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MEMORIAL/069: März 1943 - Erste große Streiks waren ein Meilenstein zum Sturz Mussolinis (Gerhard Feldbauer)


Erste große Streiks während des Krieges in Turin und Mailand gegen Hunger und Krieg

Sie waren ein Meilenstein zum Sturz Mussolinis im Juli 1943

von Gerhard Feldbauer, 4. März 2013



Am 5. März 1943 traten die Arbeiter der Mirafiori-Werke von FIAT in Turin, des größten Rüstungsproduzenten Italiens, unter der Losung "Frieden und Brot" in den Ausstand. Ein auslösender Faktor war, dass mit den anglo-amerikanischen Bombenangriffen seit Oktober 1942 auf Turin, Mailand und Genua Italien direkt vom Krieg erfasst wurde. Zehntausende Obdachlose waren seit dem Winter schutzlos der Kälte ausgesetzt. Angesichts einer hemmungslosen Preistreiberei mehrten sich Anzeichen einer Hungersnot. Seit 1938 hatten sich die Lebenshaltungskosten verdoppelt. Im März 1942 waren alle Lebensmittel rationiert worden. Pro Kopf gab es täglich 150 Gramm Brot, 20 Gramm Fleisch und nur wenige andere Nahrungsmittel. Ein Kilo Brot, das offiziell 2,6 Lire kostete, wurde auf dem Schwarzmarkt für den zehnfachen Preis gehandelt. Ein Metallarbeiter brachte es mit seinem Spitzenverdienst auf einen Stundenlohn zwischen 2,95 und 4,6 Lire.

Die Streikenden zogen ins Zentrum von Turin und verbreiteten Flugblätter mit ihren Forderungen nach einem Ende des Krieges und Maßnahmen gegen die Lebensmittelknappheit. Der Streik erfasste die Industriebetriebe Piemonts und dehnte sich auf Mailand aus, wo die Arbeiter von Pirelli, des Stahlkönigs Falck, Marelli und weiterer Unternehmen dem Beispiel aus Turin folgten. Überall standen die illegal kämpfenden Kommunisten als Organisatoren an der Spitze der Kampfaktionen. Der faschistischen Repression gelang es trotz der Verhaftung von über 200 Arbeitern nicht, die Antikriegsstreiks niederzuschlagen. In der letzten Märzwoche hatten sie die ganze industrielle Lombardei erfasst. Obwohl das Regime im April eine Lohnerhöhung zugestand, war die Antikriegsbewegung nicht mehr zu unterdrücken. Unter mehreren Bedingungen, die im Juli 1943 zum Sturz Mussolinis führten, waren diese Arbeiterkämpfe der entscheidende Faktor.

Italien wurde auch von der Niederlage der Hitlerwehrmacht bei Stalingrad direkt betroffen. Der "Duce" hatte eine 230.000 Mann zählende Armata Italiana in Russia (ARMIR) an die Ostfront geschickt, die während der sowjetischen Gegenoffensive zwischen dem 11. und 22. Dezember in der verschneiten Donezsteppe größtenteils vernichtet wurde. Ein Bericht des italienischen Generalstabes besagte, dass die Deutschen die Italiener während des schrecklichen Rückzugs erbarmungslos ihrem Schicksal überließen, ihnen "stets jegliche Hilfe versagten, unsere Verwundeten ohne Transportmittel, ohne Nahrungsmittel und Versorgung zurückließen". Als das Schicksal der ARMIR in Italien bekannt wurde, trug das zur wachsenden Antikriegsstimmung bei. Unter den Trägern der faschistischen Diktatur führte der bei Stalingrad verloren gegangene Mythos von der "Unbesiegbarkeit" der Hitlerwehrmacht zu ersten Erkenntnissen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Bereits im November 1942 war Marschall Pietro Badoglio, der sich 1940 gegen den Kriegseintritt Italiens an der Seite Hitlerdeutschlands ausgesprochen hatte und danach als Generalstabschef zurückgetreten war, in Mailand in der Wohnung des "Königs" der Eisen- und Stahlbranche, Enrico Falck, mit führenden Großindustriellen und Größen der faschistischen Partei zusammengetroffen, um einen Bruch mit Berlin zu erörtern. Unter den teilnehmenden bürgerlichen Oppositionellen befand sich Alcide De Gasperi von den Christdemokraten. Danach kam es zu ersten Sondierungen mit Washington und London über ein Ausscheiden aus der Achse.

Selbst Mussolini suchte zwar keinen Bruch mit Berlin, aber eine Fortsetzung des Krieges nur gegen die Angloamerikaner im Westen und im Mittelmeerraum. Er schickte seinen Schwiegersohn, Außenminister Graf Galeazzo Ciano, der insgeheim bereits mit den Palastverschwörern konspirierte, am 18./19. Dezember 1942 ins Führerhauptquartier "Wolfsschanze" und übermittelte Hitler seinen Standpunkt, zur Vermeidung eines Zwei-Frontenkrieges mit Russland zu einer Art "neuem Brest-Litowsk-Frieden" zu kommen, um größere Truppenmengen von der Ostfront abziehen zu können. Hitler beharrte, das strategische Hauptziel bleibe, "den bolschewistischen Koloss zu zerschlagen".


