Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → GESCHICHTE

FUNDSTÄTTEN/015: Hujayrat al-Ghuzlan - Im Reich des Steinbocks (DFG)


forschung 1/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Im Reich des Steinbocks

von F. Klimscha, U. Siegel, R. Eichmann und K. Schmidt


Fern der bekannten Ausgrabungsstätten legen internationale Archäologenteams im jordanischen Tall Hujayrat al-Ghuzlan die Überreste chalkolithischer Siedlungen frei. Ihre Funde sind voller Überraschungen - sie zeigen, wie Kulturen und Techniken von den Metropolen in die Provinz ausstrahlten.

Mitarbeiter des Ausgrabungsteams präsentieren Fundstück. - Foto: © Becker/DAI Orient Abteilung

Foto: © N. Becker/DAI Orient Abteilung

In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Regionen gegeben, in denen besonders wichtige und durchschlagende Entdeckungen gemacht wurden. Diese Innovationen drangen über die kulturellen Kernregionen hinaus und bis in weit entfernte Gebiete vor. In der jüngeren Steinzeit etwa breiteten sich Rad und Wagen von Vorderasien bis zum Ostseeraum aus - in einem rasanten Prozess, der rückblickend nur etwa hundert Jahre beanspruchte.

Technische Innovationen entstehen meist in wirtschaftlich-administrativen Zentren. In den mesopotamischen Stadtstaaten zum Beispiel sind kulturelle Errungenschaften wie die Schrift erdacht und erstmals erprobt worden. Dennoch muss die archäologische Forschung auch mit Überraschungen in Gebieten rechnen, die mit Blick auf die Zentren altorientalischer Kulturen als peripher einzuschätzen sind. Regionen also, in denen lebenswichtige Ressourcen knapp waren und deren naturräumliche Gegebenheiten das Leben der Bewohner mehr erschwerten als unterstützten.

Genau eine solche Lage kennzeichnet den Tall Hujayrat al-Ghuzlan. Er liegt nördlich der modernen Stadt Aqaba nahe dem Roten Meer. Dort sind heute ideale Voraussetzungen für das Sporttauchen gegeben, doch in der Vorgeschichte war der Kampf ums Überleben in einer auf Ackerbau und Viehzucht basierenden prähistorischen Gesellschaft hart und unerbittlich. Regen fällt äußerst unregelmäßig, manchmal gar nicht - und zwar über Jahre.

Verkehrstechnisch ist die Region am Golf von Aqaba über Land sehr eingeschränkt erreichbar: Enge, ausgetrocknete Flussbetten, beiderseits von hohen Felsen begleitet ("Wadis") stellen die einzigen Straßen dar. Nach Norden erstreckt sich das Wadi Araba, wo heute eine Asphaltstraße zum Toten Meer führt. Im Osten führt das Wadi Yitim in eine wunderschöne, aber lebensfeindliche Wüstenlandschaft. Besser sind nur die Voraussetzungen für Reisen über Wasser. Die Bewohner von Tall Hujayrat al-Ghuzlan hatten direkten Zugang zum Roten Meer, eine Lage, die sie für den Fernhandel zu nutzen wussten.

Seit 2002 wird am Tall Hujayrat al-Ghuzlan im Rahmen des ASEYM-Projekts (Archaeological Survey and Excavation in the Yutum and Magass Area) gegraben. Die Aqaba-Region liegt am Rande des Blickfeldes der Vorderasiatischen Archäologie und der Ägyptologie; deshalb wurde sie lange Zeit in der internationalen Forschung kaum wahrgenommen und beachtet.

