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GUTE-NACHT/3160: Ausquartiert (SB)


Gute Nacht Geschichten

An diesem Tag kommt Student Edgar in die Bücherei, noch bevor sie schließt. Warum ist er so früh gekommen? Er arbeitet doch eigentlich erst nach Toresschluß hier.

Der Vorsteher empfängt Edgar sogleich. Er hat den Studenten telefonisch ins Büro bestellt. "Ich muß ihnen leider mitteilen, daß sie aus versicherungstechnischen Gründen nachts nicht mehr in unseren Räumen arbeiten dürfen", erklärt er und hält Edgar einen Zettel hin. "Diese Mail kam heute morgen herein. Zukünftig wird ein Wachdienst ihren Nebenjob übernehmen. Es tut mir leid."

Edgar ist verwirrt und fühlt sich überrumpelt. "Heute kann ich doch sicher noch eine letzte Nacht aufpassen, um auch alles weitere in Bezug auf meine Abschlußarbeit zu regeln?", fragt Edgar. Doch der Büchereivorsteher untersagt es. "Die Weisung ist ab sofort gültig, und daran werde ich mich halten. Sie werden nur noch am Tage hier arbeiten können. Wenn sie also schon einmal damit beginnen wollen, ihre Sachen zu packen", mahnt der Vorsteher und weist Edgar zur Tür. Dann fügt er noch etwas an: "Und nehmen sie auch die alten Schwarten mit, die sie wieder aus dem Müllcontainer gefischt haben. Wir können sie nicht mehr gebrauchen. Alles, was nicht ausgeliehen wird, muß raus. So bekommen wir Platz für Neubestände."

Wie vor den Kopf gestoßen ist Edgar. Nicht wegen seiner Arbeit oder seinen Sachen ist er so durcheinander. Nein, ihn bekümmert der Gedanke an die Leseratte und den Bücherwurm. Wie kann er ihnen nur beibringen, daß er ab sofort abends nicht mehr da sein wird? Wie kann er sie überhaupt noch treffen? Sie kommen doch stets erst aus ihrem Versteck, wenn die Bücherei bereits geschlossen ist. "Wenn ich nur mit den beiden darüber reden könnte."

Edgar überlegt, wo sich Benjamina wohl versteckt hält. Der schwarze Schrank ist ja ziemlich unsicher geworden, seitdem hier so streng aussortiert wird. Doch zuerst einmal begibt er sich in das Kellergeschoß. Zum Glück ist heute nicht viel los. Die Lesung bei den Kindern fällt wegen Krankheit aus, und auch bei den Zeitungen und Zeitschriften scheint sich gerade niemand für Neuigkeiten zu interessieren.

"Benjamina schläft um diese Zeit. Ich muß sie irgendwie aufwecken, damit ich sie finde und ihr alles erklären kann", denkt Edgar. Während er so überlegt, kramen seine Hände bereits zusammen, was ihm gehört. Neben seine Tasche legt er die Bücher, die er vorübergehend in dem Kellerraum versteckt hatte, damit sie nicht gleich wieder in den Papiermüllcontainer wandern würden. Eine halbe Stunde braucht Edgar, bis er alles beisammen hat.

Die ganze Zeit grübelt Edgar über Benjaminas Versteck nach und vergißt dabei glatt den Bücherwurm. Dabei ist Hütchen ganz leicht zu finden. Damit er nichts anstellt, hatte Edgar ihn in einen Karton mit altem Zeitungspapier gesteckt und dieses dann und wann ausgetauscht. Hütchen ist also nicht schwer zu finden. Doch was ist das, einer der Angestellten trägt gerade einen Karton aus dem Kellerraum nach oben. "Halt, halt! Das sind meine Zeitungen!", kann Edgar gerade noch rechtzeitig einwerfen.

Der Mitarbeiter reicht Edgar den Karton. Ein Vorgang weniger zu erledigen. Edgar blickt in die Pappkiste und richtig, es ist das Zuhause von Hütchen. "Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen", atmet Edgar auf. Als nächstes ruft er einen Freund mit seinem Handy an. "Timo, kannst du mir behilflich sein? Ich muß meine Sachen aus der Bücherei holen und noch ein paar Kisten mit alten Büchern. Die kann ich leider nicht alle alleine wegtragen."

Nach einer kleinen Pause, in der Edgar in den Hörer lauscht, sagt er: "Wo ich bin? Ich bin schon in der Bücherei, unten im Kellergeschoß. Also kommst du gleich?" Timo stimmt zu und begibt sich auf den Weg. Die halbe Stunde Fahrzeit sucht Edgar noch weiter nach Benjamina. Er ist ganz außer sich, wie gut sie sich versteckt hat. An allen Plätzen, wo sie schon einmal geschlafen hat, schaut Edgar nach. Doch keine Spur von Benjamina.

Da kommt bereits Timo. "Hey Edgar, ich dachte du arbeitest jetzt nachts hier." - "Dachte ich auch", sagt Edgar, "aber ab sofort nicht mehr. Näheres erkläre ich dir später. Laß uns erst einmal alles einpacken, was hier steht." Timo grinst: "Ich nehme deine Tasche und du kannst die schweren Bücherkisten tragen." Edgar hat nichts dagegen, weiß er doch, daß seine Tasche gar nicht so leicht ist und es für die Bücher Rollwagen zum Stapeln und Wegfahren gibt. "Warte hier, ich bin gleich wieder da!", befiehlt Edgar und macht sich auf, so einen Rollwagen zu holen. Während dessen blickt Timo in die halboffene Tasche, um darin noch etwas von dem herumliegenden Kleinkram zu verstauen.

"Hoppla, was ist denn das? Ein Kuscheltier?", wundert sich Timo, "bestimmt hat Edgar eine neue Freundin, die ihm das Schmusetier geschenkt hat, falls sie einmal nicht da ist. Aber warum hat er mir davon nichts gesagt? Er hat doch im Moment gar keine Zeit für Zweisamkeit."

Timo nimmt die Jacke, die über einem der Kartons liegt, und steckt sie in die Tasche mit dazu. Dann schließt er den Reißverschluß ganz. Da ist Edgar wieder zurück. Er läd die Bücher auf den Rollwagen und stellt die leeren Kartons zurück in den Kellerraum, woher er sie sich geborgt hat.

"Tschüß Bücherkeller, tschüß Benjamina, Lesemaus. Deinen Freund Hütchen nehme ich vorsichtshalber mit. Ich hoffe wir sehen uns wieder!", flüstert Edgar.

"Was stehst du denn nun noch herum und quatscht vor dich hin? Erklär mir lieber, was los ist?", ereifert sich Timo. "Nicht jetzt und nicht hier!", entgegnet Edgar, blickt sich noch einmal um, als ob er etwas sucht und verläßt die ihm lieb gewordenen Räume. In Gedanken ziehen die vergangenen Nächte noch einmal mit allen Höhen und Tiefen an ihm vorbei.


16. März 2010

Gute Nacht