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ARBEIT/117: Auswirkungen des EU-Beitritts für die ArbeitnehmerInnen (guernica)


guernica Nr. 2/2008, Januar/Februar 2008
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Auswirkungen des EU-Beitritts für die ArbeitnehmerInnen
"Historischer Tiefstand"

Von Gerald Oberansmayr


Immer wieder wird von Regierung und Medien getrommelt, wie sehr Österreich vom EU-Beitritt profitiert habe. 'Guernica' hat die Jahre der EU-Mitgliedschaft aus der Sicht der ArbeitnehmerInnen unter die Lupe genommen - und zieht eine ernüchternde Bilanz.


Reallohnverluste in 10 von 12 Jahren seit dem EU-Beitritt

Vergleicht man die 12 Jahre vor dem EU-Beitritt (1982 - 1994) mit den 12 Jahren danach (1994 - 2006), so zeigt sich zunächst, dass sich das reale BIP-Wachstum nach dem Beitritt abgeschwächt hat (um immerhin 4,5%). Viel entscheidender jedoch ist die dramatisch veränderte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die seit Mitte der 90er Jahre stattgefunden hat. Als besonders aufschlussreich erweist sich die Gegenüberstellung der Nettorealeinkommen pro Arbeitnehmer - also das, was effektiv im Geldbörsel bleibt - mit dem realen Bruttoinlandsprodukt/Einwohner. Von 1982 bis 1994 wurden die Arbeitnehmer noch einigermaßen - wenn auch nicht mehr vollständig - am Wachstum der Güter und Dienstleistungen beteiligt. In diesen 12 Jahren stieg das BIP/Kopf um rd. 26%, die Nettorealeinkommen/AN um 20,4%. Mit dem EU-Beitritt ändert sich das Bild geradezu schlagartig. Während das BIP/Kopf nach wie vor stetig ansteigt, erleben die ArbeitnehmerInnen in 10 von 12 Jahren Reallohnverluste gegenüber 1994. 2007 liegt das Nettorealeinkommen gerade einmal um 0,7% über dem Jahr 1994, während das BIP bereits um über 20,4% gegenüber dem Vergleichsjahr von 1994 angestiegen ist. Anders ausgedrückt: Im Zeitraum 1982 bis 1994 verhielt sich das BIP-Wachstum zum Lohnzuwachs 1,3 : 1, im Zeitraum 1994-2006 satte 30 : 1. Unter dem Strich heißt das: Mit dem EU-Beitritt ist die alte Benya-Formel gekippt worden, wonach Lohnabschlüsse Inflation plus Produktivitätswachstum abzugelten haben.


Untere Lohngruppen stürzen ab

Dabei verhüllen die durchschnittlichen Einkommen der ArbeitnehmerInnen, dass auch innerhalb der unselbständig Erwerbstätigen die Schere immer weiter auseinandergeht. Vor allem für die unteren Einkommensgruppen hat sich die Lage geradezu dramatisch verschlechtert. So ist das 1. Quartal der Arbeitnehmer-Einkommen (d.h. ein Viertel verdient weniger, drei Viertel verdienen mehr) netto real seit 1997 um 11,5% zurückgegangen, bei den ArbeiterInnen gar um 22,5% (vor 1997 wurden diese Quartalsdaten noch nicht erhoben). Das heißt freilich nicht, dass die Stundenlöhne um diesen Betrag gekürzt wurden, in diesen Daten kommt vor allem zum Ausdruck, dass die Zahl der geringfügig und prekär Beschäftigten massiv angestiegen ist.

Doch auch durch diese inflationsbereinigten Zahlen wird die Entwicklung der wirklichen Kaufkraftentwicklung noch beschönigt. Denn die Realeinkommen ermitteln sich aus einer durchschnittlichen Inflationsrate, wo Lebensnotwendiges und Luxuskonsum zusammenfließen. Eine detaillierte Untersuchung der Preissteigerungen ergibt, dass die Ausgabengruppe "Wohnen - Energie - Wasser" fast doppelt so schnell gestiegen ist wie die durchschnittliche Inflation. Und gerade diese Ausgaben schlagen im Warenkorb von Niedrigverdienern überproportional zu Buche, während sie vom Preisverfall bei Fernreisen und Elektrogeräten wenig bis gar nicht profitieren.


Großkonzerne profitieren

Wenn das BIP pro Einwohner deutlich steigt, aber die Arbeitnehmereinkommen stagnieren oder sogar sinken, muss wer anderer kräftig profitieren. Die seit dem EU-Beitritt um rd. 6% steigende "Gewinnquote" (d.h. Anteil der Betriebsüberschüsse und Selbständigen-Einkommen am Volkseinkommen) bringt diese Entwicklung nur unzureichend zum Ausdruck, denn innerhalb der selbständig Erwerbstätigen geht die Schere zwischen oben und unten kräftig auseinander. Bei den Selbständigen verdient das oberste Einkommensviertel fünf Mal so viel wie das unterste (bei den Unselbständigen beträgt dieser Unterschied "nur" das Zweieinhalb-fache). Exorbitant angewachsen sind die Gewinne der großen Konzerne. Zwischen 2002 und 2006 sind die Gewinne (nach Steuer) der 30 größten börsenotierten österreichischen Konzerne um 380%, deren Dividendenausschüttungen um 220%, die Managergehälter um 120% gestiegen. Der Personalaufwand je Mitarbeiter ist dagegen um 1% gesunken.


