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MEMORIAL/154: Vor 110 Jahren entstand der italienische Gewerkschaftsbund Confederazione Generale del Lavoro (Gerhard Feldbauer)


Italiens Sozialisten Geburtshelfer einer starken Gewerkschaftsbewegung

Vor 110 Jahren entstand der italienische Gewerkschaftsbund Confederazione Generale del Lavoro

von Gerhard Feldbauer, 1. Oktober 2016


In den Gewerkschaften sah Lenin "einen Transmissionsriemen", der die Partei mit den "Millionen Gewerkschaftsmitgliedern verbindet" (Werke, Bd. 30, S. 470). Seiner 1920 auf dem IX. Parteitag der KPR (B) getroffenen Einschätzung hatten die italienischen Sozialisten seit ihrer Gründung 1882 als einheitliche Partei der Italienischen Arbeiter (die ein Jahr später den Namen Partito Socialista Italiano - PSI annahm) von Anfang an große Bedeutung beigemessen. Sie griffen die Wurzeln einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung auf, die bis in die Revolutionsjahre von 1848/49 zurückreichten. Schon damals hatten die Drucker eine Gewerkschaft gebildet, die Tarifforderungen erhob und durchsetze. Ihnen folgten Organisationen der Hutmacher, Bäcker, Bauarbeiter und Maurer. Die "Storia del Sindacato in Italia" (Antonio Gramsci-Institut Rom) berichtet über die großen Arbeiterkämpfe 1863/64 der 3.000 Weber von Biella (Piemont), die damit bessere Arbeitsbedingungen erreichten.

Nach der Gründung der PSI nahmen die Arbeiterkämpfe einen starken Aufschwung. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden über 770 Branchenorganisationen. Vom 29. September bis 1. Oktober 1906 traten ihre Delegierten in der Industriemetropole Mailand zu einem Kongress zusammen, auf dem sie den einheitlichen Gewerkschaftsbund Confederazione Generale del Lavoro (CGdL) gründeten. Das war ein Sieg der revolutionären Einheitsstrategie der PSI, auf deren Initiative der Kongress einberufen worden war.

Obwohl das in Deutschland 1878 erlassene Sozialistengesetz 1890 gescheitert war, versuchte die italienische Regierung mit einem Verbot der PSI am 22. Oktober 1894 der stürmisch anwachsenden Arbeiterbewegung Einhalt zu gebieten, musste es aber zwei Jahre später wieder aufheben. Den Versuchen der Regierung der Liberalen, nach deutschem, britischem und französischem Vorbild mit dem sogenannten Trasformismo (Transformismus) eine schmale Oberschicht der Arbeiterbewegung zu korrumpieren und über sie die PSI in den Parlamentarismus und das kapitalistische Herrschaftssystem einzubinden, war ebenfalls nur geringer Erfolg beschieden. Auf Grund seines ökonomischen Rückstands gelang es dem italienischen Kapital nicht, eine mit der deutschen vergleichbare Arbeiteraristokratie hervorzubringen. Als Ministerpräsident Giovanni Giolitti dem Vertreter der Reformisten Filippo Turati 1903 einen Ministerposten in seinem Kabinett anbot, wagte dieser nicht, ihn anzunehmen, da er den Widerstand der Parteibasis fürchtete.

Der Einfluss der PSI, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf rund 250.000 Mitglieder anwuchs und drittstärkste Arbeiterpartei Europas wurde, schlug sich in der Herausbildung einer kampfstarken Gewerkschaftsbewegung nieder. Die seit 1880 sich entwickelnde Schwerindustrie wuchs ins monopolistische Stadium über: in der Chemie 1883 Pirelli, im Elektrosektor 1884 Edison, im Maschinenbau 1886 Ansaldo und in der Eisen- und Stahlindustrie ILVA, als zweiter Chemieriese 1889 Montecatini, 1899 die Fabrica Italiano Automobili di Torino (FIAT). Die im Mai 1901 gegründete Metallallabeitergewerkschaft Federazione Italiana Operai Metallurgici (FIOM) war seit ihrer Geburt (und ist es bis heute) ein Vortrupp der kämpferischen italienischen Gewerkschafter. 1900 setzte die PSI mit einem Generalstreik in der Industrie- und Hafenstadt Genua das Streikrecht durch. Nach der Gründung der CGdL wuchsen die Arbeitsniederlegungen 1907 auf 2.160 Streiks an, an denen 581.244 Arbeiter teilnahmen.

An die Seite des Kapitals stellte sich zur rücksichtlosen Niederhaltung der Arbeiterbewegung die katholische Kirche. Leo XIII., seit 1878 Papst, sicherte dem Staat des Kapitals nicht nur in Italien, sondern ebenso in Deutschland und Frankreich die Unterstützung der Kurie "zugunsten der durch die aufrührerischen und unmoralischen Doktrinen - den Marxismus - gefährdeten sozialen und politischen Ordnung" zu. 1891 forderte er in der Enzyklika "Rerum Novarum", "der Staats muss sich zum unerbittlichen Hüter des Privateigentums machen" und ihm durch "die öffentlichen Gesetze Schirm und Schutz bieten." Wer die Aufhebung des Privateigentums fordere, müsse "im Namen der Moral, deren Fundament er zerstört, als außerhalb des Gesetzes stehend erklärt werden". Die Enzyklika wandte sich gegen jede Form des Sozialismus", den sie als "Pest" brandmarkte, und forderte: "Wenn die Massen sich von üblen Doktrinen hinreißen lassen, darf der Staat nicht zögern, mit starker Hand zuzufassen". In seiner Schrift "Der Faschismus (Neudruck der Erstauflage von 1934, Frankfurt/Main 1984) charakterisierte der Sozialist Ignazio Silone die päpstliche Schrift als "konterrevolutionäre Waffe im Schoß der Massen".

Gegen die aufstrebende Sozialistische Partei, ihre Anhänger und ihre Gewerkschaften schuf die katholische Kirche in Italien ihre eigene Bewegung, deren Grundlage christliche Gewerkschaften bildeten. Bis 1910 entstanden 374 lokale Organisationen mit annähernd 170.000 Mitgliedern, davon 67.500 in Industrie, Handel und Verkehr und 100.000 in der Landwirtschaft. In der Textilindustrie wurden nationale katholische Berufsgewerkschaften gebildet, danach unter den Eisenbahnern, den Metallarbeitern, den Post- und Telegrafenarbeitern. Ein Kongress in Bologna stellte ihnen die Aufgabe, dem Zusammenwirken von Arbeit und Kapital zu dienen.

Das konterevolutionäre Wirken des Vatikans erschwerte den Kampf der revolutionären italienischen Arbeiterbewegung, konnte ihn aber nicht aufhalten. Davon zeugten u. a. im Juni 1914 die Massenkämpfe gegen den drohenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges, während der die PSI und die CGdL zum Generalstreik aufriefen, es in Rom, Turin, Mailand und weiteren Großstädten zu Barrikadenkämpfen kam und in der Romagna und den Marken die Aufständischen die Republik ausriefen. Bei Kriegsausbruch bezog die PSI als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale Antikriegspositionen, die sie von vereinzelten reformistischen Abweichungen abgesehen bis zum Ende des Völkermordens beibehielt.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2016

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