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MEMORIAL/150: Eine "chilenische Nacht" auf dem G8-Gipfel vor 15 Jahren in Genua (Gerhard Feldbauer)


Eine "chilenische Nacht" auf dem G8-Gipfel vor 15 Jahren in Genua

Italien gedenkt des unter dem faschistoiden Regime Berlusconis ermordeten Studenten Carlo Giuliano

von Gerhard Feldbauer - 20. Juli 2016


In Italien wird in diesen Tagen an die schweren faschistischen Ausschreitungen während des G8-Gipfels vom 18. bis 22. Juli 2001 in Genua erinnert, mit denen Premier Silvio Berlusconi, wie Medien, darunter die Zeitung Liberazione der kommunistischen Partei (PRC) damals schrieb, "eine Wende in Richtung eines faschistischen oder autoritären Regimes" herbeiführen wollte. Vor dem Gipfel hatte Berlusconi provokatorisch verkündet, "Ordnung zu schaffen" und Italien von Kommunisten und Ex-Kommunisten (den Linksdemokraten) "zu befreien". Gegen die Proteste der Tausenden von Globalisierungsgegnern ging die Polizei mit einer Brutalität ohnegleichen vor. Über 600 Personen wurden festgenommen und sogenannten "Gefangenensammelstellen" zugeführt. Mehr als 300 Menschen, darunter zahlreiche Ausländer, auch Deutsche, wurden zum Teil schwer verletzt. Der Student Carlo Giuliano wurde am 20. Juli von einem Carabinieri vom Jeep aus mit einem gezielten Schuss getötet. Eine nächtliche Operation am 19. Juli gegen das Pressequartier in der Dias-Schule, in der auch das Genueser Sozialforum untergebracht war, hieß im Polizeijargon "Sturmangriff". 54 Personen wurden blutüberströmt und schwer verletzt festgenommen. In der Polizei-Kaserne von Bolzaneto wurden Festgenommene, darunter selbst Verletzte, unter Hitler- und Mussolinibildern mißhandelt und mussten "Viva il Duce" rufen. Die faschistischen Ausschreitungen wurden in den Medien als "chilenische Nacht" charakterisiert. Der Sprecher des Genueser Sozialforums, der Arzt und Präsident der italienischen Liga zur Aidsbekämpfung, Vittorio Agnoletto, erklärte, in Genua habe eine Operation wie in Chile unter Pinochet stattgefunden. Angesichts aktueller Ereignisse ist es angebracht, zu erwähnen, dass bei den danach erzwungenen Ermittlungen Polizisten aussagten, dass gewaltsame Ausschreitungen der Demonstranten von Polizeiagenten und Faschisten der Forza Nuova organisiert wurden. Der Regisseur Davido Ferrario hatte in den "Schwarzen Block" der Anarchisten eingeschleuste Polizisten dabei gefilmt.

Professor Bodo Zeuner von der Freien Universität Berlin, dessen Tochter in Genau dabei war, warnte damals in Unsere Zeit (3. August 2001), "wenn Polizisten, wenn Spezialeinheiten der Polizei es sich herausnehmen, politisch unliebsame Personen, wie in Genua geschehen, mitten in der Nacht zu überfallen und brutal, ja lebensgefährlich zu verprügeln, dann ist es zu Folterkellern wie denen der SA im Deutschland von 1933 nur noch ein Schritt. Wer den Überfall auf die Dias-Schule in Genua als irgendwie entschuldbar durchgehen lässt, leistet Beihilfe zu einer schleichenden Faschisierung der Gesellschaft."

Die italienische Nachrichtenagentur ANSA fasst zusammen: "Der G8 im Jahr 2001 war 'ein Symbol für Gewalt und Zerstörung und Tod'. Der auf dem Asphalt liegende Körper von Carlo Giuliano, der von dem Carabinieri Mario Placanica erschossen wurde," bleibe, wie "die Opfer in der Kaserne von Bolzaneto und in der Diaz-Schule unvergessen." Unauslöschlich seien die Bilder von den "mit Knüppeln niedergemetzelten und getretenen, misshandelten und gedemütigten Jugendlichen".

ANSA erinnert aber auch daran, dass die "Tage der Gewalt" auf tausendfachen entschiedenen Protest stießen. Es waren damals 300.000 Menschen, die sich nach den Knüppelattacken der Polizei in Genua zu neuen Protesten formierten. In Italien waren es wenigstens eine Million. Es ging, schreibt ANSA, "um die Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung".

Mit ihrer Parlamentsmehrheit wies die rechtsextreme Koalition den Antrag der Opposition nach Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zurück.

ANSA resümiert, angesichts der unzulänglichen Versuche der Verfolgung dieser Verbrechen bleibe der G8-Gipfel in Genua "eine offene Frage".

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2016

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