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ARBEIT/107: Migrationsvolk Polen (guernica)


guernica Nr. 3/2007, Juni/Juli 2007
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Osteuropa
Migrationsvolk Polen
ErntehelferInnen in Spanien, Bauarbeiter in England, Prostituierte in ganz Europa. Zwei Millionen Polen haben das Land seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen.

Von Hannes Hofbauer


Hunderte von Bussen, voll mit polnischen ArbeiterInnen, queren jede Woche den halben Kontinent, dazu kommen Billigfluglinien, die von britischen und spanischen Städten nach Polen fliegen, um in der Fremde schlecht bezahlte Menschen tageweise zu ihren Familien zu bringen. Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 2 Millionen Polinnen und Polen, sich nach dem 1. Januar 2004 "za chlebem" - "zum Brot" - in den Westen aufgemacht haben. Der 1. Januar 2004 markiert den Beitritt Warschaus zur Europäischen Union. Die allermeisten Länder der EU haben von den vier versprochenen kapitalistischen Freiheiten - für Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft - nur die ersten drei gewährt. Einzig Großbritannien, Irland und Schweden öffneten die Arbeitsmärkte für die neuen Mitgliedsländer aus dem Osten. Die Folge: junge PolInnen suchen ihre Zukunft im Westen.


4,50 Euro Stundenlohn

Begonnen hat die neue Auswanderungswelle freilich schon vor dem Jahr 2004. Zuerst hieß das Land der Verheißung Spanien, wo vor allem RumänInnen und PolInnen als Erntehelfer auf den Feldern im Süden für billiges Gemüse im europäischen Norden sorgen. Sie stehen dort in direkter Konkurrenz mit den nordafrikanischen Obst- und Gemüsepflückern, auch was die Löhne betrifft. 4,50 Euro für die Arbeitsstunde sind keine Seltenheit. Und wer kein Geld am Ende des Tages sieht, dem kann auf Grund seiner Illegalität auch kein Rechtsanwalt helfen, geschweige denn, dass er sich einen solchen leisten könnte. Doch auch die legale Arbeitsaufnahme in Großbritannien nach 2004 führt zu Lohndumping auf den britischen Inseln. Mit umgerechnet 700 Euro Monatslohn kann z.B. eine Beschäftigte in der englischen Gastronomie rechnen, das ist das Dreifache von dem, was ein durchschnittlicher Leiharbeiter in Polen verdient. In England muss man allerdings schon eine besonders billige Bleibe finden, damit sich die Emigration lohnt. Doch auch wenn sie sich nicht lohnt, werden viele EmigrantInnen das zu Hause nicht erzählen. "Die schämen sich zu sehr", meint Monika Karbowska von der "Europäischen Feministischen Initiative für ein anderes Europa"; sie ist selbst polnische Migrantin in Frankreich. "Es gibt Tausende ewige Migranten", die ihrer Familie, der Ehefrau, den Eltern, den Stiefeltern nicht zeigen, dass sie versagt haben", schildert Karbowska die Lage in Paris:" Ich habe mit manchen Polen in den Straßen von Paris gesprochen. Es sind diejenigen, die Zelte und richtige selbst gebaute Häuschen in den Parks gebastelt haben und da geblieben sind - bis im Sommer 2006 der Bürgermeister von Paris sie davon gejagt hat. Heute leben diese Menschen am Rande der Stadt in der Nähe von Autobahnen." Die polnischen Frauen sind in der Emigration "netzwerkaktiver", meint die Migrantenbeobachterin, "da gibt es eine Art Tauschsystem", das ein leichteres Überleben gewährleistet.


Facharbeitermangel in Polen

Die polnische Auswanderung kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Polinnen und Polen füttern schon seit 200 Jahren die Arbeitsmärkte zwischen Chicago und Ruhrpott. Sie stellen eine spezifische Art (post)industrieller Reservearmee dar, mittels der ganze Landstriche prosperier(t)en. Auch im Kommunismus riss diese Wanderungsbewegung nicht ab. Selbst haben allerdings nur wenige etwas davon. Für die allermeisten enden die Zukunftshoffnungen in einer kleinen Vorstadt mit schlecht bezahlten Jobs und der Angst, im Alter keine ausreichende Rente zu erhalten.

Auf dem polnischen Arbeitsmarkt hat die aktuelle Emigrationswelle einen Facharbeitermangel entstehen lassen, der auch bei Wirtschaftswissenschaftlern die Alarmglocken läuten lässt. Es sind die Jungen, Flexiblen und zu einem Teil auch die gut Ausgebildeten, die ihrer Heimat den Rücken kehren. Von der Baubranche bis zum Gesundheitswesen fehlen qualifizierte polnische Kräfte. "Die Hälfte der größeren Firmen meldet Schwierigkeiten, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden", heißt es in einer Studie des "Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche" (WIIW) zur Lage in Polen. "28% der Unternehmen vermelden mehr oder weniger ständige Freistellen." Neben der Emigration ist dafür auch die schlechte Ausbildung in den vergangenen zwei Jahrzehnten verantwortlich. Die westlichen Investoren haben schlicht das unter den Kommunisten gut ausgebildete Proletariat abgeschöpft, ohne weiterhin für adäquate Berufsausbildung zu sorgen. "Vor zehn Jahren hat man im Kattowitzer Revier alle Bergwerkslehrstätten geschlossen", gibt Boguslaw Zietek von der radikalen, linken oberschlesischen Gewerkschaft "Sierpien 80" ein Beispiel, dass es auch staatlicherseits kein Geld und wenig Interesse an Berufsausbildung gegeben hat. "Erst im Jahr 2005 ist wieder eine Fachschule für Kumpel eröffnet worden.


"Ausschütteln" der Landbevölkerung

Mangelnde Facharbeiter sollten, wie im System von Angebot und Nachfrage üblich, zu höheren Löhnen führen. Dies ist allerdings in Polen - nicht zuletzt wegen der schlechten Organisationsdichte der Arbeiter - nur sehr ansatzweise zu beobachten. Auch das WIIW ortet in steigenden Löhnen nur geringe Probleme für Investoren: "Überraschender Weise sind höhere Löhne nur für 5% der befragten Unternehmen problematisch". Das mag auch daran liege, dass der Druck auf die Löhne nach wie vor substantiell Richtung unten ausgeübt wird. Zuständig dafür ist eine Vorgabe der Europäischen Union, nach der Polen angehalten ist, seinen landwirtschaftlichen Bevölkerungsanteil von derzeit 28% zu "europäisieren", sprich: zu reduzieren. Die wirtschaftliche Fachwelt hat dafür den zynisch klingenden Begriff eines "shaking out" geprägt, also eines "Ausschüttelns" von Millionen Polinnen und Polen - von ihrer Scholle auf den Arbeitsmarkt. Auf dass auch weitere Generationen dazu angehalten sind, westeuropäische Arbeitsmärkte mit billigen und willigen Kräften zu versorgen.


Von Hannes Hofbauer erscheint im Oktober 2007
eine erweiterte Ausgabe seines Buches
"EU-Osterweiterung. Historisch Basis - ökonomische
Triebkräfte - soziale Folgen" (Promedia Verlag)


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Quelle:
guernica Nr. 3/2007, Juni/Juli 2007, Seite 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2007