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KULTUR/083: Die Er-Fahrung der Welt - Kultur- und Sozialgeschichte des Zirkus (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 39|10 - Universität Konstanz

Die Er-Fahrung der Welt

Dr. Anna Lipphardt erforscht die Kultur- und Sozialgeschichte des Zirkus

Von Jürgen Graf


Wahrlich, wir leben in ironischen Zeiten: Der Zeitgeist fordert von uns Mobilität bis über die nationalen Grenzen hinaus: Alle wollen und sollen wir immer mobil sein. Die Globalisierung postuliert Weltbürgertum, ja Interkulturalität - und doch will sie ausgerechnet jene Volksgruppe nicht gutheißen, die all dies seit über einem Jahrhundert praktiziert: das "fahrende Volk", der Zirkus. "Der Zirkus war einst ein Wegbereiter der Globalisierung, der heute von der Globalisierung links liegen gelassen wird", proklamiert Dr. Anna Lipphardt, Forscherin für mobile Kulturen an der Universität Konstanz. Im Rahmen des Exzellenzclusters "Kulturelle Grundlagen von Integration" entwirft sie ein faszinierendes Bild vom Zirkus als Spiegelbild der Entwicklung einer transnationalen Gesellschaft.

Nicht in erster Linie die Ästhetik des Zirkus hat Anna Lipphardt im Blick, sondern seine Beziehung zur Umgebungsgesellschaft. Das Faszinosum des Zirkus' liegt für sie weniger in seinem Bühnenzauber als in seiner Verwobenheit mit den Gesellschaftsprozessen. Der Zirkus wird für Lipphardt zur Denkfigur einer gleichzeitigen In- und Exklusion der Globalisierung: "Meiner Meinung nach verkörperte er vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das unterbewusste Andere der deutschen Gesellschaft." Der Zirkus war der Importeur des Exotisch-Fremden und des Nicht-Alltäglichen, er inszenierte "das wundersame Andere", das von einer geographisch fest verwurzelten Bevölkerung in gleichem Maße begehrt wie auch angefeindet wurde: Seit jeher diente das Zirkuszelt als Projektionsfläche für das Verlangen und die Ängste der festansässigen Mehrheitsgesellschaft. Wer mit Lipphardt tiefer in dieses Reich gleich hinter dem Spiegel der Gesellschaft hineinschaut, der wird im Zirkus eine konstitutive Funktion bei der Ausbildung von Nationalität erblicken.

Die Geburtsstunde des Zirkus liegt 250 Jahre zurück, doch man mag es kaum glauben: Sein Geburtsbett ist nur zur einen Hälfte die staubige Straße, zu seiner anderen Hälfte ist er in aristokratischen Steinhäusern geboren. Die militärischen Reitschulen der französischen und englischen Adelshöfe bilden den Ursprung der noch heute runden Manege. Als die Reitdarbietungen mit zusätzlichen Unterhaltungsnummern aufgelockert wurden, etablierte sich das Prinzip Zirkus. Die Stein- und Holzgebäude sollten noch lange Jahre der Spielort des Zirkus bleiben; erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde das charakteristische Chapiteau - das Zirkuszelt - entwickelt. Es ist bezeichnend, dass der Zirkus sein goldenes Zeitalter im zur Neige gehenden 19. Jahrhundert feierte: in der Zeit der "ersten Globalisierung", zugleich eine Hochphase des Nationalstaates. Der Zirkus als Aussteller von markierter Fremdheit nahm eine Schlüsselfunktion in der Ausformung jenes Nationalismus ein; die Gesellschaft fand in seinen Exotismen ihr Gegenüber. Sein Kuriositätenkabinett verknüpfte sich mit den deutschen Kolonialphantasien, ermöglicht durch Carl Hagenbeck, dem wichtigsten Kolonialhändler für exotische Tiere: Neben "wilden Bestien" importierte Hagenbeck "exotische Völker" aus Afrika, Orient und Arktis. Mit urtümlichen Kostümen ausstaffiert wurden die "eingeborenen Wilden" im Zirkus dem Publikum zur Schau gestellt; die Gesellschaft begaffte im Zirkus das Fremde und begriff sich dabei als homogene, nationale Einheit.

