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INTERVIEW/041: Irlands neuer Widerstand - Neue Fronten, alte Kämpfe ...    Diarmuid O'Flynn im Gespräch (SB)


Interview mit Diarmuid O'Flynn, Ballyhea, 28. Mai 2015


Ballyhea ist ein Dorf im Norden der irischen Grafschaft Cork, das so klein ist, daß es nicht einmal eine Kneipe, sondern lediglich eine Kirche und eine Tankstelle vorweisen kann. Nichtsdestotrotz ist Ballyhea über Irland hinaus bekannt geworden, weil seine Einwohner seit dem 6. März 2011 jeden Sonntag mit einem Protestmarsch gegen die Übernahme der immensen Schulden der 2008 ins Schleudern geratenen irischen Banken durch den Staat protestieren. Hauptinitiator der Kampagne "Ballyhea Says No" ist der Journalist Diarmuid O'Flynn. Mit ihm sprach der Schattenblick am 28. Mai in Ballyhea.


Diarmuid O'Flynn im Porträt mit Brille, braunem Haar und Schnurrbart - Foto: © 2015 by Schattenblick

Diarmuid O'Flynn
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick: Herr O'Flynn, könnten Sie uns etwas über Ihren politischen Hintergrund und wie Sie dazu kamen, die Gruppe Ballyhea Says No zu gründen, erzählen?

DO'F: Mein Vater war Lehrer. Ich bin in Ballyhea aufgewachsen, habe mit 16 Jahren mein Abitur gemacht und bin anschließend nach London gegangen, wo ich für ein paar Jahre als Buchhalter gearbeitet habe. Es hat mir aber nicht gefallen. Also bin ich nach Irland zurückgekehrt und habe mich zum Bauingenieur und Landvermesser ausbilden lassen. In den darauffolgenden zwanzig Jahren habe ich in der Bauindustrie in Irland, den USA und im Nahen Osten gearbeitet. In dieser Zeit habe ich mich wenig für Politik interessiert. Wann immer ich aber zuhause in Irland war, habe ich bei Kommunal- und Parlamentswahlen gewählt - mehr nach Kandidaten als nach Parteien. Nebenher habe ich die herkömmliche Berichterstattung in der Zeitung, im Radio und Fernsehen verfolgt, ohne sie jedoch besonders zu hinterfragen.

1987, als ich mich in den USA aufhielt, habe ich angefangen, Artikel für die Zeitung Irish Voice zu schreiben. Wenngleich es sich nur um Berichte über gälische Fußball- und Hurling-Spiele an der Ostküste der USA handelte, merkte ich doch, daß man mit dem Stift einen gewissen Einfluß auf die Dinge nehmen kann. Anfang der neunziger Jahre, nachdem ich nach Irland zurückgekommen war, um hier auf dem Bau zu arbeiten, wandte ich mich nebenbei wieder dem Sportjournalismus zu. Als Freiberufler habe ich für die in Cork erscheinende Tageszeitung Irish Examiner Artikel geschrieben.

In Irland herrschten damals noch schwere Zeiten. Ich habe als Landvermesser nur Teil-, aber nicht Vollzeit arbeiten können. Das Geld, das ich in den USA angespart hatte, um hier ein Haus zu bauen und eine neue Existenz zu gründen, war schnell aufgebraucht. Also sah ich mich 1994 gezwungen, meine Frau Siobhán und die Kinder hierzulassen und zurück auf den Bau in die USA zu gehen. Bevor ich abreiste, habe ich meinen ersten politischen Artikel im Examiner veröffentlicht. Darin beklagte ich die Lage in Irland, die mich quasi wieder zur Auswanderung gezwungen hatte, wie auch die Tatsache, daß wenige Wochen zuvor die sozialdemokratische Labour Party entgegen ihrem Wahlversprechen eine Regierung mit der nationalkonservativen Partei Fianna Fáil gebildet hatte. Ich bin nicht jemand, der nach dem Links-Rechts-Schema denkt. Für mich hatte die Labour-Partei einfach ihre eigenen Wähler betrogen und das brachte ich im besagten Artikel zum Ausdruck.

Danach folgte die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich habe eine winzig kleine Wohnung in New York bezogen und wie ein Blödmann gearbeitet - häufig mehr als 100 Stunden die Woche. Von meiner Frau und meinen beiden Töchtern in Irland getrennt zu sein, war unheimlich schwer. Aber ich mußte es machen. Ich sah keine andere Möglichkeit, um meine Familie durchzubringen. Doch wie es im Sprichwort heißt, hatte die dunkle Wolke immerhin einen Silberstreifen. Mein "Abschiedsbrief" im Irish Examiner war bei den Lesern auf so viel Resonanz gestoßen, daß die Redaktion mich bat, für sie eine wöchentliche Kolumne zu schreiben. Das tat ich dann auch. Die Kolumne hieß "The Big Apple" und lieferte Einblicke in das Leben eines irischen Einwanderers in New York und den USA.

