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GUTE-NACHT/2981: Hinter der Mauer - Um Mitternacht (SB)


Gute Nacht Geschichten


"Daß ihr mir ja nicht wieder durch das Loch hinter der Tonne schlüpft", ermahnt Oma ihre beiden Enkelkinder, als sie in den Garten zum Spielen wollen. Die schauen sich an und nicken dann Oma zu. Eigentlich hätte Solveig gern weiter an dem Grab das Unkraut heraus gezupft, selbst nach dem Schrecken von gestern, als plötzlich ihr Bruder Anselm verschwunden war und Hände aus einem Grab herauszukommen schienen. So ein halbfertiges Grab ist nicht in Solveigs Sinn. Aber Oma hat versprochen, wenn alle drei das nächste Mal auf den Friedhof gehen, um Uromas Grab zu gießen, daß sie dann gemeinsam auch das angefangene Grab ohne Namen in Ordnung bringen werden. Solveig darf sogar einen Strauß Blumen aus Omas Garten dafür mitnehmen.

Anselm möchte kein Unkraut rupfen. Er würde gern die alten Gräber auf dem Friedhof ansehen, Fotos davon knipsen und einmal den Totengräbern bei der Arbeit zusehen. "Das ist doch nichts für dich", findet Oma. Aber eins hat sie den beiden Kindern versprochen. Als Anselm gestern erzählte, daß es auf Friedhöfen spuken soll, hat Oma gesagt, daß dies Quatsch sei und daß sie Anselm das beweisen wolle.

Darauf besteht nun Anselm. "Gehst du heute abend wirklich mit uns auf den Friedhof?", fragt er. "Aber klar", sagt Oma, ich habe es dir doch versprochen. Ich werde dir beweisen, daß ihr nachts keine Angst vor Geistern auf dem Friedhof zu haben braucht. Da solltet ihr eher vor echten Menschen Angst haben, die sich nachts herumtreiben. Die führen bestimmt nichts Gutes im Schilde."


Nach dem Abendessen warten die Kinder gespannt darauf, daß es dunkel wird. Als Oma schon losgehen will, sagt Anselm: "Jetzt werden wir keine Geister treffen. Es muß schon Mitternacht sein, wenn die Geisterstunde beginnt." Bis dahin aber sind es noch zwei Stunden. Solveig ist müde. Aber sie möchte später nicht allein im Haus bleiben. So spielt sie mit Karten, auch wenn ihr immer wieder die Augen zufallen.

Oma ist unkonzentriert und Anselm gewinnt jedes Spiel. "Ob es wirklich so eine gute Idee ist, die Kinder nachts mit auf den Friedhof zu nehmen?", fragt sich Oma. Wenn das Anselms Mama und Papa hören, ob sie wohl ziemlich sauer sein werden? "Eigentlich bräuchten wir drei ja nur in den Garten zu gehen und über die Mauer zu schauen. Auch von da können wir sehen, daß es keine Geister gibt", schlägt Oma vor. Doch Anselm will es jetzt wirklich wissen.

Eine halbe Stunde vor zwölf Uhr ziehen sich die drei jeder eine Jacke an und gehen hinaus. Direkt aus Omas Garten geht keine Tür auf den Friedhof. Und Oma will nicht den Weg durch das kleine Loch kriechen, den ihre Enkel ausgemacht haben. Deshalb geht es zuerst rechts die Straße entlang, dann wieder rechts um die Ecke und noch einmal rechts in den breiten Kirchweg hinein. Das Gatter zum Kirchengelände ist nicht abgeschlossen. Oma drückt die Tür nach innen. Ein Knarren ist zu hören wie schon am Tag. Aber in der Nacht klingt das Knarren viel Schrecklicher. Oma spricht sich und den Kindern Mut zu. "Das Tor sollte wirklich mal in den Angeln geölt werden", stellt sie wie jedes Mal, wenn sie den Friedhof besucht, fest.