Die Weltkriege bedeuteten für den Zirkus einen brutalen Einschnitt, insbesondere im Dritten Reich: Kein anderes Gewerbe bestand so sehr aus "Nicht-Ariern". Doch wo viele kleine Zirkusse der Verfolgung ausgesetzt waren, kollaborierten große Zirkusbetriebe mit dem NS-Regime. Der Zirkusbesitzer Krone stellte Hitler gar seinen Zirkusbau in München für Massenkundgebungen zur Verfügung. Hitlers Begeisterung über dessen Raumwirkung brachte dem Zirkus sogar einen Eintrag in "Mein Kampf" ein.

Eine intensive Förderung fand der Zirkus in der DDR: Eine hochklassige Artistenschule wurde eingerichtet und der "VEB Zentralzirkus" wurde gegründet, doch der Zirkus verlor seinen Status als Grenzgänger: Denn auch für ihn waren die Grenzen im geteilten Deutschland nicht zu überschreiten. Im wiedervereinigten Deutschland hat der Zirkus seine staatliche Förderung verloren, er zählt heute als gewöhnliches Wirtschaftsunternehmen.

Deutschland, Zirkusland: Mehr als in jedem anderen Staat Europas wird in der Bundesrepublik Zirkus gespielt. Bei den meisten Zirkussen handelt es sich um kleine Familienbetriebe, deren Programm sich inzwischen in erster Linie an Kinder wendet; in den großen Zirkussen wie Roncalli oder dem Cirque du Soleil werden die Ränge hingegen vorwiegend von erwachsenem Publikum gefüllt - das "unbewusste Andere der Gesellschaft" beziehungsweise die "Traumwelt jenseits von Raum und Zeit" ergreift nach wie vor.

Noch heute ist das Bild des verarmten fahrenden Volks nur die halbe Wahrheit - sie betrifft nur die Kleinstbetriebe (welche allerdings die überwiegende Mehrzahl der heute in Europa reisenden Zirkusse ausmachen). Auch einige millionenschwere Großunternehmen zählen zum Zirkus, zudem sind viele der traditionell "fahrenden" Zirkusleute längst sesshaft geworden: "Das ist ein sehr ausdifferenziertes soziales Spektrum", bestätigt Lipphardt. Doch die soziale Schere klafft in den kleinen Zirkusbetrieben immer stärker auseinander, insbesondere die Bildungssituation reisender Kinder ist fatal. Ironischerweise hält die Bildungsschwelle ausgerechnet die originären Zirkusfamilien von den Zirkusschulen fern - denn Zirkusschulen setzen nicht nur die akrobatische Eignung, sondern in hohem Maße auch eine solide Allgemeinbildung für die Aufnahme voraus.

In der Manege erwünscht, doch außerhalb ignoriert oder gar angefeindet: Das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und "fahrendem Volk" ist janusköpfig. Am Zirkus wird die Gespaltenheit einer transnational gewordenen Gesellschaft sichtbar: Sie fordert Mobilität und Interkulturalität, doch sie kann ausgerechnet eine mobile Kultur nicht fassen. Die Bundesländer und Gemeinden versuchen, das "Zirkusvolk" zu verwalten und bürokratisch in den Griff zu bekommen, doch sie reiben sich an dessen Beweglichkeit. Der Zirkus lässt sich nicht erfassen, und würde er dies zulassen, so verlöre er seine Besonderheit und sein Kapital: das Faszinosum am Anders- und Unterwegssein. Seit jeher inszeniert sich der Zirkus als zeitloser Raum, und vielleicht ist dies der Grund, warum er keinen Platz findet in einer Epoche, die eigentlich so sehr die Mobilität fordert. Wahrlich, wir leben in ironischen Zeiten.


Seit Oktober 2008 ist Dr. Anna Lipphardt Fellow des Zukunftskollegs und des Kulturwissenschaftlichen Kollegs an der Universität Konstanz. Sie hat in Vilnius, Potsdam, Berlin und Chicago Internationale Beziehungen/Politikwissenschaft, Baltistik und Jüdische Studien studiert und 2006 in Kulturwissenschaft promoviert. Danach forschte sie am Centre Marc Bloch, Berlin, wo sie auch die Groupe de Recherche Nazisme leitete. Ihre mehrfach ausgezeichnete Studie "VILNE. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte" erscheint diesen Sommer bei Schöningh.


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Quelle:
uni'kon 39|10, S. 16-17
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2010