1996 kehrte ich aus Amerika zurück und übernahm eine Stelle bei einer Baufirma hier in der Gegend. Gleichzeitig schrieb ich weiterhin nebenbei Artikel für den Irish Examiner. Nach etwa einem Jahr entschied ich mich dafür, zwölf Monate darauf zu verwenden, ob ich nicht als Journalist meinen Lebensunterhalt verdienen konnte, denn ich hatte bereits einen Fuß in der Tür beim Examiner. Ab dann war ich eine Art "roving reporter". Die Mobiltelefone hielten damals Einzug. Ich bekam von der Examiner-Redaktion in Cork den Auftrag, über dieses oder jenes Ereignis im Süden und Westen Irlands zu berichten, sprang ins Auto, fuhr dahin und informierte mich über die Lage vor Ort. Späten Nachmittags tippte ich den Bericht in den Computer und schickte ihn an die Zeitung. Danach arbeitete ich einige Stunden an dem Haus, das ich für meine Familie baute. Die Unregelmäßigkeit der Arbeitsaufträge beim Examiner erlaubte es mir, diese Großprojekt schneller zu realisieren, als wäre ich beim Bau gewesen. Nach einer Probephase habe ich 1998 eine Vollzeitstelle beim Examiner als Sportjournalist mit dem Spezialgebiet Hurling, das ich früher selbst gespielt hatte, erhalten.


Das von Diarmuid O'Flynn eigens gebaute, zweistöckige Haus - Foto: © 2015 by Schattenblick

Die O'Flynn-Residenz
Foto: © 2015 by Schattenblick

Als Mitglied der journalistischen Zunft habe ich also die Jahre des Keltischen Tigers erlebt. Wie viele meiner Landsleute kam ich mit den damaligen Auswüchsen - das viele Geld, die explodierenden Grundstückspreise, die Zurschaustellung von Erfolg - nur schwer zurecht. Obwohl ich nicht Wirtschaftwissenschaft studiert hatte, besaß ich genug Menschenverstand und vielleicht Erfahrung aus der Baubranche, um zu erkennen, daß das Ganze nicht lange gutgehen konnte und daß die Immobilienblase irgendwann platzen würde. Ab Herbst 2008, als der internationale Finanzcrash losging und die irische Regierung eine flächendeckende Garantie für die einheimischen Banken abgab, begann ich mich ernsthaft mit den Machenschaften in der Finanzwelt auseinanderzusetzen. Aber erst die Ankunft der Troika-Experten im Herbst 2010 in Dublin und die Zustimmung des irischen Parlaments zum sogenannten "Rettungspaket", die dem Verlust der staatlichen Souveränität gleichkam, haben mich zum Aktivisten gemacht. Damals hätte es nur einiger Abweichler in den Reihen der damaligen Regierung aus Fianna Fáil und den Grünen bedurft, um das krumme Geschäft platzen zu lassen. Ich habe an zahlreiche Abgeordnete Emails geschickt und sie aufgefordert, der Aufsicht der irischen Staatsfinanzen durch EU-Kommission, EZB und IWF nicht zuzustimmen - natürlich ohne Erfolg. Alle Regierungsabgeordnete haben dafür gestimmt und damit das "Rettungspaket" angenommen.

Die damaligen Oppositionsparteien Fine Gael und Labour haben ihrerseits bei den parlamentarischen Beratungen gegen das "Rettungspaket" gewettert und bei der Abstimmung dagegen votiert. Als sie die anschließenden Parlamentswahlen im Frühjahr 2011 haushoch gewannen, Fianna Fáil eine niederschmetternde Niederlage erlitt und die Grünen alle Sitze verloren, hegte ich eine gewisse Hoffnung, daß die neue Administration in Dublin die getroffenen Vereinbarungen abmildern oder zumindest die härtesten Maßnahmen aussetzen würde. Meine Hoffnung starb in dem Moment, als ich am ersten Freitag nach der Wahl hörte, wie der Premierminister in spe, Fine-Gael-Vorsitzender Enda Kenny, in einem Radio-Interview erklärte, die neue Regierung würde nicht die Verbindlichkeiten des Staates hinsichtlich der Bankengarantie in Frage stellen oder die Anleihegläubiger zur Kasse bitten, sondern die Gesamtschuld allein vom irischen Steuerzahler begleichen lassen.

Zu diesem Zeitpunkt tobte der sogenannte Arabische Frühling, der sich leider als arabische Katastrophe erweisen sollte. Da ich im Nahen Osten gearbeitet hatte und mit den Leuten dort sympathisierte, kam ich zu dem Schluß, daß wir eine ähnliche Massenerhebung in Irland brauchten und daß die Zeit des Verschickens von Emails vorbei war. Ich habe also bei Freunden, Verwandten und alten Spielkameraden aus meiner Hurling-Zeit herumtelefoniert, und zwei Tage nach besagtem Kenny-Radiointerview am Sonntag, den 6. März 2011, haben wir unseren ersten Protestmarsch unter dem Motto "Ballyhea Says No" veranstaltet. Seitdem gehen wir, mal mit mehr, mal mit weniger Leuten, jeden Sonntag mit derselben Forderung auf die Straße: daß die einfachen Steuerzahler den Preis für die Fehler der irischen Banken nicht bezahlen dürfen und daß statt dessen diese Schulden gestrichen oder anderweitig geregelt werden müssen.

