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INTERVIEW/029: Links der Linken - Schweiß und Tränen oder Blut, Sotiris Kontogiannis im Gespräch (SB)


Griechenland im Griff sozialer Not und politischer Willkür

Interview am 30. November 2013 in Düsseldorf



Sotiris Kontogiannis ist im griechischen Bündnis der revolutionären Linken ANTARSYA aktiv. Am 30. November berichtete er auf einer Veranstaltung mehrerer linker Organisationen im Düsseldorfer Kulturzentrum zakk über die Kämpfe und Perspektiven der griechischen Linken unter dem Diktat der Troika [1]. Im Anschluß an das Treffen beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sotiris Kontogiannis
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Du bist Mitglied in der Partei ANTARSYA (Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz). Könntest du etwas zur Geschichte und den Zielen von ANTARSYA sagen?

Sotiris Kontogiannis: ANTARSYA ist ein Bündnis der antikapitalistischen Linken und wurde im Januar 2009 gegründet, also gleich nach der Revolte im Dezember 2008, aber die Basis für die Bildung dieser Organisation bestand schon früher. In meinem Vortrag hatte ich bereits erwähnt, daß die revolutionäre Linke in Griechenland immer sehr stark war. Diese Stärke geht zurück auf die Revolte in der Technischen Hochschule im November 1973, als Griechenland noch eine Diktatur war. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie war blutig. Nachdem die Armee die Revolte der Studenten niedergeschlagen hatte, folgte eine Zeit schlimmster Repression und schließlich der Krieg mit der Türkei.

Die Junta hatte am 15. Juli 1974 einen Putsch in Zypern organisiert, woraufhin die türkische Armee in Nordzypern einmarschierte. Mit der Kriegserklärung gegen die Türkei wurde in Griechenland die Generalmobilmachung ausgerufen, das heißt, jeder Mann unter 40 Jahren mußte sich bei der Armee melden. Aber der Schuß ging nach hinten los, denn die Leute untergruben die Disziplin in der Armee, indem sie zum Beispiel sagten, daß die Hose zur Uniform oder die Stiefel zu eng seien. In Griechenland nennt man diese Zeit daher die Generalmobilmachung der Sandalen, weil die Soldaten, eben unter dem Vorwand, daß die Stiefel nicht paßten, Sandalen trugen.

Die Armee war in der Bevölkerung regelrecht verhaßt, vor allem wegen der brutalen Niederschlagung der Revolte in der Technischen Hochschule, bei der viele junge Leute von den Soldaten umgebracht wurden. Der Nationalismus konnte die feindselige Stimmung gegen die Armee nicht wettmachen. Auch wenn die Propaganda die Türkei immer wieder als Feind hinstellte, der auf Zypern eingedrungen sei, weigerten sich die Griechen zu kämpfen. So brach die Junta wenige Tage später zusammen. Keine militärische Diktatur kann eine Revolte in der Armee überleben. Der Sturz der Junta erfolgte schneller, als es sich die herrschende Klasse gewünscht hätte, die in der Periode vor dem Aufstand in der Technischen Hochschule durchaus versucht hatte, eine Brücke zur Junta zu schlagen für einen geregelten Übergang zur Demokratie, aber das scheiterte. In den beiden folgenden Jahren kam es wiederholt zu großen Streiks in Griechenland, denn die Leute sagten sich, wir haben die Junta von der politischen Bühne weggejagt, jetzt jagen wir die Junta auch aus der Fabrik und der Universität fort.

Für die herrschende Klasse war die Erfahrung dieser beiden Jahre nach dem Umsturz besonders drastisch, aber die Streiks gingen, wenn auch in abgeschwächter Form, weiter bis 1981, als die PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) zum ersten Mal in der Geschichte Griechenlands an die Macht kam. Aus dieser Periode ist die revolutionäre Linke sehr stark hervorgegangen. Sie spielte bereits beim Aufstand im Polytechnikum der Universität eine große Rolle. So gesehen hat es immer eine revolutionäre Linke in Griechenland gegeben. Daß ANTARSYA sich entschloß, zumindest auf der Wahlebene mit SYRIZA zusammenzuarbeiten, hatte einen einfachen Grund. Denn bei den Wahlen stimmten die Leute mit einer linken Einstellung entweder für SYRIZA oder die Kommunistische Partei, während die revolutionäre Linke mit ihrem radikalen Programm weitgehend unsichtbar blieb. Mit dem Projekt haben wir das zu verändern versucht.

SB: Könntest du die soziale Situation in Griechenland im sechsten Jahr der Krise aus deiner Sicht mit einigen Beispielen erläutern?

