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MEMORIAL/148: Michail Bakunin - der Revolutionär und Anarchist verstarb am 1. Juli 1876 (Gerhard Feldbauer)


Michail Bakunin verdankt die italienische Arbeiterbewegung die Geburt ihrer revolutionären Organisation

Der Revolutionär und Anarchist verstarb am 1. Juli 1876

Von Gerhard Feldbauer, 30. Juni 2016


Nicht nur für die Organisation, auch für ihren kämpferischen Geist legte der seiner Herkunft nach russische Revolutionär und spätere Begründer des Anarchismus Michail Bakunin in Italien entscheidende Grundlagen. Zu Beginn der europäischen Revolutionen von 1848/49 weilte er in Paris, begab sich im Juni zum Slawenkongress nach Prag und wurde während des Maiaufstandes 1849 in Dresden Mitglied der provisorischen revolutionären Regierung und militärischer Führer der Erhebung. Zu seinen Mitkämpfern auf den Barrikaden gehörte Richard Wagner, dem nach der Niederlage die Flucht in die Schweiz gelang. Bakunin geriet durch Verrat in Gefangenschaft. Er wurde zuerst in Sachsen, danach in Österreich zum Tode verurteilt, beide Male begnadigt, um ihn nach Russland ausliefern zu können. Als ihm nach zwölfjähriger Haft in der Peter-Pauls-Festung in Petersburg und anschließender Verbannung nach Sibirien 1861 die Flucht gelang, begab er sich nach London, wo er Marx kennen lernte und zu ihm freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Bakunin bewertete hoch dessen Gedanken wonach die gesellschaftlichen Entwicklungen "nicht die Ursache, sondern die Wirkung der ökonomischen Entwicklung sind". Die Statuten der IAA bezeichnete er als "mit Meisterschaft von Marx entworfen". Als Bakunin sich 1864 entschied, nach Italien zu gehen, bat Marx ihn, dort für die IAA aktiv zu werden. An Engels schrieb er am 4. November: "Bakunin lässt Dich grüßen. Er ist heute nach Italien" abgereist. "Im Ganzen ist er einer der wenigen Leute, die ich nach 16 Jahren nicht zurück, sondern weiterentwickelt finde" (MEW, Bd. 31, S. 16). Bakunin seinerseits schrieb noch 1868 an Marx, ich kenne "keine andere Gesellschaft mehr, kein anderes Milieu als die Welt der Arbeiter. Mein Vaterland ist jetzt die Internationale, zu deren Hauptbegründern Du gehörst. Du siehst also, lieber Freund, dass ich jetzt Dein Schüler bin - und ich bin stolz, es zu sein."

Dass Bakunin seine Haltung gegenüber Marx, mit dem er bis dahin Meinungsverschiedenheiten durchweg im Rahmen gemeinsamer Ansichten austrug, drei Jahre später radikal änderte, war ein Ergebnis seines Wirkens in der Arbeiterbewegung der Schweiz, Spaniens, besonders aber Italiens, wo er sich von 1864 bis 1867 aufhielt. Dort bestand ein fruchtbarer Nährboden für den Anarchismus, dem er sich nun zuwandte. Hier existierten Geheimbünde und Freimaurerlogen, eine deklassierte Intelligenz, die zu Verschwörungen neigte, eine bäuerliche Masse, die zu den Verlierern der Revolution und des Befreiungskampfes zählte und im sozialen Elend dahin vegetierte. Schließlich ein "Lumpenproletariat", verkörpert vor allem von den Lazzaroni von Neapel, wohin Bakunin bald übersiedelte. Hier wurde er, der Held des Dresdner Aufstandes, der 12 Jahre im Kerker des Zaren geschmachtet hatte, zum anerkannten und gefeierten revolutionären Führer. Hier begann er, sich Marx ebenbürtig zu fühlen, reifte sein Entschluss, die Führung der Internationale zu beanspruchen.

