Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

MEMORIAL/104: 7. Juni 1914 - Italiens Linke protestiert "gegen Militarismus und Krieg" (Gerhard Feldbauer)


Lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges traten Italiens Linke dem Expansionsdrang seines Imperialismus entgegen

Im Juni 1914 wollten sie mit einem Aufstand die Katastrophe verhindern

von Gerhard Feldbauer, Juni 2014



Die Antikriegspositionen, die die Italienische Sozialistische Partei (ISP) 1914 als einzige Sektion der II. Internationale bezog, waren Ergebnis einer von den Linken in der Partei seit Jahren gegen den Großmachthunger und Expansionsdrang des Imperialismus im Lande eingenommenen Haltung. Höhepunkt der antimilitaristischen Aktionen waren bereits 1896 machtvolle Protestkundgebungen, mit denen die Sozialisten die koloniale Eroberung Äthiopiens verhinderten. Ihr Parlamentsabgeordneter Andrea Costa trat der Expansion mit der Losung entgegen: "Keinen Mann und keinen Groschen für die Kolonialpolitik". Ministerpräsident Francesco Crispi musste zurücktreten.


Großmachthunger

Seit Ende des 19. Jahrhunderts suchte das italienische Großkapital den Ausbruch aus seiner "Gefangenschaft im Mittelmeer", dessen Ausgänge Großbritannien und Frankreich (Gibraltar/Suezkanal) und die Türkei (Dardanellen), besetzt hielten. Großbritannien, Frankreich, die USA und Deutschland eroberten weltweit Kolonien. Italien wollte es ihnen gleich tun und machte seinen Großmachtanspruch geltend. Zu Kernsätzen der imperialistischen Propaganda wurden die Losungen von "La Grande Italia" und dem Mittelmeer als "Mare Nostrum". Um sich ein Sprungbrett für eine expansive Mittelmeerpolitik zu schaffen, wollte Rom als erstes in Nordafrika Fuß fassen.

Nachdem Frankreich einem Vorstoß nach Tunis, der "alten römischen Provinz Karthago", zuvorgekommen war, nahm Italien das Horn von Afrika, das die europäischen Kolonialmächte noch nicht ganz unter sich aufgeteilt hatten, ins Visier. 1889/90 nahm es am Roten Meer das Küstengebiet zwischen den Häfen Assab und Massaua in Besitz und bildete die erste Kolonie Eritrea. Danach annektierte es den Südteil der Somalia-Halbinsel. Als Österreich-Ungarn 1908 Bosnien und die Herzegowina besetzte, überfiel Rom 1912 das von der Türkei abhängige Tripolitanien und die Kyrenaika (Libyen). Durch den erstmaligen Einsatz von Luftschiffen und Flugzeugen für Bombardements gelang es, Tripolis, Bengasi und das Küstengebiet rasch einzunehmen. Mit stillschweigender Billigung Russlands, Großbritanniens und Frankreichs besetzte Italien noch den Dodekanes. Die Entente-Mächte ließen Rom gewähren, um den Dreibund (Deutschland-Österreich-Ungarn, dem Italien noch angehörte) zu entzweien. Erst als die italienische Flotte auch noch zum Überfall auf die Dardanellen ansetzen wollte, geboten London, Paris und Petersburg Einhalt. Das Geschwader musste abdrehen.

Auf der Londoner Konferenz 1912 beförderte die Entente die Aufnahme Italiens in die Riege der Großmächte. Es erhielt mit Deutschland, Österreich/Ungarn, Russland, Frankreich und Großbritannien das Mandat zur Herrschaft über Albanien. 1915 beteiligte die Entente, zu der Italien aus dem Dreibund wechselte, als Dank dafür Italien neben Griechenland, Serbien und Montenegro an der Aufteilung Albaniens.

Dass die europäischen Großmächte, an ihrer Spitze das Deutsche Kaiserreich, zu einem Waffengang um die Neuaufteilung der Welt antreten wollten, wurde nicht erst mit dem so genannten Fürstenmord von Sarajewo, der als Vorwand diente, sichtbar. Italien wollte dabei sein und meldete Ansprüche auf das österreichische Südtirol und auf den Balkan an. Als Garant des kriegerischen Expansionismus wurde an Stelle des "gemäßigten" Giovanni Giolitti der rechte Flügelmann der Liberalen, Antonio Salandra, am 21. März 1914 als Premier an die Regierung gehievt.


Italiens Sozialisten drittstärkste Arbeiterpartei Europas

1906 stieg die ISP mit rund 250.000 Mitgliedern zur drittstärksten Arbeiterpartei Europas auf. Ein Bauernaufstand 1894 auf Sizilien und Barrikadenkämpfe 1898 in Mailand (bei denen es über 100 Tote und etwa 500 Verletzte gab) vermittelten lehrreiche Erfahrungen und stärkten die Kampfkraft. 1900 setzte die Partei im Ergebnis eines Generalstreiks in der Industrie- und Hafenstadt Genua das Streikrecht durch. In diesen Kämpfen standen die Linken an der Spitze und konnten so ihre Positionen stärken. Sie fanden sich mit den durch Wahlerfolge (seit 1904 erreichte die ISP 20 Prozent Wählerstimmen) gestärkten Reformismus nicht ab. Auf dem Parteitag 1912 setzten sie den Ausschluss der reformistischen Fraktion, die die koloniale Eroberung Libyens unterstützt hatte, aus der Partei durch. Mit ihnen stimmten die Anarcho-Syndikalisten. Das wurde zur entscheidenden Grundlage für Die Antikriegshaltung der ISP nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Auf ihrem Parteitag im April 1914 bekräftigten die italienischen Sozialisten ihr Bekenntnis zum Manifest gegen den Krieg, das der Baseler Friedenskongress der Zweiten Internationale 1912 beschlossen hatte.