SK: In den letzten drei Jahren gab es dreitausend Suizide. In der Vergangenheit war der Freitod in Griechenland sehr selten. Die Leute haben diesen Schritt aus Verzweiflung gewählt. Viele Griechen haben überhaupt kein Einkommen. Im Privatsektor sieht es ganz düster aus, weil die Leute ihren Lohn einfach nicht bekommen. Viele Familien leben daher von der Rente des Großvaters oder der Großmutter. Hinzu kommt, daß die Steuern in Griechenland stark gestiegen sind. Sehr viele Leute besitzen eine Wohnung, auf die die Regierung eine neue Steuer erhoben hat, die von der Elektrizitätsgesellschaft zusammen mit der Stromrechnung eingezogen wird. Wenn man die Haussteuer nicht bezahlt, bekommt man keinen Strom. Am Ende funktionierte das nicht, aber am Anfang mußte man das trotzdem zusammen bezahlen.

In einem Land, in dem vielleicht ein Drittel der Einwohner überhaupt kein Geld hat, macht es keinen Sinn, neue Steuern zu erheben. Viele Hausbesitzer haben das Geld von der Bank als Kredit bekommen, weil sie eine normale Arbeit hatten. Jetzt können sie nicht einmal die Zinsen für die Raten tilgen. Auch wenn sie vielleicht Dreiviertel der Raten abgezahlt haben, besteht die Gefahr, daß die Bank die Wohnung beschlagnahmt. Bis jetzt dürfen sie das nicht, weil es der griechische Staat verboten hat. In Griechenland nennt man das die erste Wohnung. Man kann eine Wohnung haben, in der man lebt, aber es gibt reiche Leute, die mehrere Wohnungen besitzen, die sie dann vermieten. Laut Gesetz darf die erste Wohnung nicht enteignet werden, aber das könnte sich bald ändern.

Auf Druck der Troika wird in der Regierung darüber diskutiert, eine Gesetzesnovelle zu verabschieden, die das möglich machen soll. Die amtierende Regierung und die herrschende Klasse hätten nichts dagegen einzuwenden, aber im Augenblick können sie nicht einmal die Parlamentsmitglieder der rechten Partei dazu bringen, der Gesetzesänderung zuzustimmen.

SB: Das heißt, die Troika ist maßgeblich dafür verantwortlich, daß die Enteignung der ersten Wohnung eventuell Gesetzeskraft erlangt?

SK: Es gibt Krach darüber. Die Regierung hat im Moment nur eine Mehrheit von drei Stimmen. Das heißt, wenn auf Regierungsseite drei Abgeordnete bei der Abstimmung nicht anwesend sind, ist das ganze Projekt gescheitert. Das wäre schlecht für die Regierung. Sollte das geschehen, wäre sie weg vom Fenster, und deswegen wagt sie es bis jetzt nicht. Es ist ein großes Thema in Griechenland. Im Moment gibt es nicht viele Wohnungslose, weil die meisten Griechen eine Wohnung besitzen und die Familien zusammenhalten. In Griechenland schlafen nicht viele Leute auf der Straße. Aber die Troika hat vor, die Zahl der Obdachlosen zu erhöhen.

Offiziell gibt es in Griechenland eine Arbeitslosigkeit von 27 Prozent; in Wahrheit ist die Zahl viel höher. Viele Leute, die angestellt waren und jetzt keinen Job mehr haben, werden nicht als normale Angestellte betrachtet. Ein Beispiel dazu: Ich bin Ingenieur. Die meisten Ingenieure haben wie ich auch auf Vertragsbasis gearbeitet. Das war kein Zeitvertrag, sondern projektgebunden, obwohl man sich eigentlich in einem Angestelltenverhältnis befand. Auch die Putzfrauen in den Schulen hatten einen Projektvertrag. Sie wurden entlassen, werden aber bei der Arbeitslosenstatistik nicht mitgezählt und bekommen daher auch kein Geld vom Staat. Aber ihre Situation ist noch schlimmer. Weil sie wie Selbständige behandelt werden, müssen sie ihre Krankenkasse selbst bezahlen, was sie aber nicht können, da sie kein Einkommen beziehen. Das heißt, wenn sie krank werden, haben sie keinen Versicherungsschutz. Als wäre das noch nicht schlimm genug, gibt es ein Gesetz, demzufolge der Staat Schulden, die man bei der Krankenkasse hat, einfordern kann. Wenn man eine Wohnung besitzt, kann diese vom Staat gepfändet werden, so daß man auf der Straße leben muß oder gar ins Gefängnis kommt. Das ist absurd, denn daß die Leute kein Einkommen haben, liegt an der schlechten Wirtschaftslage.

