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INTERVIEW/032: Sparfalle Griechenland - Notstand Psychiatrie, Christina Andreou im Gespräch (SB)


Angemessene psychosoziale Versorgung kaum noch möglich

Interview am 10. April 2014 in Hamburg-St. Pauli



Dr. Christina Andreou praktiziert als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Da sie ihre akademische Ausbildung in Thessaloniki abgeschlossen und dort von 2007 bis 2010 in ihrem Beruf gearbeitet hat, worauf sie ein Jahr am Städtischen Klinikum Braunschweig absolvierte und seit 2011 am UKE tätig ist, kennt sie die Situation der psychosozialen Versorgung in Griechenland und Deutschland aus eigener Anschauung und Praxis.

Nach der Veranstaltung "Sparkurs kann tödlich sein" am 10. April in Hamburg-St. Pauli, in der eine Delegation der Hamburger Griechenland Solidaritätsgruppe des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) über den desolaten Zustand des griechischen Gesundheitswesens berichtet hatte, beantwortete Christina Andreou dem Schattenblick einige Fragen.


Schattenblick: Deutsche Medien berichten zur Lage in Griechenland in erster Linie über die gestiegene Suizidrate und die schlechte Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung, aber wie hat sich die Situation der Psychiatrie dort seit Beginn der Krise verändert?

Christina Andreou: Zunächst einmal darf man die Versorgungssituation in der Psychiatrie, wie sie vorher war, nicht schönreden. Sie war auch früher schon nicht besonders gut. Ein Beispiel dazu: In Braunschweig, wo ich vor vier Jahren gearbeitet habe, gab es bei einer Bevölkerung von etwa 240.000 Menschen 100 stationäre Plätze für die akute Behandlung von psychiatrischen Patienten. Im öffentlichen Gesundheitssystem von Thessaloniki standen ungefähr 180-200 Betten für eine Präfektur von 1,1 Million Einwohnern (plus noch zwei anliegende Präfekturen) zur Verfügung. Seit der sogenannten Gesundheitsreform ist das Verhältnis noch schlechter geworden. In einer nahegelegenen Präfektur gab es eine einzige psychiatrische Klinik mit 12 Betten für circa 150.000 Menschen. Vor ein paar Monaten ist eine Ärztin in Rente gegangen, die wegen der Sparmaßnahmen und des Einstellungsstopps nicht ersetzt wurde. Einem anderen wurde gekündigt und noch zwei sind von sich aus gegangen, bis nur noch ein Arzt übrig blieb. Daraufhin musste die Klinik geschlossen werden. Das heißt, es gibt jetzt für die gesamte Präfektur nur eine, mit einem einzigen Arzt besetzte psychiatrische Ambulanz, und keine stationären Behandlungsplätze.

SB: Die Lebenssituation hat sich für viele Menschen in Griechenland drastisch verschlechtert, wodurch der Bedarf an Therapie und Behandlung im Grunde ungeheuer gestiegen sein müßte.

CA: Ja, und deshalb sind die Krankenhäuser überlastet - auch mit Leuten, die sich eine Behandlung im Privatsektor nicht mehr leisten können. Früher war es üblich, dass die Menschen in Griechenland ihre psychiatrische Behandlung privat zahlten. Für eine psychotherapeutische Behandlung betrugen die Kosten mindestens 200 Euro im Monat. Das ist jetzt nicht mehr drin. Auch die Krankenhäuser können aufgrund des großen Andrangs von Patienten keine Psychotherapien mehr anbieten. In der Ambulanz sieht die Situation schon jetzt so aus, dass ein Arzt bestenfalls eine Viertelstunde für jeden Patienten hat. Unter diesen Umständen kann man nicht psychotherapeutisch arbeiten. Die Gesundheitsreform hat auch als Folge, dass viele Patienten nicht die geeignete Behandlung erhalten. Aufgrund der oben genannten Gründe ist es z.B. möglich, dass Erkrankungen, bei denen leitliniengemäß eine Psychotherapie die erste Wahl darstellt, stattdessen medikamentös behandelt werden. Oder es müssen Patienten, die langjährig auf einem Medikament gut eingestellt waren, wegen der gestiegenen Zuzahlungskosten auf ein anderes Präparat umgestellt werden, was ihre Stabilität erheblich gefährdet oder zum Auftreten von Nebenwirkungen führen kann.

SB: Welche Folgen hat es aus Ihrer Sicht für die Gesellschaft, wenn Menschen, die auf eine Therapie angewiesen sind, nicht behandelt werden können?

CA: Ich glaube, erst einmal ist die Stigmatisierung ein großes Problem: Wenn die Patienten keine geeignete Behandlung mehr bekommen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von inadäquatem Verhalten oder sichtbaren Nebenwirkungen, wodurch sie ausgegrenzt werden. Darüber hinaus folgt natürlich auch ein großer Verlust an Arbeitskräften. Zudem können die Patienten ihre Rolle in Familie und Gesellschaft nicht mehr ausüben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, als Kind in einer Familie mit einem (unbehandelten) depressiven Elternteil aufzuwachsen. Die Folgen für die sozialen Beziehungen werden sich wahrscheinlich über Jahrzehnte auswirken.