Anfangs dachte ich, wegen meiner Kontakte zur Presse würde sich unsere Aktion wie ein Lauffeuer in ganz Irland ausbreiten. Trotz einer gewissen Medienresonanz geschah dies leider nicht. Einige Ortschaften in der Umgebung machten mit, von denen einzig Charleville, die Kleinstadt vier Kilometer nördlich von Ballyhea, bis heute dabeigeblieben ist. Seit einiger Zeit finden die Märsche in Ballyhea und Charleville als gemeinsame Veranstaltung statt. Durch den Einstieg der Leute aus Charleville entwickelte sich die "Ballyhea Says No"-Aktion vom Protestmarsch zu einer regelrechten politischen Kampagne, die über das reine Marschieren jeden Sonntag weit hinausgeht.


Gelbes, architektonisch schlichtes Kirchenschiff; davor eine Verkehrsampel mit Fußgängerüberweg - Foto: © 2015 by Schattenblick

Die katholische Kirche in Ballyhea
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Anlaß des ersten "Ballyhea Says No"-Protestmarsches war die Tatsache, daß die Schuldscheine der pleite gegangenen irischen Banken in voller Höhe vom Staat beglichen werden sollten. Sie haben zum Thema Schuldscheine, unter anderem auf Ihrem Blog, viel geschrieben. [1] Könnten Sie uns deren Bedeutung im Kontext der irischen Bankenrettung erläutern?

DO'F: Der Preis der Rettung der irischen Banken - bereits bezahlte oder laufende Zinsen et cetera nicht inbegriffen - beziffert sich für den Staat auf 69,7 Milliarden Euro. Am sittenwidrigsten an den ganzen Verbindlichkeiten sind die Schuldscheine der Anleihegläubiger. Alle irischen Banken waren 2008 insolvent, aber nur zwei davon, die Bank of Ireland und Allied Irish Bank, waren das, was man systemrelevant nennt, und mußten unbedingt gerettet werden. Das traf aber nicht auf die Nationwide Bank und vor allem nicht auf die Anglo Irish Bank zu, die den größten Schuldenberg angehäuft hatte und quasi das private Finanzhaus von Irlands Baumagnaten und sonstigen Schwerreichen war. Beide Geldhäuser hätte man am besten ganz regulär in den Konkurs gehen lassen sollen, um den Staat bzw. die große Masse seiner Bürger vor Schaden zu bewahren.

2010 lief die ursprüngliche Garantie für die irischen Banken aus, doch diese steckten immer noch voll in der Schuldenfalle. Vor allem Anglo Irish und Irish Nationwide waren insolvent und hätten nach der European Liquidity Assistance (ELA) niemals Hilfe erhalten dürfen. Und dennoch wurde es gemacht, weil sich die EZB angesichts dessen, was die Lehmann-Pleite 2008 alles angerichtet hatte, an die Leitlinie klammerte, daß keine europäische Bank bankrott gehen dürfe. Die EU hatte demnach einen Kurs, den sie in der Krise fahren wollte, aber nicht die für eine vernüntige Bewältigung notwendigen Strukturen geschaffen. Das eigentliche Problem war der Euro, der als Einheitswährung für die verschiedenen Nationalökonomien ungeeignet war und dessen Einführung über kurz oder lang zu schweren Verwerfungen führen mußte. Um das Geld für Anglo Irish und Irish Nationwide aus der ELA beziehen zu können, mußte der irische Staat extra Schuldscheine als eine Art Garantie emittieren. Das hätte niemals passieren dürfen, und daher rührt auch das Argument, daß diese Schuldscheine eine sittenwidrige Schuld darstellen. Im Verlauf jenes Jahres hat die Irische Zentralbank mehrere Tranchen an Schuldscheinen zur Rettung von Anglo Irish und Irish Nationwide in einer Gesamthöhe von 31 Milliarden Euro herausgegeben.

Bei "Ballyhea Says No" haben wir Verständnis dafür, daß eine Krise herrschte, die außer Kontrolle zu geraten drohte, weshalb man entschieden hat, alle irische Banken zu retten. Was wir aber nicht akzeptieren, ist, daß die Anleihegläubiger, die mit ihren Kaufentscheidungen spekuliert haben, in voller Höhe ausgezahlt werden, während die einfachen Bürger die Gesamtkosten der Bankenrettung aufgebürdet bekommen. Für uns ist das eine völlig ungerechte und daher nicht hinnehmbare Lastenaufteilung. 2010 waren Anglo Irish und Irish Nationwide kein rein irisches Problem mehr, sondern ein gesamteuropäisches. Die EZB hatte die Entscheidung getroffen, sie nicht untergehen zu lassen. Um sie zu retten, hat man die Irische Zentralbank Schuldscheine drucken lassen. Doch dieser technische Kniff wird seitdem benutzt, um das irische Volk finanziell zu knechten. Bis zum Jahr 2032 wird die Irische Zentralbank diese Schuldscheine zurückkaufen und gleich vernichten müssen. Diesem Wahnsinn müssen wir ein Ende setzen.

SB: Wie schätzen Sie die Chancen ein, diesen laufenden Prozeß noch zu stoppen und den größten Teil der Schulden einfach abzuschreiben bzw. den Anleihegläubigern zu überlassen?