SB: Wie wird denn die medizinische Versorgung der Leute, die kein Einkommen haben, organisiert?

SK: Bis jetzt konnte jeder ins Krankenhaus gehen und sich behandeln lassen, ohne daß nach seiner Versicherung gefragt wurde. Man mußte zwar mit dem Arzt irgend etwas aushandeln, aber die Ärzteschaft war stark und konnte jedem helfen. Vor ein paar Jahren gab es jedoch Krach wegen der Migranten. Damals forderte die Regierung vehement, daß der Arzt die Polizei rufen müsse, wenn ein illegaler Migrant ins Krankenhaus kommt und Hilfe braucht. Die Gewerkschaft hat Nein gesagt. Das sei ein Krankenhaus und kein Gefängnis; jeder, der Hilfe braucht, wird Hilfe bekommen, und niemand wird die Polizei rufen. Das war eine ehrenhafte Haltung.

SB: Gibt es in Griechenland Menschen, die regelrecht hungern?

SK: Es gibt Gegenden, in denen Menschen Hunger leiden. In einigen Arbeitervierteln kommt es vor, daß die Kinder hungrig in die Schule kommen und nichts zum Essen haben. So etwas ist nicht sehr verbreitet, noch nicht jedenfalls. Das hat zum einen mit der Familie zu tun und zum anderen damit, daß die Angriffe auf den sozialen Zusammenhalt nur langsam anlaufen. Während in Deutschland, Irland und anderswo in Europa Zwangsräumungen gang und gäbe sind, hat sich Griechenland diese soziale Errungenschaft, daß die erste Wohnung nicht geräumt werden kann, bisher bewahrt. Die bisherigen Regierungen hatten große Schwierigkeiten damit, alle sozialen Standards zurückzunehmen, aber wenn die Angriffe weitergehen und der Widerstand dagegen zunimmt, könnte die Situation kritisch werden.

SB: Meines Wissens gibt es in Griechenland selbstorganisierte Versorgungsstrukturen mit eigenem Landbau.

SK: Ja, aber politisch gesehen ist das falsch. So sollten Ärzte gegen die Schließung ihres Krankenhauses kämpfen, statt in einem anderen Krankenhaus, ohne bezahlt zu werden, medizinische Versorgung anzubieten.

SB: Weil die Pflicht des Staates so von privater Seite übernommen würde?

SK: Ja. Freiwilligendienste sind nicht das, was wir brauchen, und zum Glück ist es auch nicht verbreitet. Auch SYRIZA scheint das nicht zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit erklärt zu haben, aber andere Gruppen tun es. Ich sage nicht, daß freiwillige Dienste schlecht sind, aber politisch gesehen sind sie die falsche Antwort auf das Problem.

Sotiris Kontogiannis - Foto: © 2013 by Schattenblick

Entschieden nach vorne denken
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Gegen das Spardiktat und die Auflagen der EU hat es in den letzten Jahren starken Widerstand in der griechischen Bevölkerung gegeben. In Deutschland konnte man den Eindruck gewinnen, daß dieser stark von autonomer oder anarchistischer Seite, so aus dem Athener Viertel Exarcheia, ausging. Stimmt das so oder haben andere zivilgesellschaftliche Kräfte den Protest auf die Straße gebracht?

SK: Der Widerstand ging hauptsächlich von den Gewerkschaften aus. Die Anarchisten machen Lärm, und Exarcheia ist gar nichts, nur der Name einer Gegend so wie Neukölln in Berlin. Die Anarchisten waren stark und hatten immer an den großen Demonstrationen teilgenommen, aber in der letzten Periode sind sie vom Staat hart angegriffen worden und verhalten sich jetzt ruhig. Aber das ist nicht der wirkliche Widerstand, der wahre Widerstand kam immer von der organisierten Arbeiterklasse selbst.

Der Syntagmaplatz war von Anfang an der Austragungsort eines politischen Kampfes. Die Gewerkschaften waren dort immer sehr aktiv, so die Arbeiter der Stromgesellschaft. Diese ist immer noch in staatlicher Hand, weil die Regierung es nicht wagt, sie aufgrund der Militanz dieser Gewerkschaft zu privatisieren. Wenn man politisch nicht scharf differenziert, wird die Grenze zwischen der berechtigten Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie und der gesellschaftlichen Rolle der Gewerkschaften nicht genau genug gezogen.