EU-Lissabon-Strategie gegen solidarische Lohnpolitik

Dass mit dem EU-Beitritt die Realeinkommen der Arbeitnehmer schlagartig vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werden, ist kein Zufall. Denn der EU-Beitritt ist unmittelbar mit dem Ausverkauf der Verstaatlichten Industrie verbunden, deren Privatisierung im Vorfeld des EU-Beitritts von der EU-Kommission offen eingemahnt wurde. EU-Richtlinien unterwerfen immer mehr Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge (Post, Energie, Verkehr) dem Wettbewerbshammer und Privatisierungsdruck. Alle Untersuchungen zeigen, dass sich auf Grund von Liberalisierung und Privatisierung die Position der ArbeitnehmerInnen deutlich verschlechtert (Lohndruck, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, Jobverluste). Das EU-Grundlagenrecht unterbindet die Möglichkeit einer nachfrageorientierten Beschäftigungspolitik des Staates, indem die Fiskalpolitik einem strikten Sparzwang und die Geldpolitik einem unbedingten Hartwährungsgebot unterworfen wird. Das EU-Recht stärkt daher die Kapitalseite, denn je größer die Angst vor Arbeitslosigkeit und die Konkurrenz am Arbeitsmarkt, desto intensiver können ArbeitnehmerInnen ausgebeutet werden. Mit der sog. "Lissabon-Strategie", die im Jahr 2000 aus der Taufe gehoben wurde, haben sich die EU-Staatschefs überdies darauf verständigt, Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnisse noch kapitalfreundlicher zu gestalten. Der Hauptangriff zielt auf eine solidarische Lohnpolitik und sozial regulierte Arbeitsverträge. In verschiedenen Dokumenten zur Lissabon-Strategie wird u.a. gefordert (1):

"eine ausreichende Lohndifferenzierung in Branchen und Regionen", Zunahme der "Lohnspreizung"
 
Eliminierung von "übertriebenen Schutzklauseln im Rahmen von Standardarbeitsverträgen", da die "Expansion der Unternehmen durch komplizierte Personalbestimmungen, etwa Einstellungsformalitäten, Verwaltungsverfahren und Kündigungsbestimmungen" behindert werde.
 
Absenkung des Arbeitslosengeldes ("Lohnersatzquote") und Anhebung des Pensionsantrittsalters
 
"Einsatz von flexiblen Arbeitszeiten als Instrument zur Modernisierung der Arbeitsorganisation"
 
Förderung von Niedriglohnsektoren und "Zurückhaltung bei Lohnforderungen"
 
die "Entfesselung der Dynamik der Finanzmärkte" und die vollständige Liberalisierung von Dienstleistungen und netzgebundenen Industriezweigen

Viele arbeits- und sozialrechtliche Verschlechterungen der letzten Zeit sind unmittelbar durch den EU-Lissabon-Prozess angestoßen worden, wie z.B. die sog. "Pensionsreform", die die Renten zukünftiger Generationen um bis zu 30% absinken lässt, die Novellierungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, die den Druck auf Arbeitslose, auch schlecht bezahlte Jobs zu akzeptieren, erhöht, und nicht zuletzt die Neufassung des Arbeitszeitgesetzes, das während der Hälfte des Jahres die Ausweitung der Arbeitszeit auf 60 Stunden pro Woche und 12 Stunden pro Tag ermöglicht. Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit hilft den Unternehmen, Überstundenzuschläge in großem Umfang zu ersparen. Seit dem EU-Beitritt wuchs in Österreich die Zahl der Überstunden kräftig an, die durchschnittliche Wochenarbeitzeit von Vollerwerbstätigen stieg von 41,3 Stunden (1995) auf 44,5 Stunden (2006) (2)


EuGH-Attacke auf Kollektivverträge

Kräftige Unterstützung erhalten Unternehmerverbände, EU-Kommission und EU-Staatschefs bei dieser Politik der Umverteilung von unten nach oben mittlerweile vom Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser hat seit Ende 2007 in drei spektakulären Urteilen das EU-weite Unterlaufen von Kollektivverträgen durch Unternehmen, die ihren Firmensitz in einem EU-Billiglohnland aufgeschlagen haben, für rechtens und gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen dagegen für unzulässig erklärt. Selbst EU-Währungskommissar Almunia gibt inzwischen offen zu, dass "der Anteil der Löhne am Volkseinkommen einen historischen Tiefststand erreicht hat". (3) Den Schnurren von Regierung und Medien, wie sehr "wir alle" vom EU-Beitritt profitiert hätten; wird das freilich alles keinen Abbruch tun.


Anmerkungen:

(1) Wim Kok-Bericht November 2003 ("Jobs, Jobs, Jobs!") und November 2004 ("Die Herausforderung annehmen!"; Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat, Lissabon 23/24.3.2000 und Barcelona, 25./25.3.2002

(2) Jahrbuch des Statistisches Zentralamtes 2008

(3) ORF auf: http://orf.at/070525-12681/?href=http%3A%2F%2Forf.at%2 F070525-12681%2F10037txt_story.html


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Quelle:
guernica Nr. 2/2008, März/April 2008, Seite 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2008