DO'F: Das kann ich schwer beurteilen. Aber eines ist sicher: Wenn wir nicht darum kämpfen, werden sich die Dinge einfach fortsetzen wie bisher. Eine skandalöse Tatsache, die wir von "Ballyhea Says No" bei unseren Gesprächen mit Vertretern der EU-Kommission, der EZB und des IWF, herausgefunden haben, ist, daß die irische Regierung allen gegenteiligen Behauptungen von Premierminister Kenny und Finanzminister Michael Noonan zum Trotz noch nie die Frage eines Schuldenschnitts bei den ausländischen Partnern gestellt hat. Kein einziges Mal! Über soviel Nachgiebigkeit und Mangel an Kampfeswillen wundern sich selbst die Verhandlungsführer der Gegenseite.

Nach der letzten Vereinbarung zwischen Noonan und der Troika liegen Schuldscheine in Höhe von 27 Milliarden Euro bei der Irischen Zentralbank, die bis 2032 alle verkauft werden sollen. Sobald eine Tranche verkauft wird, wird das eingenommene Geld gleich wieder aus dem Umlauf genommen, indem es vernichtet wird.

SB: Könnten Sie das einmal erklären?

DO'F: Ich weiß, es klingt verrückt, aber so sieht die technische Abmachung zwischen Irischer Zentralbank und der EZB aus. Das Geld, das die EZB Irland sozusagen vorgestreckt hat, um die Anleihegläubiger auszuzahlen, muß später wieder vernichtet werden, damit es für keinen anderen Zweck verwendet werden kann. Als ich dies vor kurzem Sean Kelly, einem EU-Abgeordneten aus Premierminister Kennys Fine-Gael-Partei, versucht habe zu erklären, konnte er diesen Geld-Beschaffungs-und-Wiedervernichtungsprozeß nicht begreifen. Es ging ihm einfach nicht in den Kopf. Bei einem Treffen der "Ballyhea Says No"-Gruppe vor einiger Zeit mit dem amtierenden Chef der Irischen Zentralbank, Patrick Honohan, habe ich diesen dazu gezwungen, den Geldvernichtungsprozeß zuzugeben. Statt von Vernichtung zu sprechen, sagte Honohan, das Geld würde "erloschen" werden. Die beiden unabhängigen Parlamentsabgeordneten Peter Mathews aus South Dublin und Stephen Donnelly aus Wicklow, die dabei waren und beide beruflich aus der Finanzwelt kommen, konnten ihren Ohren nicht trauen.

Nach Meinung der Mitglieder der Gruppe "Ballyhea Says No" hätten EU-Kommission und EZB, sobald die unmittelbare Gefahr eines Kollapses von Anglo Irish und Irish Nationwide vorbei war, die Verantwortung für die rund 30 Milliarden Euro Schulden übernehmen müssen. Sie behaupten, sie konnten dies wegen irgendwelcher Finanzregeln und -abkommen nicht machen. Aber wenn es ihnen möglich war, die Regeln zu ignorieren, um zwei insolventen Banken Geld zu leihen, warum sollen sie es jetzt in diesem Fall nicht machen können? Offenbar war es ihnen damals wichtiger, den beiden Banken ihre Schulden von 31 Milliarden Euro abzunehmen, als heute das irische Volk von derselben Last zu befreien. Das zeigt natürlich, wo die Prioritäten bei der EU-Kommission und EZB liegen. Dieser Prozeß der Geldvernichtung findet heute noch statt und wird noch Jahrzehnte weiterlaufen. Man könnte denken, daß das Geld nicht echt ist. Vielleicht stimmt das. Jedenfalls sind die Schulden, die das irische Volk wegen dieser ganzen Finanztricksereien zurückzahlen muß, echt.

Während Milliarden Euro an Steuergeldern im Grunde zum Fenster hinausgeworfen werden, um die Schulden privater Banken zu bedienen, hat die knappe Staatskasse und die Wirtschaftsmisere zur Folge, daß das öffentliche irische Gesundheitssystem durch die Schließung von Krankenhäusern und -stationen in einem katastrophalen Zustand ist, in den letzten Jahren mehrere Hunderttausend junger Menschen auf der Suche nach Arbeit ausgewandert sind, Kürzungen im Bildungsetat das Schulsystem zugrunde richten und soziale Hilfeleistungen etwa für alleinerziehende Mütter oder behinderte Kinder zurückgefahren werden. Den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft wird die staatliche Hilfe verweigert, während man gleichzeitig den Finanzjongleuren riesige Mengen an Steuergeld hinterherwirft. Es ist ein fortlaufender Skandal. Alle paar Monate werden Gelder, die man an anderer Stelle in der Gesellschaft dringend bräuchte, vernichtet, ohne daß man in den regulären Medien etwas darüber hört. Die Regierung hängt das auch nicht an die große Glocke. Darum gehen wir weiterhin jeden Sonntag zwischen Ballyhea und Charleville auf die Straße, um auf diese Ungeheuerlichkeit aufmerksam zu machen.

SB: Wie kam es dazu, daß Sie Mitarbeiter von Luke "Ming" Flanagan in Brüssel wurden?

