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INTERVIEW/026: Links der Linken - Eingeschränkt und bündnisnah, Özlem Alev Demirel im Gespräch (SB)


"Das vereinigte Europa ist entweder eine Illusion oder reaktionär"

Interview am 30. November 2013 im Kulturzentrum zakk in Düsseldorf



Özlem Alev Demirel war Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags und Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke im Landtag NRW. Seit 2012 ist sie Bundesvorsitzende der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF). Die DIDF ist eine türkisch-kurdische Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten, die sich dafür einsetzt, das Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft zu stärken und den Kampf für gleiche politische und soziale Rechte zu führen.

Bei der Tagung "Europa - Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?", die am 30. November 2013 im Düsseldorfer zakk - Zentrum für Aktion, Kultur und Kommunikation GmbH stattfand, nahm Özlem Alev Demirel gemeinsam mit Sotiris Kontogiannis (Griechenland), Paul Murphy (Irland), Wilhelm Langthaler (Wien) und Tina Sanders (Hamburg) an der abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema "Wofür kämpfen und wie kämpfen vor Ort und international?" teil.

Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Am Tisch sitzend - Foto: © 2013 by Schattenblick

Özlem Alev Demirel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Wir haben heute mit Teilen der kleinen versprengten Schar der Linken, die es noch in Deutschland gibt, über große Dinge debattiert. War es zu hoch gegriffen, über Revolution zu sprechen?

Özlem Alev Demirel: Warum sollte es zu hoch gegriffen sein? Man hat vor allen Dingen darüber geredet, wie die Europäische Union zu bewerten ist, welche Politik sie macht und wessen Vereinigung sie ihrem Wesen nach ist. Und man hat festgestellt, daß sie die Vereinigung der herrschenden Klassen ist, die ihre wirtschaftlichen, geopolitischen und strategischen Interessen durchzusetzen versuchen. Daher lautet die Frage: Wie geht man dagegen vor? Dazu Perspektiven zu diskutieren, ist nicht falsch.

SB: Du hast in deinem Beitrag auch von Lenin gesprochen. Was hat dich im besonderen dazu bewogen?

ÖD: Der Moderator hat eingangs eine Stellungnahme Lenins aus dem Jahr 1915 zitiert. Darin heißt es sinngemäß: Das vereinigte Europa ist unter kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen entweder eine Illusion oder reaktionär. In diesem Text gibt es verschiedene Passagen, in denen sich Lenin mit der Frage auseinandersetzt, wie ein vereinigtes Europa funktionieren könnte. Auf diese Stellen im Leninschen Text, in denen er zum Beispiel davon redet, daß es unter den kapitalistischen Wirtschafts- und Produktionsverhältnissen keine Möglichkeit des gleichmäßigen Aufschwungs oder der gleichmäßigen Entwicklung der Ökonomien von Staaten gibt, bin ich eingegangen. Er erklärt auch, warum einige Staaten in einem vereinigten Europa anderen Staaten ihre Vorherrschaft aufdiktieren würden. Die Debatten, wie solch ein vereinigtes Europa einzuschätzen und ob es für die unterdrückten Klassen ein annehmbares Ziel wäre, sind also bereits in der Vergangenheit aus linker oder klassenkämpferischer Perspektive diskutiert worden. Lenin hat die Frage damals mit Nein beantwortet und verschiedene Gedanken dazu aufgeschrieben, wie zum Beispiel, daß eine Europäische Union ein Vertrag imperialer Mächte gegen andere Mächte wäre, um ihre Kolonien zu verteidigen.

Meines Erachtens sind das wichtige und wesentliche Fragen, denn wenn man sich heute die weltweite Politik der Europäischen Union anschaut, entdeckt man vieles darin wieder. Ich finde es interessant, daß schon in einem Text von 1915 verschiedene Ebenen dessen geschildert werden, was wir heute real erleben. Die Frage ist: Was machen wir aus dieser Erkenntnis, die wir aus verschiedenen Texten und Diskussionen nicht nur von Lenin, sondern auch von anderen kennen? Ich glaube, es ist wichtig für eine Linke, auch aus der Geschichte der Klassen- und Machtkämpfe zu lernen. Und Lenin gehört unstrittig zu den Protagonisten, die eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben.