Im April 1867 entstand in Neapel die erste Sektion der IAA. Der Durchbruch erfolgte im Ergebnis des Widerhalls der Pariser Kommune, die Bakunin leidenschaftlich verteidigte. Dass er 1870 den Lyoner Aufstand organisiert hatte, erhöhte ein weiteres Mal sein Ansehen als Revolutionsführer. Anfang 1872 existierten in Italien über 100 Organisationen mit zirka 10.000 Mitgliedern. 1874 waren es 129 mit 26.000 Mitgliedern. Das war zu dieser Zeit eine der stärksten Vertretungen in der Internationale, in der die Anhänger Bakunins aber die Oberhand hatten.

Bis 1870 arbeitete Bakunin seine anarchistische Konzeption aus, die er in den Werken "Staatlichkeit und Anarchie" und "Gott und der Staat" zusammenfasste. Mit der Losung von der Zerstörung "jeglicher politischer Macht" wandte er sich gegen die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Als entscheidende revolutionäre Kräfte betrachtete er die bäuerlichen Massen und das Lumpenproletariat. Diesen Standpunkt verfocht er in der Internationale und versuchte, deren Führung zu erringen. Zur Durchsetzung ihrer Linie schufen die Bakunisten innerhalb der IAA eine geheime Organisation, die "Allianz der sozialistischen Demokratie". Nachdem sie sich weigerten, einem Beschlusses des Generalrates zu deren Auflösung nachzukommen, schloss der Haager Kongress 1872 Bakunin und seine Parteigänger wegen statutenwidriger Fraktionstätigkeit aus der Internationale aus. Trotzdem bewahrte Marx "dem alten Revolutionär seine freundschaftliche Gesinnung (und widersetzte sich Angriffen), die aus seiner näheren Umgebung gegen Bakunin gerichtet worden waren oder werden sollten" (Franz Mehring, Werke, Bd. 3, Berlin/DDR 1960, S.416).

Der Bakunismus blieb noch längere Zeit die politisch und organisatorisch vorherrschende Strömung in der italienischen Arbeiterbewegung. Die italienischen Organisationen bildeten eine der stärksten Vertretungen der Internationale. In ihr wie auch in Spanien beherrschten die Anhänger Bakunins "eine Zeit lang tatsächlich die Arbeiterbewegung", schrieb Engels, was die Verbreitung des Marxismus außerordentlich erschwerte (MEW, Bd. 19, S. 122). Erst als 1874 und 1877 zwei ihrer Aufstandsversuche scheiterten, begann ihr Einfluss zurückzugehen. Dass Bakunin in seinen letzten Lebensjahren mehrfach Gedanken äußerte, die seinen früheren anarchistischen Ansichten über Aufstand und Revolution um jeden Preis zuwider liefen, und er selbst seine ablehnende Haltung zu Marx' Theorie der Partei und der Spontaneität in Frage stellte, wurde zu dieser Zeit jedoch in Italien nicht bekannt. Ungeachtet der negativen Seiten des Einflusses Bakunins hat Franz Mehring ihn nach seinem Tod am 1. Juli 1876 als Revolutionär und Anarchisten gewürdigt, der für die Arbeiterklasse "so tapfer gekämpft und so schwer gelitten hat" und geschrieben, "bei all seinen Fehlern und Schwächen wird ihm die Geschichte einen Ehrenplatz unter den Vorkämpfern des internationalen Proletariats sichern." (Mehring, a. a. O., S. 508).


Über Bakunin liegt von der französischen Professorin für Politologie an der Sorbonne, Madeleine Grawitz eine fundierte Biografie vor ("Bakunin, ein Leben für die Freiheit", Nautilus, Hamburg 1998). Gerhard Feldbauers "Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute" (Neuauflage, Papyrossa, Köln 2015) enthält ein Kapitel "Die Arbeiterbewegung zwischen Marxismus und Bakunismus").

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2016

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