Abbildung: © Siegel/DAI Orient Abteilung

Der Ausgrabungsplan für den Fundplatz Tall Hujayrat al-Ghuzlan in Jordanien
Abbildung: © U. Siegel/DAI Orient Abteilung

Tall Hujayrat al-Ghuzlan wurde im Chalkolithikum (dt. "Kupfersteinzeit") gegründet (4100 bis 3600 v. Chr.) und ist damit, von kleinen Fundstellen in der westlich benachbarten Negev-Wüste abgesehen, die älteste in der Aqaba-Region nachweisbare menschliche Ansiedlung. Der Aufbau der Siedlung überrascht ungemein, weil er - anders als für diese Zeit zu erwarten - keine einfache, dörfliche Ansiedlung zeigt, sondern mehrräumige Gebäude mit mindestens zwei Stockwerken. Anders gesagt: Hujayrat al-Ghuzlan ist "geplant" und auf engstem Raum angelegt. Unterschiedlich große Räume legen verschiedene funktionale Einheiten nahe, die über ein komplexes Wegenetz erschlossen werden konnten.

Schon im Chalkolithikum wurde Hujayrat al-Ghuzlan von mehreren Erdbeben heimgesucht. Die Folge: Die Räume wurden durch zusätzliche Wände stabilisiert und die Siedlung ähnelte immer mehr einem Labyrinth. Trotzdem lebte und arbeitete man hier weiter. Für die Archäologen haben die Erdbeben von einst besondere Forschungsbedingungen hinterlassen. Zahlreiche Bauten stehen teilweise noch bis zu einer Höhe von vier Metern; sogar Pfeiler und Nischen innerhalb der Wände lassen sich finden.

Diese außergewöhnliche Situation lässt an das antike Pompeji denken. In Tall Hujayrat al-Ghuzlan gab es aber scheinbar keine Erdbebenopfer, zumindest sind verschüttete Skelette bisher noch nicht ausgegraben worden. Dafür tauchen in den Füllschichten der Siedlung immer wieder menschliche Kiefer auf. Ob es sich dabei um Reste von Bestattungen oder einen Ahnenkult handelt, bei dem ähnlich wie in keltischen Siedlungen Teile von Verstorbenen in den Häusern aufbewahrt wurden, ist bisher unklar.

Foto: © A. Wittmer/DAI Orient Abteilung

Wie sahen Häuser und Bauten in der antiken Siedlung von Tall Hujayrat al-Ghuzlan aus? Die Architektur im Norden der Anlage erlaubt tiefe und aufschlussreiche Einblicke.
Foto: © A: Wittmer/DAI Orient Abteilung

Wie die Siedlung ursprünglich ausgesehen hat, konnte die baugeschichtliche Auswertung der Befunde im Norden der Anlage klären: In regelmäßigen Abständen standen große, runde Stützen, die allesamt zu einer früheren Bauperiode gehören als die später errichteten Wände. Sie trugen eine nicht mehr erhaltene Dachkonstruktion. Tall Hujayrat al-Ghuzlan war also durch erstaunlich große, fast schon monumental zu nennende Raumeinheiten charakterisiert. Diese großräumlichen Bauten unterscheiden sich von den kleinen Baustrukturen der restlichen Siedlung.

Umschlossen wurde die Siedlung von einer Mauer aus Wadi-Geröll, die im Lauf der Siedlungsgeschichte erneuert wurde. Sie diente höchstwahrscheinlich der militärischen Befestigung des Platzes. Wovor die Bewohner sich allerdings schützen mussten, ist noch unklar. Waffen sind nur in der Form von Keulen überliefert. Der Fund einer fragmentierten Steinschale mit plastischem Zickzackliniendekor verbindet die Siedlung mit dem Heiligtum von Khirbet Rizqeh in einem Seitenarm des Wadi Rum, wo menschliche Abbilder, in Stein gebannt, kreisförmig aufgestellt waren. Die gewaltige Zahl von Kupfertiegeln und Gussformen bezeugt in Tall Hujayrat al-Ghuzlan, dass der Ort keine gewöhnliche Wohnsiedlung gewesen sein kann. Stattdessen war das Leben dort sehr stark auf die Produktion kupferner Barren und Fertigwaren ausgerichtet.