Von Bedeutung war auch, dass die ISP meist zu einem Zusammenwirken mit den Anarchisten fand. Denn auch nach der Überwindung des anarchistischen Einflusses Bakunins (Bakunismus) blieb neben dessen negativen Aspekten in der italienischen Arbeiterbewegung eine kämpferische Komponente zurück, die in machtvollen Protesten gegen Reaktion und Willkür, für das Eintreten für die jeglicher Rechte beraubten Arbeiter in Stadt und Land und so auch in der Teilnahme der Anarcho-Syndikalisten an der Settimana Rossa im Juni 1914 zum Ausdruck kam. Dem allgemeinen Trend der absoluten Ablehnung der Anarchisten trat Gramsci entgegen. In der anarcho-syndikalistischen Strömung sah er "den instinktiven, elementaren, primitiven, aber gesunden Ausdruck des Widerstandes der Arbeiter gegen den Block mit der Bourgeoisie und für den Block mit den Bauern, in erster Linie mit den Bauern des Südens". Sie forderte den Generalstreik als politische Kampfform, verabsolutierte jedoch seine Anwendung und verlangte, die Produktionsmittel den Gewerkschaften zu übergeben. Obwohl zur Partei gehörend, lehnte sie sowohl deren Funktion als Führer des Proletariats als auch dessen politische Machtergreifung ab. Der Ausschluss der Anarcho-Syndikalisten auf dem Parteitag 1908, den die Reformisten betrieben, für den aber Teile der linken Fraktion stimmten, war unter den Linken umstritten. Ein Teil der Anarcho-Syndikalisten kehrt später in die ISP zurück.


La Settimana rossa

Gegen die nach dem ISP-Parteitag einsetzenden antimilitaristischen Aktionen ging Premier Salandra mit verschärfter Repression vor. Für den 7. Juni riefen die ISP, die Gewerkschaften, die Republikanische Partei und Anarchisten in der Emilia Romagna und den Marken (Norditalien) unter der Losung "gegen Militarismus und Krieg" zu landesweiten Protesten auf. Die Demonstranten und ihre Redner prangerten die brutale Kriegführung in Tripolitanien und der Kyrenaika an, wo über Tripolis und Bengasi aus Luftschiffen und Flugzeugen Bomben vor allem auf die Zivilbevölkerung abgeworfen worden waren. 14.800 Araber waren massakriert worden, aber auch 1.405 Italiener hatten die koloniale Eroberung mit ihrem Leben bezahlt, Unzählige waren als Krüppel zurückgekehrt. Lenin hatte in der "Prawda" vom 28. September 1912 entlarvt, wie die Araber "zivilisiert" wurden: "mit dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen". In Ancona, wo zu den Rednern einer Protestkundgebung der führende Republikaner und Vorsitzende der Camera del Lavoro der Provinz, Pietro Nenni (der später zur ISP übertrat und ihr langjähriger Vorsitzender wurde), gehörte, eröffneten Carabinieri das Feuer. Es gab drei Tote und zahlreiche Verletzte. Die danach vor allem in ganz Norditalien einsetzenden Kampfaktionen gingen als Settimana rossa (rote Woche), die bis zum 14. Juni anhielt, in die Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung ein. Am 8. Juni riefen die ISP und der Gewerkschaftsbund CGdL zum Generalstreik auf, der landesweit befolgt wurde. Die Erhebung verdankte ihren Schwung auch der Teilnahme der Anarcho-Syndikalisten, die wesentliche Triebkräfte der revolutionären Kämpfe waren. In Rom, Turin, Mailand, Genua, Florenz und Ancona kam es zu Barrikadenkämpfen. In der Romagna und den Marken proklamierten die Aufständischen die Republik und bildeten Revolutionsräte. Sie besetzten Stadtverwaltungen und öffentliche Gebäude, unterbrachen Telegrafenlinien, befreiten Häftlinge aus den Gefängnissen, stürmten Polizeistationen und entwaffneten die Polizisten und gegen sie vorgehende Soldaten des Heeres. Arbeiter besetzten die Fabriken, Landarbeiter und Tagelöhner die Güter der Großgrundbesitzer. Die Republikanische Partei solidarisierte sich vielerorts mit den Aufständischen. In den Erhebungen zeigte sich, dass die italienischen Sozialisten den Kampf gegen einen drohenden Krieg mit dem Ziel revolutionärer Veränderungen verbanden. Premier Salandra und der König setzten gegen die revolutionäre Erhebung 100.000 Mann des Heeres ein und warfen sie in einem Meer von Blut nieder. Über die zahlreichen Toten und Verletzten sowie die Inhaftierten und vor Gericht gestellten Aufständischen gab es keine Angaben.

*

Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2014