SB: Wie wirkt es sich auf die Stimmung der Bevölkerung aus, wenn immer mehr Menschen, die keinerlei Hilfe bekommen, an den Rand der Verzweiflung geraten?

CA: Es ist ein Gemisch aus Misere und Resignation. Durch die angespannte Lage sind die Leute auch schneller reizbar. Schon kleinste Anlässe, wie z.B. Verkehrsärgernisse, können einen großen Streit auslösen. Mitunter kann das sehr unangenehm werden. Die Verzweiflung ist groß und damit auch die Angespanntheit und Reizbarkeit. Dennoch gibt es viele Menschen, vor allem junge Leute, die einen Ausweg in der Solidarität gefunden haben. Im modernen Griechenland hatte die Urbanisation dazu geführt, dass solche Formen der gegenseitigen Unterstützung außerhalb der (noch sehr starken) familiären Strukturen nicht sehr verbreitet waren. Solidarität findet immer noch in der Familie statt, aber der Zusammenhalt wird dadurch gefährdet, dass jetzt viele Familien über keine Einkünfte mehr verfügen und sich selbst nicht mehr helfen können. Dafür gibt es aber neue Initiativen, in denen die Leute versuchen, einander zu helfen.

SB: Es gibt viele Beispiele dafür, wie sich Menschen mit geringen Mitteln in einer Weise helfen, die vorher nicht nötig oder vorstellbar war, solange zum Beispiel jeder eine Krankenversorgung hatte. Wenn sich tatsächlich neue Strukturen entwickeln, in denen Menschen anders und vielleicht sogar besser zusammenleben und -arbeiten können, wäre es da nicht eine Überlegung wert, diesen Weg weiter zu beschreiten?

CA: Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich von keiner solchen Maßnahme oder Initiative weiß. Natürlich gibt es NGOs, aber im Norden Griechenlands, wo ich herkomme, kenne ich keine solidarischen Praxen.

Nach meiner persönlichen Einschätzung ist diese Art der Hilfe nur eine vorübergehende Notmaßnahme. Natürlich ist es in Zeiten der Not gut, wenn sich die Leute darauf einstellen und gegenseitig unterstützen. Aber da der Staat diese Rolle nach langen sozialen Kämpfen übernommen hat, soll das auch so bleiben. Diese Aufgabe muss irgendwann an den Staat zurückgegeben werden. Sonst könnten solche Initiativen als Vorwand für eine komplette Privatisierung des Gesundheitssystems ausgenutzt werden.

SB: Wie erleben Sie die Resonanz auf Griechenland hier in Deutschland? Können Sie Ihrem deutschen Umfeld überhaupt vermitteln, was in Griechenland geschieht?

CA: Ja, bisher habe ich hier in Hamburg überwiegend positive Erfahrungen mit Deutschen gemacht. Ich treffe auf viel Verständnis und offene Ohren. Selten erlebe ich Kritik im Sinne der "faulen Griechen".

SB: Möglicherweise gibt die Pressekampagne über die "faulen Griechen" nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung wieder. Eigentlich müßte jeder, der sich auch nur halbwegs seine Menschlichkeit bewahrt hat, wissen, dass das, was in Griechenland passiert, eine Ungeheuerlichkeit ist.

CA: Sicherlich muss man zurückblickend einräumen, dass es viel Korruption in Griechenland gegeben hat und viel Geld im öffentlichen Sektor, und auch im Gesundheitswesen, verschwendet wurde. Trotzdem ist es unmenschlich, was jetzt in Griechenland passiert, vor allem weil darunter diejenigen leiden, die am wenigsten für die Krise verantwortlich sind. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass das in einem EU-Land möglich ist.

SB: Wie soll es mit Griechenland weitergehen?

CA: Für diese Frage bin ich die falsche Adresse. Ich bin schließlich aus Griechenland ausgezogen, fast schon geflüchtet, weil ich es dort nicht mehr aushalten konnte.

SB: In Reaktion auf die Verschlechterungen?

CA: Ich bin kurz vor dem regelrechten Ausbruch der Krise ausgewandert, weil ich zunehmend unzufrieden war mit meiner Lebensperspektive. Ausgerechnet die Leute, die Fremdsprachen beherrschen und gut ausgebildet sind, nutzen die Möglichkeit zur Auswanderung, weil ihnen oft nichts anderes übrig bleibt. Dieser Verlust an qualifizierten Arbeitskräften wird für die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Situation in Griechenland langfristige Folgen haben.

SB: Frau Andreou, vielen Dank für dieses Gespräch.

CA: Ihnen auch vielen Dank.


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zur Veranstaltung "Sparkurs kann tödlich sein - Gesundheit in Griechenland" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
INTERVIEW/030: Sparfalle Griechenland - Die doppelte Last ... Anke Kleinemeier im Gespräch (SB)
INTERVIEW/031: Sparfalle Griechenland - Menschenrecht Gesundheit, Griechenrecht der Arzt ... Christian Haasen im Gespräch (SB)

27. April 2014