Triebkraft Arbeiterklasse

Die Palastrevolte, die am 25. Juli 1943 den "Duce" stürzte, spiegelte den Realitätssinn der herrschenden Kreise Italiens wider, die über 20 Jahre Träger der faschistischen Diktatur waren, aber sich nun nicht in die Niederlage der Achse hineinziehen lassen wollten. Entscheidende und fast noch stärkere Triebkraft ihres Handelns war jedoch die Furcht vor einem Volksaufstand, der das Mussolini-Regime stürzen und eine antifaschistische Volksregierung hätte an die Macht bringen können. Die Angloamerikanischen Alliierten teilten diese Ängste und sagten Waffenstillstandsverhandlungen zu.

Inzwischen schwelte die Krise des faschistischen Regimes ihrem offenen Ausbruch entgegen. Im Oktober/November 1942 scheiterte die Offensive Rommels bei El Alamein. Nach Stalingrad war das die Wende auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz. Die Eroberung von Tunis und Biserta durch deutsche Luftlandetruppen im November 1942 verhinderte nur die sofortige Zerschlagung der zur Hälfte aus Deutschen und Italienern bestehenden 250.000 Mann zählenden Heeresgruppe Afrika. Sie kapitulierte am 13. Mai 1943 am Kap Bon nahe Tunis. Nach der Landung der Alliierten am 9. Juli auf Sizilien brach die Krise des Faschismus offen aus und trieb die Palastverschwörer zur Eile an.

Die Befürchtungen der herrschenden Kreise wurden insbesondere dadurch genährt, dass die entscheidende Triebkraft des antifaschistischen Widerstandes die Arbeiterklasse mit einer kommunistischen Partei an der Spitze war, die Schritt für Schritt zu dessen führender Kraft aufstieg. Nach der faschistischen Machtergreifung 1922 hatte die IKP als einzige Oppositionspartei in Italien mit illegalen Parteistrukturen den antifaschistischen Widerstand geführt. Die Antikriegsstreiks waren ein Ergebnis der intensiven Basisarbeit vor allem unter den Industriearbeitern des Nordens.

Mit Beginn des Kriegseintritts hatte auch die ISP illegale Strukturen in Italien mit einer Zentrale in Mailand geschaffen. Im Oktober 1941 bildeten Kommunisten, Sozialisten und die Gruppe Giustizia e Libertà in Toulouse ein Antikriegskomitee und anschließend im November ein gleiches in Turin. Das waren erste Schritte zur Herstellung der antifaschistischen Einheitsfront. Es folgte im Herbst 1942 der Zusammenschluss verschiedener antifaschistischer Gruppen zu einem Komitee der nationalen Einheit. Der bis dahin größte Erfolg der Einheitsbestrebungen war am 3. März 1943 ein in Lyon zwischen ISP, IKP mit der im Juni 1942 aus der Giustizia e Libertà hervorgegangenen Aktionspartei geschlossenes Abkommen über gemeinsame Aktionen. Es sah "bewaffnete Aktionen von Partisanen" und die Vorbereitung einer "nationalen Erhebung" zum Sturz der faschistischen Diktatur vor. Diese zielstrebige strategisch orientierte Bündnisarbeit war die Grundlage, dass nach der Okkupation Nord und Mittelitaliens durch die Hitlerwehrmacht am 9. September 1943 die antifaschistischen Gruppierungen auf Vorschlag der IKP ein Comitato di Liberazione Nazionale (CLN) bildeten, das alle Italiener zum bewaffneten Befreiungskampf gegen den Faschismus für ein freies Italien aufrief. Dem Befreiungskomitee gehörten Kommunisten, Sozialisten und Aktionisten, die im Herbst 1942 gebildete Democrazia Cristiana, die Republikaner und die Liberalen an.


Aktionseinheit entscheidende Grundlage

Die entscheidende Grundlage der führenden Rolle der Arbeiterklasse in diesem Prozess war, dass die Vorsitzenden der beiden Arbeiterparteien in Italien, Luigi Longo (IKP) und Pietro Nenni (ISP) 1934 ein Aktionseinheitsabkommen schlossen. Es wurde in Spanien im Kampf gegen die Franco-Faschisten und ihre deutschen und italienischen Verbündeten gefestigt und 1937 mit einem klaren antiimperialistischen Bekenntnis und dem Ziel des "Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft" vertieft. Erste Grundlagen dazu hatte bereits Antonio Gramsci gelegt, der sich frühzeitig gegen das Linkssektierertum gewandt, die nationale Besonderheit in der Strategie der Kommunisten betont, die auf dem VI. KI-Kongress aufgestellte Sozialfaschismusthese abgelehnt und die Sozialdemokratie als Teil der Arbeiterbewegung anerkannt hatte. Das einheitliche Handeln der Arbeiterparteien zog erhebliche kleinbürgerliche Schichten sowie Angehörige der Intelligenz auf ihre Seite und beeinflusste die Haltung des bürgerlichen Lagers einschließlich der herrschenden Kreise (s. o.). IKP-Generalsekretär Palmiro Togliatti setzte mit Luigi Longo nach dem Sturz Mussolinis die von Gramsci ausgearbeitete antifaschistische Bündniskonzeption mit der Bildung des CLN im September 1943 und dem Beitritt zur antifaschistischen Einheitsregierung im April 1944 in die Tat um.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2013