SB: Der Referent Sotiris Kontogiannis aus Griechenland hat argumentiert, daß er nicht mit Syriza zusammenarbeiten wird, weil er der Meinung ist, daß sie eine sozialdemokratische und keine revolutionäre Position vertritt. An dieser Stelle wird immer die Bündnisfrage aufgeworfen, mit wem man eine operative Basis eingehen kann und mit wem nicht. Wie stehst du dazu?

ÖD: Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen, Freundinnen und Freunden in Griechenland keine Vorschriften machen, mit wem sie zusammenarbeiten oder es besser bleibenlassen sollen. Dennoch will ich nicht unerwähnt lassen, daß in Griechenland, was gerade in Hinsicht auf die Europäische Union wichtig ist, derzeit eine Bewegung existiert, die teilweise Klassencharakter hat und die große Volksbewegung trägt. Als jemand, der in Deutschland lebt, ist es natürlich meine Aufgabe, Solidarität mit den Forderungen der griechischen Bevölkerung zu üben, aber ich will mich in die innerpolitische Auseinandersetzung nicht einmischen. Grundsätzlich kann man natürlich sagen, daß eine Bewegung dann erfolgreich ist, wenn sie geschlossen und gemeinsam kämpft. Ob dies im Rahmen einer Partei geschehen muß, ist eine andere Frage. Man kann sich auch punktuell für verschiedene Forderungen zu einem Bündnis zusammenschließen. Wenn der Kollege aus Griechenland jedoch die Ansicht vertritt, daß die Forderungen Syrizas nicht deckungsgleich mit den Forderungen seiner Partei sind, kann ich dazu nur wenig sagen.

SB: Du warst Mitglied im nordrhein-westfälischen Landtag, Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke im Landtag NRW und bist jetzt außerparlamentarisch engagiert. Wie bewertest du vor dem Hintergrund deiner Erfahrungen das Verhältnis zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit?

ÖD: Ich bin die Bundesvorsitzende der Migranten-Selbstorganisation Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF), der es vor allen Dingen darum geht, Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei in die Bewegung hier in Deutschland einzubringen, damit sie sich für gleiche Rechte, Bildung, Arbeit, Zukunft, Gerechtigkeit und gegen den Krieg engagieren. Selbst als ich noch im Parlament war, habe ich immer gesagt, daß die Macht des Parlaments sehr beschränkt und die Macht der Straße um ein Vielfaches größer ist. Dennoch war ich zugleich immer auch der Meinung, daß es darum geht, die Stimme der Straße ins Parlament zu tragen, um die sozialen Bewegungen zu stärken. Das ist meine grundsätzliche Haltung zum Thema Parlament. Ich glaube nämlich, daß parlamentarisches taktisches Geschick, so sehr es auch zu loben ist, nicht die Gesellschaft verändert.

SB: Im Zuge der Finanzkrise hat es ungeheure Migrationsbewegungen in Europa gegeben. Aus Rumänien zum Beispiel sind laut Volkszählung mehrere Millionen Menschen einfach verschwunden. Keiner weiß, wohin sie gegangen sind. Auch in Litauen ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung ausgewandert. Ist es angesichts dessen nicht überraschend, daß die Migrationsfrage in der EU-Debatte häufig unterbewertet wird?