Solveig schmiegt sich ängstlich an Oma. Nun gehen die Drei den Plattenweg entlang, an der Kirche vorbei. Etwas weiter sieht Oma die Besucherbank stehen. So weit sich Oma zurück erinnern kann, hat hier schon immer eine Bank gestanden. In dieser Nacht ist der Mond voll und rund und wirft sein Licht auch über den Friedhof. Von unten steigt leichter Nebel auf. Die weißen Schwaden sind an einigen Stellen besonders dicht. Oma schlägt den Weg zur Bank ein. Dort setzen sich die Drei hin. "Gleich werden die Kirchenglocken die Mitternachtsstunde einläuten", verkündet Oma. Aber das wissen die Kinder eigentlich schon, denn seit sie hier bei Oma sind, hat die Kirchenglocke jede Stunde geläutet. Dennoch erschrecken sich die beiden und auch Oma schreckt zusammen, als die Glocken ertönen. Am liebsten würde Solveig jetzt aufspringen und zu Omas Haus laufen. Aber sie bleibt sitzen. Auch Anselm bleibt auf der Bank sitzen und paßt genau auf, ob sich nicht irgendwelche Gestalten aus den Nebelschaden erheben.

Angespannt sitzen die Drei einige Minuten auf der Bank. Die Zeit erscheint ihnen viel länger. Oma will gerade die Kinder zum Zurückgehen auffordern, da ist ein seltsamer Ruf zu vernehmen. "Was war das?", flüstert Solveig, dicht an Oma gedrängt. "Das war ein Käuzchen." Plötzlich flattert etwas durch die Luft, den Dreien genau über die Köpfe. "Vampire!", schießt es Anselm durch den Kopf und aus dem Mund heraus. "Nicht ganz", sagt Oma und fühlt sich schon wieder besser, "das war nur eine Fledermaus. Davon gibt es hier viele. Sie wohnen oben im Glockenturm. Wollen wir gehen?"

Gerade als die Kinder von der Bank aufstehen und sich zum Gehen wenden, hören sie ein Knacken, das nicht aus der Luft kommt. Starr vor Schreck bleiben sie stehen. Eine dunkle Gestalt kommt auf die Bank zu. Anselm hat sich einen Geist hell und leuchtend vorgestellt. Aber vielleicht ist das ein böser Geist und deshalb so dunkel? Sollten sie nicht schnell von hier direkt geradeaus zum gegenüberliegenden Friedhofstor laufen und von hier verschwinden? Um dort hinzugelangen müßten sie neben all den Gräbern herlaufen. Von der Bank aus hatten sie nur auf den Friedhof geblickt, nicht aber ihre Füße auf das eigentliche Friedhofsgelände gesetzt.

"Hey da!", ruft jetzt eine Stimme. "Können Geister sprechen?", fragt sich Anselm und Solveig klammert sich fest an Oma und beginnt zu schluchzen. "Ganz ruhig!", sagt Oma jetzt zu den Kindern. Sie hat die Stimme der dunklen Gestalt erkannt. Es ist der Küster der Kirche und gleichzeitig der Friedhofswärter. Das Knarren des Tores hat ihn aufhorchen lassen. Seine Wohnung liegt nämlich in dem Gemeindehaus direkt neben der Kirche.

"Was machen sie denn noch zu so später Stunde hier auf dem Friedhof", fragt der Küster in verärgertem Ton, "und dann mit zwei Kindern?" - "Ich mußte ihnen doch beweisen, daß es keine Geister gibt!", gibt Oma in energischen Ton zurück. Da ist keine Spur mehr von Ängstlichkeit. "Die Kinder wollten einmal einen richtigen Friedhof bei Nacht sehen", verkündert Oma, "und eine Nachtwanderung durch den Nebel erlebt man ja nicht auch alle Tage." - "Na, ich dachte schon, es seien wieder die Wilden, die nachts die Blumen von den Gräbern zerren. Also nichts für ungut." Oma verabschiedet sich und mit den Blicken des Küsters im Nacken nimmt Oma die beiden Kinder je rechts und links an die Hand und stapft mit ihnen zum gegenüberliegenden Friedhofstor. Oma ist sich sicher, daß der Küster so lange an der Bank stehen bleibt, bis die drei Nachtgespenster seinen Friedhof verlassen haben. Doch als sie sich am anderen Ende des Friedhofs noch einmal umdreht, ist der Küster verschwunden. "Ist er überhaupt wirklich dagewesen?", fragt sich jetzt Oma, läßt sich aber nichts anmerken.

Im hellen Schein des Mondlichts geht es jetzt wieder nach Hause. Hier auf der Straße fühlen sich alle drei schon viel sicherer. Zuhause gibt es noch einen starken Kakao und Kekse. Keiner spricht ein Wort. Insgeheim sind sich aber alle drei einig, daß dies der erste und letzte Besuch in der Nacht auf dem Friedhof war.

15. Juli 2009

Gute Nacht