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GUTE-NACHT/2831: Eine Sultanine im Glasschälchen (SB)


Gute Nacht Geschichten


Am nächsten Morgen, als das Neonlicht im Laden wieder angeschaltet wird, erwachen die meisten der Sultaninen in ihren Beuteln in dem Regal. Auch die eine Sultanine ist wieder wohl auf. Sie schickt sich an, nun endlich an das Plastikfenster der Tüte, in der sie steckt, zu gelangen und hinaus zu schauen.

Glücklicherweise steht ihr Beutel ganz vorne in der Reihe. So kann sie einen Teil des Kaufladens überblicken. Sie sieht eine Frau auf das Regal zukommen und daran vorbeilaufen. Doch dann dreht sie sich noch einmal um und greift genau in das Regal und nimmt die Tüte, in der unsere Sultanine steckt.

"Wo geht es denn jetzt hin?", fragt sich die Sultanine. Zuerst kommt der Beutel mit seinen Insassen in den Einkaufswagen. Das ruckelt hin und her. Bald danach wird der Beutel auf das laufende Band an der Kasse gelegt und über den Preiserkenner gezogen. Das bringt die Insassen in der Sultaninentüte schon um einiges durcheinander. Unsere Sultanine ist dadurch wieder zwischen die anderen ihrer Art geraten und versucht sich erneut nach vorne durchzukämpfen.

Der Beutel fällt aus der Hand der Verkäuferin an der Kasse direkt wieder in den Einkaufskorb. Erst nach dem Bezahlen der Ware packt die Kundin den Beutel in ihre Tasche ein. Schon wieder wird es dunkel um die Sultaninen herum.

Aber diesmal dauert es nicht so lange bis wieder Licht vorhanden ist. Auf dem Küchentisch der Kundin leert sie ihre Einkaufstasche aus. Damit fällt auch der Beutel mit Sultaninen heraus. Nach kurzer Abwesenheit der Frau, kehrt sie wieder in die Küche zurück, nimmt sich den Beutel, schneidet eine kleine Ecke ab und leert die getrockneten Weinbeeren in eine Glasschüssel.

Da klingelt es an der Wohnungstür. Die Frau verläßt die Küche und kehrt mit einem Mädchen zurück. "Ah, lecker, Rosinen!", sagt das Mädchen und streckt die Finger danach aus. "Das sind keine Rosinen", sagt die Frau und zieht die Schüssel zur Seite, "erstmal Hände waschen. Dann kannst du dir von den Sultaninen nehmen." - "Die sehen aber aus wie Rosinen", protestiert das Mädchen.

Das Mädchen findet es lustig, daß die vermeindlichen Rosinen wie ein arabischer König genannt werden: "Das klingt ja wie Sultan!" - "Da hast du gar nicht so unrecht", sagt die Frau, "früher gab es nur Rosinen. Diese hatten Kerne innen drin. Die Kerne gehen bei dem Trocknungsprozeß auch nicht verloren. Da die getrockneten Weinbeeren aber ohne Kerne viel leckerer schmecken, versuchten die Weinbauern, Weinreben ohne Kerne zu züchten. Erst nach hundert Jahren gelang ihnen dies. Zu Ehren des damaligen Sultans wurde die neue Art der kernlosen, getrockneten Weinbeeren Sultaninen genannt."

"Was machst du jetzt mit den Ros... Sultaninen?", fragt das Mädchen. "Ich backe einen Rosinenkuchen." Die beiden schauen sich an und lachen. "Naja", sagt die Frau, "obwohl es keine Rosinen sind, heißt es dennoch Rosinenkuchen, Rosinenbrot oder -brötchen usw. Keiner spricht von Sultaninenkuchen oder von Brötchen für den Sultan oder Sultaninenkuchen."



14. Januar 2009

Gute Nacht