DO'F: In Verbindung mit der "Ballyhea Says No"-Kampagne sowie den verschiedenen Protesten gegen die Vernachlässigung der ländlichen Kommunen bin ich Luke häufiger begegnet. Unsere Kampagne hat in den letzten vier Jahren starke Unterstützung von den Mitgliedern der linken Fraktion im irischen Parlament, der sogenannten Technical Group, erfahren. In dem Zusammenhang hat sich Luke besonders hervorgetan, vielleicht, weil er selbst vom Land, nämlich aus der Grafschaft Roscommon, kommt. Er kam bereits ein paarmal sonntags nach Ballyhea und ist mitmarschiert.

Bei den Europawahlen 2014 habe ich mich als unabhängiger Kandidat für den Bezirk Irland Süd aufgestellt. Meine Kampagne war nicht erfolgreich, denn weder ich noch meine Unterstützer hatten Geld für Plakate oder Flyer und Erfahrung darmit, wie man einen Wahlkampf führt. Außerdem wurde meine Kandidatur von den Medien zugunsten der Vertreter der etablierten Parteien weitgehend ignoriert. Dennoch habe ich gar nicht so schlecht abgeschnitten. Nach der Auszählung der Erststimmen lag ich auf dem vierten Platz - in einem Wahlbezirk mit vier Sitzen. Erst bei der zehnten und letzten Runde der Auszählung der Zweit- und -Drittstimmen der bereits ausgeschiedenen Kandidaten habe ich den Einzug ins EU-Parlament knapp verfehlt.

Wenige Tage nach der Wahl traf ich Luke, der im Bezirk Irland Nordwest eines der vier Mandate dort gewonnen hatte. Da wir uns kennen, habe ich ihn gebeten, ob er mir Bescheid geben könnte, wenn er in Brüssel von irgendwelchen Posten in der EU-Bürokratie erführe, um die sich meine Tochter, die aus Amerika zurückkommen wolle, bewerben könnte. Daraufhin sagte er mir, er überlege ohnehin, einem der O'Flynns einen Posten anzubieten. Ich war völlig perplex, bis er mir eröffnete, daß er mich meinte, weil er mich schätze und mich wegen meiner verschiedenen Berufserfahrungen und meiner inzwischen angewachsenen Kenntnisse bezüglich finanztechnischer Zusammenhänge an seiner Seite gut gebrauchen könnte. Also habe ich ein Abfindungspaket mit dem Irish Examiner ausgehandelt und einige Monate nach Beginn der neuen Legislaturperiode im EU-Parlament begonnen, mit Luke zusammenzuarbeiten.


Diarmuid O'Flynn im gemütlichen Rattansessel, gestikulierend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Nach Ihren bisherigen Erfahrungen in den Institutionen und Gesprächen mit den dortigen Mitarbeitern und Abgeordneten in Brüssel und Strasbourg: Wie stark ist das Bewußtsein dort für den überproportional großen Beitrag, den Irland bzw. der irische Steuerzahler zur Bewältigung der europäischen Bankenkrise geleistet hat?

DO'F: Es ist gar nicht vorhanden. Selbst in der Fraktion der nordischen Linken, der Luke angehört, weiß praktisch niemand etwas von der Explosion der irischen Staatsschulden infolge der Bankenrettung. Alle bei der EU starren gebannt auf die Ereignisse in Griechenland, die zugegeben höchst beunruhigend sind. Das Schicksal Irlands interessiert niemanden - bis auf die Iren natürlich. Im EU-Parlament glauben alle, daß in Irland alles wieder im Lot ist. Sie haben keine Ahnung, welche verheerenden Folgen die Austeritätspolitik in Irland hat. Fälschlicherweise gehen sie davon aus, daß die Iren die ihnen aufoktroyierten fiskalischen Maßnahmen widerspruchslos hinnehmen. Die linken irischen Abgeordneten haben alle Hände voll damit zu tun, unsere Verbündeten in Brüssel und Strasbourg vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Beispiel, das Luke und ich immer wieder anführen, ist die neue Haushaltssteuer, die nach der Einführung 2012 zunächst von rund der Hälfte der Betroffenen boykottiert wurde. Seit Anfang 2014 kommt es in Irland aus Protest gegen die neuen Wassergebühren und den Versuch, flächendeckend Wasserzähler zu installieren, zu zivilem Ungehorsam in einem historischen Ausmaß. Die ganze Insel ist quasi im Aufruhr. Doch davon bekommen die EU-Parlamentarier wegen der einseitigen Berichterstattung der Mainstream-Medien Irlands und der Schönrednerei der Dubliner Regierung nichts mit.

SB: Wie schätzen Sie angesichts der Ahnungslosigkeit der allermeisten EU-Abgeordneten über die Verhältnisse in Irland die Relevanz der Beratungen des europäischen Parlaments bezüglich der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise ein, die aktuell Griechenland im Würgegriff hat?

