen bleiben", maulte Rupert halblaut vor sich hin.

"Und warum nicht, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"

"Na, ja, weil, weil", Rupert war es etwas peinlich, "weil ich noch nie allein nachts draußen geblieben bin!"

"Ah, ja!?", wunderte sich der Papagei und Rupert wunderte sich darüber, dass der Käpt'n wirklich nur diese beiden Worte sagte.

Die Zeit verging und es dämmerte bereits. Rupert war total aufgeregt und spitzte seine Ohren. Dann hörte er tatsächlich ein Rascheln und Knacken. Ein Zweig brach und vor ihnen ragte ein riesiger Schatten in die Höhe ...

April 2013