© K. Schmidt/DAI Orient Abteilung

Eindrucksvolle Zeugnisse: Wanddekoration mit zwei Steinböcken; unter
dem vorderen ist ein Mensch mit erhobenen Armen zu erkennen. Mitte:
Tausend Perlen, viele aus Molluskenschalen, entdeckt in einem
Tongefäß. Unten: Mit Steinen unterschiedlicher Größe wurde einst
Kupfererz zerkleinert und Getreide gemahlen.
© K. Schmidt/DAI Orient Abteilung

N. Becker/DAI Orient Abteilung

Eindrucksvolle Zeugnisse: Wanddekoration mit zwei Steinböcken; unter
dem vorderen ist ein Mensch mit erhobenen Armen zu erkennen. Mitte:
Tausend Perlen, viele aus Molluskenschalen, entdeckt in einem
Tongefäß. Unten: Mit Steinen unterschiedlicher Größe wurde einst
Kupfererz zerkleinert und Getreide gemahlen.
N. Becker/DAI Orient Abteilung

N. Becker/DAI Orient Abteilung

Eindrucksvolle Zeugnisse: Wanddekoration mit zwei Steinböcken; unter
dem vorderen ist ein Mensch mit erhobenen Armen zu erkennen. Mitte:
Tausend Perlen, viele aus Molluskenschalen, entdeckt in einem
Tongefäß. Unten: Mit Steinen unterschiedlicher Größe wurde einst
Kupfererz zerkleinert und Getreide gemahlen.
N. Becker/DAI Orient Abteilung

Die Analyse von Spurenelementen hat ermittelt, dass das Erz entweder aus dem nahen Timnah oder von Lagerstätten aus dem etwa hundert Kilometer nördlich liegenden Wadi Feinan stammt. Verarbeitet wurde es dann in Tall Hujayrat al-Ghuzlan. Genutzt wurden dazu faustgroße Handsteine und vor allem Mahlsteine aus Granit in verschiedenen Größen. An einigen Steinen sind noch grüne Farbspuren zu erkennen, die vom fortwährenden Aneinanderreiben mit Kupfererz stammen.

Die Barren waren für den Export bestimmt. Zu den bevorzugten Handelspartnern gehörte das prädynastische Ägypten. In einer Siedlung im Nildelta wurden Barren gefunden, deren Form und Größe genau zu den Gussformen aus Tall Hujayrat al-Ghuzlan passen. Im Austausch erhielt der Ort am Golf von Aqaba wertvolle ägyptische Steingefäße und seltene Nilmuscheln. Der Fund einer kleinen Figurine aus Ton ist in der südlichen Levante bisher einzigartig und lässt sich durch stilistische Vergleiche ebenso als Import aus Ägypten identifizieren.

Gegessen haben die Bewohner hauptsächlich Ziegen und Schafe, wenige Knochen stammen von Wildtieren und von domestizierten und wilden Eseln. Die botanischen Reste zeigen, dass das Klima im Chalkolithikum sich kaum von heutigen Verhältnissen unterschied. Die Landwirtschaft setzte auf Flachs, Gerste und Weizen. Die Trockenheit der Region stand und steht allerdings einer agrarischen Nutzung entgegen. Regenwasser ist selten und unzuverlässig, Springfluten nach Unwettern sind für die Felder gefährlich, wenn nicht sogar vernichtend. Zur künstlichen Bewässerung nutzten die Bewohner von Tall Hujayrat al-Ghuzlan deshalb den unterirdisch im Wadi verlaufenden Grundwasserstrom. Außerhalb der Siedlung liegt ein Bewässerungssystem mit dessen Hilfe das Wasser auf die Felder geleitet wurde.

Eine weitere Besonderheit: Eine auffällige Wandgestaltung ziert einen Gebäudekomplex im Westen der Siedlung. An vier Wänden tauchen Handabdrücke sowie Tier- und Menschendarstellungen auf, die mit den Fingerkuppen in den feuchten Wandverputz gedrückt wurden. Das häufigste Motiv sind Steinböcke. Von einer solchen, wohl zufällig sichtbaren Darstellung, könnte der Ort auch seinen heutigen Namen erhalten haben. "Hujayrat al-Ghuzlan" lässt sich am ehesten mit "Räume des Steinbocks" übersetzen. Alle Dekorationen stammen aus dem Südwesten des Tall und weisen auf eine besondere Funktion dieses Bereichs hin.