DO'F: Als relativ gering. Das Parlament ist eine von sieben Hauptinstitutionen der EU. Sie muß die einzige Volksversammlung der Welt sein, in der die Abgeordneten nicht selbst Gesetzesinitiativen einbringen können. Das Parlament debattiert über Gesetzesentwürfe, die von der EU-Kommission kommen. Es kann seinerseits Änderungsvorschläge machen, welche die EU-Kommission nach eigenem Gutdünken berücksichtigt oder auch nicht. Damit solche Vorschläge Wirkung haben, braucht man aber entsprechende Mehrheiten unter den Abgeordneten. Das zu erreichen ist für die kleineren Fraktionen mehr oder weniger unmöglich. Gehör bei der Kommission verschaffen sich lediglich die beiden größten Fraktionen der Sozialdemokraten und der konservativen Europäischen Volkspartei. Letztere Bezeichnung müßte der größte Etikettenschwindel aller Zeiten sein, weil sich hinter der EVP nichts anderes als die Partei der europäischen Großkonzerne verbirgt. Im EU-Parlament, sowohl im großen Sitzungssaal als auch in allen Ausschüssen, herrscht eine große Koalition aus Sozialdemokraten und EVP, die alle anderen Fraktionen an die Wand drückt, was der Demokratie natürlich Hohn spricht. Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, bei dem die Konzernlobbyisten weit mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten als die einfachen Abgeordneten haben.

SB: Als Luke letztes Jahr seine Entscheidung bekanntgab, für das europäische Parlament zu kandidieren und im Falle eines Erfolgs auf sein Mandat im irischen Unterhaus zu verzichten, erklärte er abfällig, er habe sich lange genug in Dublin mit dem Affen herumgeschlagen, er wolle sich nun den Leierkastenmann in Brüssel vorknöpfen. Doch so, wie Sie die Dinge schildern, könnte der Wechsel für Luke umsonst gewesen sein. In welchem Forum könnte ihrer Einschätzung nach der einzelne Europäer als Abgeordneter mehr Wirkung erzielen: in seiner nationalen Volksversammlung oder im EU-Parlament?

DO'F: Ich würde die Frage anders formulieren: In welchem der beiden Parlamente ist man weniger ineffektiv? Nun, in beiden kann man wenig ausrichten, solange man nicht einer der großen Fraktionen angehört. Dessen ungeachtet läßt sich nicht bestreiten, daß die wichtigeren und bedeutungsvolleren Gesetzesinitiativen aus Brüssel kommen. Als EU-Abgeordneter kann man daher die neuen Gesetzesentwürfe frühzeitig einsehen, ihre Inhalte publik machen und auf europäischer Ebene eine öffentliche Debatte darum in Gang setzen. Das sehen wir zum Beispiel an der lebhaften Diskussion um das geplante, sehr weitgehende transatlantische Freihandelsabkommen zwischen EU und USA namens TTIP. Obwohl die Verhandlungen gänzlich hinter verschlossenen Türen stattfinden, haben die Abgeordneten der kleineren linken und rechten Fraktionen im EU-Parlament diesen Vertrag, der einige umstrittene Passagen enthält, etwa über die Schaffung von geheim tagenden Sondergerichten, um Klagen der Großkonzerne gegen nationales Recht anzuhören, thematisiert und eine große gesellschaftliche Debatte darüber ausgelöst.

Zu Recht wird kritisiert, daß sich die EU, die Parlamentarier eingeschlossen, zu sehr mit Nebensächlichkeiten wie der zulässigen Krümmung der Gurke befassen. Luke hat es sich auf die Fahne geschrieben, hauptsächlich bei den großen Themen wie zum Beispiel der ungerechten Verteilung der Lasten der Finanz- und Wirtschaftskrise eine progressiv-kritische Stimme in allen Foren zu erheben - sei es im Parlamentssaal, in den Ausschüssen oder bei anderen Veranstaltungen, und das Ergebnis anschließend in den sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder auf Youtube zu posten. Diese Art Guerilla-Taktik wandte Luke heute morgen wieder an, als er den irischen Handelsminister Richard Bruton bei einem Auftritt in der irischen Vertretung in Brüssel vor der Presse mit unangenehmen Fragen über TTIP in peinliche Verlegenheit brachte.

SB: Doch wieviel Notiz nimmt die Öffentlichkeit, sei es in ganz Europa oder Irland, von einem solchen Zwischenfall? Die irische Presse hat häufig über Lukes kritische Wortbeiträge im Dubliner Parlament zur Regierungspolitik, etwa zu der Zentralisierung der Wasserversorgung in Irland und der Einführung von Wassergebühren, berichtet. Im irischen Parlament haben in den letzten Jahren seine Abgeordnetenkollegen aus den linken Oppositionsreihen wie Clare Daly und Mick Wallace das Thema der Polizeikorruption groß herausgebracht und immerhin den Rücktritt des Justizministers Alan Shatter und des Polizeipräsidenten Martin Callinan bewirkt. Derzeit sorgt Catherine Murphy durch pikante Details zum Verkauf der Firma Siteserv unter Wert durch die irische Bad Bank IBRC an den Milliardär Dennis O'Brien und deren anschließenden Erhalt eines behördlichen Großauftrags zur Installierung von Wasserzählern im Großraum Dublin und Hinterland für einen gigantischen Skandal. Wir können uns nicht erinnern, wann ein EU-Abgeordneter oder eine EU-Abgeordnete jemals eine Affäre von solcher Tragweite ausgelöst hat.