Auch die Migranten gehörten zur Bewegung des Syntagmaplatzes. Ich gehöre der Organisation KEERFA (Bewegung gegen die rassistische und faschistische Bedrohung) an. Sie ist die wichtigste Antirassismus-Organisation Griechenlands und hat in den beiden letzten Jahren fast alle großen Demonstrationen gegen die Faschisten organisiert. Deren Niederlage wurde zum großen Teil von KEERFA bewirkt. Es war sehr wichtig, daß die Migranten dabei waren, denn es gibt heute immer noch Leute, die meinen, die Nazis wurden durch Syntagma gestärkt. Das ist eine totale Lüge. Die Gewerkschaften und die Migranten waren da, die Linke war da, SYRIZA hatte mindestens eine ganz große Diskussion organisiert, an der die ganze Linke mit fünftausend Leuten beteiligt war. Wir saßen alle auf dem Boden, verschiedene Leute haben über Fragen der Ökonomie diskutiert und wie mit dem Schuldenproblem umzugehen sei. Was Syntagma groß gemacht hat, war die Beteiligung der Linken und der Gewerkschaften.

SB: Die PAME ist die Gewerkschaft der KKE [2]. Wie steht sie zu anderen Gewerkschaften - wird gemeinsam gekämpft oder überwiegen die Unterschiede?

SK: Das ist sehr kompliziert. Vor ein paar Jahren spielte die Kommunistische Partei mit dem Gedanken, die Gewerkschaftsbewegung zu spalten, aber sie hat es doch nicht gemacht. PAME ist die politische Gewerkschaft der Partei KKE. SYRIZA hat auch eine und ANTARSYA ebenso. In Griechenland gibt es zwei Dachgewerkschaften, GSEE für den Privatsektor und ADEDY für den öffentlichen Dienst. Die Kommunistische Partei war zwar an allen Streiks beteiligt, aber sie und die PAME organisieren immer ihre eigene Versammlung. Dennoch geht PAME nie zusammen mit SYRIZA oder anderen zivilgesellschaftlichen Kräften auf die Straße. Sie ist immer für sich. Das finde ich persönlich falsch, aber das ist eben ihr Programm. Als Organisation ist sie zudem sehr mitgliederstark.

SB: Du hast in deinem Vortrag auch zum Problem des Reformismus Stellung bezogen. ANTARSYA stellt durchaus radikale Forderungen auf wie zum Beispiel die Auflösung der EU, so daß man den Eindruck gewinnen könnte, daß sie damit der KKE näher steht als SYRIZA?

SK: Auf der ideologischen Ebene ähneln sich die Positionen von ANTARSYA und der Kommunistischen Partei, aber es gibt dennoch in der Sache einen großen Unterschied. Die Forderung der KKE, aus der EU und Eurozone auszutreten, ließe sich ihrer Programmatik nach nur mit dem Sozialismus verwirklichen. Und wie schafft man den Sozialismus? Indem die Kommunistische Partei stärker und stärker und eines Tages so mächtig wird, daß sie ihr Ziel umsetzen kann. Das bedeutet aber, daß die KKE heute nichts machen kann. ANTARSYA geht einen anderen Weg und sagt, laßt uns über Arbeiterkontrolle sprechen. Das kann man schon im Kapitalismus machen, wir warten damit nicht bis zur Revolution. Deswegen sind wir bereit, wie übrigens auch SYRIZA, mit allen Kräften zusammenzuarbeiten.

SB: Aber dann steht die KKE eher für sich und ANTARSYA geht eher mit SYRIZA auf die Straße.

SK: Am Ende ja. Wir marschieren immer zusammen, aber die Kommunistische Partei marschiert immer alleine.

SB: Welche Bedeutung hat eine Symbolfigur wie Mikis Theodorakis heute noch für den griechischen Widerstand gegen die Troika?

SK: Mikis Theodorakis ist in vielen Aspekten eine ganz besondere Person. Er war ein bekannter Musiker und ein historisches Mitglied der Linken in Griechenland. Aber 1990 trat er als Minister in die rechte Regierung von Konstantinos Mitsokatis ein, dem Vorsitzenden von Nea Dimokratia (ND). Damals beteiligte sich die Kommunistische Partei an einem Wahlbündnis der griechischen Linken unter dem Namen Synaspismos. Es arbeitete mit der ND zusammen, weil Andreas Papandreou, Vorsitzender der PASOK, wegen des Vorwurfs der Veruntreuung angeklagt wurde. Synaspismos unterstützte die Regierung der Nea Dimokratia. Das war das Schrecklichste, was sie tun konnte.