Die Ausgrabungen der Jahre 2006 bis 2010 gingen speziell dieser Frage nach und konnten spektakuläre Funde zutage bringen. In direkter Nachbarschaft der Wanddekorationen fand sich eine tönerne Nachbildung eines Horns. Ursprünglich muss das Stück zu einer Großplastik gehört haben, von der anzunehmen ist, dass sie in Bezug zu den Wanddekorationen stand. Ähnlich verhält es sich mit den fünf am Fuße einer dekorierten Lehmziegelwand deponierten Miniaturgefäßen. Der ungebrannte Zustand der Objekte schließt eine profane Verwendung ebenso aus wie die Verzierung nur auf einer Seite. 2010 wurde der östlich benachbarte Raumkomplex ausgegraben; darin wurde ein bisher singulärer Stein geborgen, in den insgesamt acht quadratische bis sub-trapezförmige Zeichen eingeschnitten waren. Die Deutung ist bisher unklar, scheint jedoch eng mit der besonderen Nutzung dieses Areals zusammenzuhängen. Unter den Mauerunterkanten dieses Raums schließlich war ein versiegeltes Gefäß platziert, in dem sich mehrere tausend Perlen befanden, von denen die kleinsten nur circa 1 mm lang sind. Dieses Ensemble zählt zu den bislang spektakulärsten Fundstücken der Region überhaupt.


Unweit der Gefäße, unter einer der Wanddekorationen, konnten zahlreiche Schädel und Reste der Hornzapfen von Steinböcken geborgen werden, deren Bezug zu den Bildern der Parietalkunst nicht von der Hand zu weisen ist. Die Häufung solcher außergewöhnlichen Funde hebt diesen Teil der Siedlung deutlich hervor, sodass die weiteren Ausgrabungen in diesem Bereich nicht nur exzeptionelle Befunde versprechen. Auch der Antwort auf die "Besonderheit" dieses Areals könnte nähergekommen werden. Liegt im Westen des Tall vielleicht ein prähistorischer Tempel verborgen?

In der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts werden die Ergebnisse der Ausgrabungen 2006 bis 2010 aufgearbeitet und zur Publikation vorbereitet. Sicher: In Tall Hujayrat al-Ghuzlan wurde das gerne zitierte Rad nicht erfunden, und der Ort lag wahrlich am Rande der altägyptischen Welt. Dennoch nahm er an entscheidenden technologischen Innovationen teil, die für die Kulturgeschichte des östlichen Mittelmeerraums von Bedeutung waren. Vielleicht - so deuten es die zahlreichen Kontakte mit dem Niltal an - war der Ort sogar ein wichtiges Glied in einer Kette ineinandergreifender Faktoren, die gemeinsam im 4. Jahrtausend zum rasanten Aufstieg der ägyptischen Hochkultur beitrugen.


Dr. Florian Klimscha, Dipl.-Arch. Ulrike Siegel, Prof. Dr. Ricardo Eichmann, Prof. Dr. Klaus Schmidt forschen in der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI).

Adresse: DAI, z. Zt. Peter-Lenné-Straße 32, 14195 Berlin

DFG-Förderung in der Einzelförderung seit 2005. Das Projekt wird in Kooperation mit der University of Jordan, Amman, dem Deutschen Bergbaumuseum, Bochum, der Fachhochschule Lübeck und dem Geologischen Institut Bishkek, Kirgisien, durchgeführt.


*


Quelle:
forschung 1/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 4-9
mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Herausgeber: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Kennedyallee 40, 53175 Bonn
Telefon: 0228/885-1, Fax: 0228/885-21 80
E-Mail: postmaster@dfg.de
Internet: www.dfg.de

"forschung" erscheint vierteljährlich.
Jahresbezugspreis 2007: 62,00 Euro (print),
62,00 Euro (online), 72,00 Euro für (print und online)
jeweils inklusive Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2012