DO'F: Der Einwand ist berechtigt. Dennoch dürfen wir die Bedeutung der sozialen Medien, welche die traditionellen Sprach- und Landesgrenzen der traditionellen Presse sprengen und vor allem von der jüngeren Generation bevorzugt werden, nicht unterschätzen. Luke hat zum Beispiel 2014 ein sehr emotionales Stück über den nächtlichen Besuch in der Notaufnahmestation im Roscommon County Hospital mit seiner erkrankten Tochter in den sozialen Medien gepostet. Darin verglich er die Zustände dort - mit zahlreichen Verletzten, die seit Stunden darauf warteten, daß sich ein Arzt um sie kümmert, und den nicht wenigen Erkrankten auf Behelfsbetten im Flur - mit einem "Schlachtfeld". Dieser Artikel ist allein auf Facebook von mehr als 900.000 Menschen gelesen worden. Die Videoberichte, die er ins Internet stellt, schauen sich zum Teil mehr als 100.000 Menschen an. Auf die Weise erzeugt er seine eigene Öffentlichkeit, die sich über die von ihm behandelten Themen informieren läßt und Lukes Ideen weiter in die Gesellschaft trägt.


Ländliche Tankstelle mit nur zwei Tanksäulen, davor einige Autos - Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Tankstelle in Ballyhea
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Also benutzt Luke das Forum, das ihm das EU-Parlament bietet, um das europäische Projekt als Ganzes in Frage zu stellen und die Macht der dahinterstehenden Großkonzerne anzuprangern. Könnte man die Vorgehensweise vielleicht so beschreiben?

DO'F: Das trifft es, würde ich sagen. Wir versuchen im Parlament auch Allianzen zu schmieden, die unsere eigene Regierung längst hätte schmieden sollen. Ich meine nicht nur mit linken Abgeordneten aus den südeuropäischen Staaten Spanien, Italien und Griechenland, sondern auch aus den nördlichen Staaten wie Deutschland und Dänemark. Aufgrund der allgemeinen Berichterstattung hat man den Eindruck, die Deutschen stünden dem Schicksal der Griechen unsolidarisch gegenüber, sie würden am liebsten die südlichen Nachbarn aus der EU verstoßen, um nicht selbst zur Kasse gebeten zu werden. Das ist völliger Quatsch. Alle Deutschen, mit denen Luke und ich in Brüssel und Strasbourg sprechen, haben vollste Sympathie mit der griechischen Bevölkerung und sind sich im klaren darüber, daß die Schuldenproblematik auf dem Mist der reichen Oligarchen sowie der internationalen Banken gewachsen ist. Auch bei den deutschen Gewerkschaften macht man sich über die steigende Macht der Konzerne infolge der EU-Konsolidierung nichts vor und überlegt sich Mittel und Wege, sie wieder zu beschneiden.

In letzter Zeit kamen wir häufiger mit Leuten aus den baltischen Staaten und aus Slowenien zusammen, die uns von der Entstehung linker Podemos- und Syriza-ähnlicher Formationen in ihren Ländern berichteten. Von daher denke ich schon, daß es sich für einen irischen Volksvertreter, der politisch etwas verändern will, mehr lohnt, in Brüssel als in der hermetisch abgeriegelten Kapsel in der Kildare Street zu sein. Luke hat kein Interesse daran, in Hinterzimmern Deals auszuhandeln. Er ist eher ein Mann der Massen, der gern öffentliche Veranstaltungen besucht, dort auftritt und sich mit dem Publikum und den anderen Disputanten auseinandersetzt. Das ist seine Idee von Demokratie. Derlei Gelegenheiten nutzt er auch, um für einen Schuldenerlaß für Irland zu werben. Nächste Woche fliegen wir nach Griechenland, wo Luke auf einem Treffen der europäischen Linken über die Lage in Irland im Kontext der internationalen Schuldenkrise referieren wird.

SB: Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund Ihres Einblicks in die Brüsseler Politik den Umgang der europäischen Institutionen - allen voran die EU-Kommission und die EZB sowie die kontinentalen Großmächte, hauptsächlich Deutschland - mit der linken Syriza-Regierung seit ihrem Sieg bei der griechischen Parlamentswahl Ende Januar?

DO'F: Es ist absolut skandalös. Deutschland und die EU-Oberen versuchen die Syriza-Regierung zu stürzen, weil letztere eine Lockerung der Austeritätsbedingungen, welche die Vorgängeradministrationen in Athen mit der Troika im Rahmen früherer Rettungspakete ausgehandelt hatten, durchsetzen will. Jeder weiß, daß die Hilfsgelder nicht der griechischen Bevölkerung, sondern hauptsächlich deutschen und französischen Banken zugute kamen, die sich bei Investitionen und diversen Infrastrukturprojekten in Griechenland zu weit aus dem Fenster gelehnt und sich damit verkalkuliert hatten. Berlin, Frankfurt und Brüssel wollen das Ergebnis der Parlamentswahl in Griechenland nicht akzeptieren und sich über das Votum der Bevölkerung hinwegsetzen. Das ist vollkommen antidemokratisch. Indem die Griechen mit großer Mehrheit für Syriza stimmten, haben sie die Bedingungen der früheren Rettungspakete als inakzeptabel abgewiesen. Die internationalen Institutionen wollen das nicht hinnehmen und unternehmen daher alles, um die Syriza-Regierung entweder zu Fall oder zum Einlenken zu bringen.