Theodorakis ging sogar noch einen Schritt weiter und beteiligte sich an der Regierung. Das ist eben das Problem mit Theodorakis, daß er nicht immer nachdenkt. In seiner Laufbahn als Politiker hat er manchmal die Kommunistische Partei, manchmal SYRIZA und manchmal die revolutionäre Linke unterstützt. Ich erinnere mich, daß er als Parlamentsmitglied der Linken, als Baader und Meinhof in Stammheim starben, nach Deutschland gekommen ist, um an der Beerdigung teilzunehmen. Das würde niemand sonst machen, aber Theodorakis machte es.

In seiner letzten Periode als Politiker wollte er eine eigene Partei aufbauen. Sie war linksnationalistisch orientiert und nannte sich der Funken. Das Vorhaben scheiterte jedoch. Theodorakis bezog sich bei seinem Standpunkt, daß Griechenland aus der EU austreten sollte, auf den Widerstand in Griechenland während des Zweiten Weltkrieges. Dieser Widerstand war im wesentlichen von der Kommunistischen Partei organisiert worden. Fast jeder war daran beteiligt.

Theodorakis nahm dies als Vorbild für den Protest der Griechen gegen die Zwangspolitik der EU. Natürlich kann man so etwas nicht machen. Aber ihm schwebte die Idee vor, selbst Kleinbürger in einer Art Sammelbewegung für den Austritt aus der EU zu mobilisieren. Solche Illusionen hat in Griechenland nicht nur Theodorakis. Im Moment leitet er ein Orchester, das fast jeden Abend im Sender ERT, während der staatliche Rundfunk aus Protest gegen seine Einstellung besetzt war, gespielt hat. Damals war Theodorakis schon sehr alt, so daß er selbst nicht hingehen konnte, aber seine Musiker haben die Besetzung aus ganzem Herzen unterstützt. Das war sehr gut. Nichtsdestotrotz kann Theodorakis manchmal ziemlich naiv sein, aber er spielt ingesamt gesehen eine gute Rolle, auch wenn er gelegentlich einiges falsch macht.

SB: Auf der Konferenz hieß es, daß in Griechenland möglicherweise eine revolutionäre Situation eintreten könnte. Hältst du es für möglich, daß in einem Land, das in die NATO und EU integriert ist, eine soziale Revolution ausbrechen könnte, ohne daß in irgendeiner Weise interveniert würde?

SK: Ich bin sicher, daß NATO und EU versuchen würden zu intervenieren. Wer die Geschichte Griechenlands kennt, weiß, daß sich das griechische Volk immer gegen Fremdherrschaft erhoben hat. Der Widerstand hat Griechenland von den Nazis befreit, weil der Arm der Kommunistischen Partei stark war. Danach wurde Griechenland von den Engländern besetzt. Und wieder wurde Widerstand geleistet. Es mag also sein, daß die NATO und die EU eingreifen würden, wenn in Griechenland eine revolutionäre Stimmung aufkommt, aber die Frage ist doch: Werden sie es tun? Meines Erachtens nicht. Nicht wegen der Stärke der Linken in Griechenland oder in Deutschland und Frankreich, sondern wegen der Stärke der Arbeiterklasse insgesamt. Die herrschende Klasse müßte im Falle einer Intervention in Griechenland Angst haben vor ihrer eigenen Arbeiterklasse.

SB: Könntest du dir vorstellen, daß die Arbeiter in Deutschland gegen eine solche Intervention opponieren und sie möglicherweise verhindern würden?

SK: Ich erinnere an Nicaragua. Das war meiner Ansicht nach keine wirkliche Revolution. Und trotzdem gab es eine große Welle der Solidarität. Wir hatten eine Aufbruchstimmung in der arabischen Welt. Wenn so etwas in Europa passieren und Merkel oder wer auch immer sagen würde, wir schicken die Armee hin, dann könnte das sehr gefährlich werden.

SB: Sotiris, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Peripherie und Zentrum - EU-Austeritätspolitik in Griechenland und Irland
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0011.html

[2] Zum Selbstverständnis der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) siehe auch
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0130.html

Bisherige Beitrage zur Tagung "Europa - Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

BERICHT/010: Links der Linken - Internationalismus und Antikapitalismus vs. EU und Euro (SB)
BERICHT/011: Links der Linken - Euro, Wettbewerb und Armut (SB)
BERICHT/012: Links der Linken - EU solidar (SB)
INTERVIEW/025: Links der Linken - Der neue alte Klassenkampf, Winfried Wolf im Gespräch (SB)
INTERVIEW/026: Links der Linken - Eingeschränkt und bündnisnah, Özlem Alev Demirel im Gespräch (SB)
INTERVIEW/027: Links der Linken - Kultur ohne Zukunft? Thomas Wagner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/028: Links der Linken - Der Wolf, die Kreide und die Griechen, Lucas Zeise im Gespräch (SB)


21. Februar 2014