Dabei haben Berlin und die Troika ein großes Glaubwürdigkeitsproblem, denn nach herkömmlichen ökonomischen Kriterien erzielt die Austeritätspolitik nicht die erwünschte Wirkung. Die griechische Wirtschaft schrumpft weiter. Unter Volkswirtschaftlern besteht kein Zweifel mehr, daß die griechischen Staatschulden in der aktuellen Höhe nicht zu tilgen sind. Der griechische Staat ist damit hoffnungslos überfordert. Doch die Entscheidungsträger in Brüssel, Frankfurt und Berlin wollen das nicht zugeben, weil sie sonst einräumen müßten, daß der Kurs, den sie seit Jahren in der Schuldenkrise nicht nur im Fall Griechenlands, sondern auch Irlands, Spaniens, Portugals und Maltas verfolgen, falsch war und ist. Davor schrecken sie aus Angst zurück, denn ein solches Zugeständnis könnte Podemos zum Sieg bei den bevorstehenden Parlamentswahlen in Spanien verhelfen.

SB: Auch in Irland stehen demnächst Parlamentswahlen an, die entweder Ende dieses Jahres oder Anfang 2015 stattfinden werden. Die Parteien befinden sich bereits im Wahlkampffieber. Der Trend in den Umfragen deutet darauf hin, daß die amtierende Regierung aus Fine Gael und Labour ihre absolute Mehrheit verlieren wird. Auch wenn klar ist, daß Sinn Féin und die kleinen linken Parteien zulegen werden und es noch mehr unabhängige Abgeordneten geben wird, kann niemand derzeit sagen, wie die künftige Regierungskonstellation aussehen wird. Als mögliche Szenarien werden eine große, eher rechtskonservative Koalition aus Fine Gael und Fianna Fáil und eine Koalition der nationalistischen Mitte zwischen Fianna Fáil und Sinn Féin, die möglicherweise über keine eigene Mehrheit verfügen wird und deshalb auf die Unterstützung parteiunabhängiger Abgeordneter angewiesen wäre, gehandelt. Was kann die irische Linke vor diesem Hintergrund aus den Erfahrungen von Syriza, sowohl mit Blick auf den Wahlkampf als auch auf den Auftritt gegenüber der EU-Kommission, EZB und IWF lernen?

DO'B: Als erstes sollte man meines Erachtens langsam Abschied von dem Links-Rechts-Schema nehmen, das meines Erachtens überholt ist. Ich habe nichts gegen marxistische Theorie, die sich als Methode der Analyse erwiesen hat, doch die Sprache und die Begriffe, welcher sich eingefleischte Kommunisten und Sozialisten bedienen, stammen fast gänzlich aus dem 19. Jahrhundert und sagen den meisten Menschen heutzutage nichts mehr. Denn die Menschen, die man erreichen will, leben unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Man muß auf die Lebenswirklichkeit der einfachen Leute eingehen und sich nicht hinter irgendwelchen Ismen verbergen. Die Linke neigt im allgemeinen zur Moral und zur Rechthaberei, weshalb sie in zahlreiche Gruppen gespalten ist.

Diejenigen, die eine soziale und gerechte Gesellschaft errichten wollen, sollten eigentlich bestrebt sein, alle Kräfte, die ebenfalls dieses Ziel verfolgen, zu vereinen und Allianzen mit anderen, notfalls auch konservativen Gruppen zu schmieden. So hat es die Sammelbewegung Syriza in Griechenland und Podemos, die aus den Indignados hervorging, in Spanien gemacht. Wenn man wirklich politisch unabhängig ist wie Luke und ich, dann braucht man sich von niemandem den Stempel links oder rechts aufdrücken zu lassen. Ich bin streng katholisch erzogen, habe mich aber mit dreizehn, vierzehn Jahren von der Kirche losgesagt. Seitdem bin ich nicht mehr bereit, mich irgendeinem Dogma zu unterwerfen. Nichtdestotrotz verwerfe ich weder die katholische Soziallehre, die viel Gutes enthält, noch die Ideen von Marx oder den nachfolgenden linken Theoretikern. In der heutigen Welt ist kreatives Denken und das Hinterfragen tradierter Konzepte gefragt.

SB: Danke sehr, Diarmuid O'Flynn für das Gespräch.


Ortschild Ballyhea an der Landstraße zwischen Limerick und Cork - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ballyhea läßt grüßen
Foto: © 2015 by Schattenblick



Fußnoten:

[1] thechatteringmagpie14.blogspot.de

Bisherige Beiträge zur irischen Protestwelle im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

BERICHT/015: Irlands neuer Widerstand - Alte Nöte, junger Kampf (SB)
INTERVIEW/035: Irlands neuer Widerstand - dem Kapitalvampirismus ein Ende bereiten ...    Michael Taft im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: Irlands neuer Widerstand - Widerstand der Zukunft ...    Mick Wallace im Gespräch (SB)
INTERVIEW/037: Irlands neuer Widerstand - Wer sich notbewegt politisch regt ...    Aisling Hedderman im Gespräch (SB)
INTERVIEW/038: Irlands neuer Widerstand - Eigentum und Häuserkampf ...    Joe Conlon im Gespräch (SB)
INTERVIEW/039: Irlands neuer Widerstand - Sand im Getriebe ...    Byron Jenkins im Gespräch (SB)
INTERVIEW/040: Irlands neuer Widerstand - Die Not, die Wut, die Hoffnung...    Pam Flynn & Fiona Healy im Gespräch (SB)

15. August 2015


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