ÖD: Migration ist immer eine wesentliche Frage gewesen, aber die Europäische Union betreibt als reaktionäre Institution natürlich auch eine reaktionäre Migrationspolitik. Dabei gibt es drei Aspekte zu beachten: die Binnenmigration, den Umgang mit Migrantinnen und Migranten in den Ländern selbst und schließlich noch die Frage der Einwanderung in die europäische Festung. Am Querschnitt erkennt man, daß die Politik der EU immer wirtschaftliche Interessen voranstellt. Am Beispiel der Menschen aus Afrika läßt sich dies gut verdeutlichen. So liefern die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten der EU, darunter vor allem Deutschland, Waffen nach Afrika, aber auch die Wirtschaftspolitik ist so gestaltet, daß weder Industriepolitik noch eine selbstverwaltete Agrarwirtschaft in den afrikanischen Staaten ermöglicht wird. Die Menschen dort haben kaum Perspektiven und sehen daher, zumal wenn Krieg in ihren Ländern herrscht, der mit europäischen Waffen befeuert wird, ihre einzige Hoffnung in der Flucht.

Daß diese Menschen hier nicht willkommen sind, weil sie wirtschaftlich nicht als profitabel gelten, zeigt den Geist der EU. Innerhalb der EU ermöglicht man mit der Bolkestein-Richtlinie einerseits Arbeitsmigration, um billige Arbeitskräfte in den Konkurrenzkampf um Löhne zu schicken, während andererseits immer wieder unterstrichen wird, daß Armutsmigration, wie Herr Friedrich erst letztens gegen Sinti und Roma gehetzt hat, nicht willkommen ist. Das belegt, daß es um wirtschaftliche Interessen und nicht um die Menschen geht. Der Umgang mit den schwächsten Gliedern in einem Land - mit Migrantinnen und Migranten und überhaupt mit Flüchtlingen - offenbart mehr noch als alles andere die grundsätzliche Haltung solcher Institutionen wie der EU.

SB: In deinem Vortrag hast du auch eine Verbindung gezogen zwischen der Haltung der deutschen Politik oder auch vieler Deutscher gegenüber Migranten und dem politischen Umgang mit den ärmsten Menschen in der deutschen Gesellschaft. Könntest du das einmal ausführen?

ÖD: Es fängt mit der Debatte an, daß Menschen, die wirtschaftlich nicht profitabel sind, in Europa unerwünscht seien, weil sie hier nur einwandern würden, um die Sozialsysteme auszunutzen und auszuplündern. Dieser Rassismus und die Diskriminierung von Menschen mit Armut wird dann auf hier lebende Menschen übertragen. So gelten Menschen, die von Hartz-IV betroffen sind, schlichtweg als Sozialschmarotzer. Deshalb ist es auch so wichtig, an der Seite dieser Menschen, die im Moment ganz unten in der Gesellschaft stehen, zu kämpfen.

Özlem Alev Demirel bei der Podiumsdiskussion - Foto: © 2013 by Schattenblick

Streitbar an der Front der Migration
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die Gezi-Park-Bewegung wurde als ein Phänomen wahrgenommen, weil viele verschiedene Parteien, Organisationen und Menschen, die vorher nie etwas gemeinsam gemacht hatten, auf einmal etwas zusammen unternommen haben. Ist die Resonanz dieser Bewegung in der Türkei noch zu spüren?

ÖD: Ja, selbstverständlich. Ich glaube, in der Türkei weiß jeder, daß nichts mehr so wird wie früher. Es war eine sehr breite Bewegung, fast schon eine Volksbewegung, in der alles vertreten war, angefangen von Menschen, die elementare demokratische Rechte forderten, bis hin zu Menschen, die für einen Systemwechsel gekämpft haben. Sie haben gezeigt, wenn man geschlossen kämpft und sich nicht spalten läßt, kann man auch etwas verändern. In der Türkei gibt es viele Volksgruppen - Kurden, Türken, Alewiten -, es gibt Sunniten, Schiiten und andere Glaubensgemeinschaften, Frauen und Männer, jung und alt. Die Türkei war in diesem Sinne Vorbild dafür, daß Menschen gemeinsame Interessen und Forderungen haben und gemeinsam kämpfen müssen, um eine Veränderung zu erreichen.

SB: Hast du den Eindruck, daß sich die Kurdenfrage unter dem Einfluß der EU oder der Eurokrise verändert hat?

ÖD: Die Kurdenfrage selber hat nichts mit dem Einfluß der EU oder der Eurokrise zu tun. In der Türkei ist ein Friedensprozeß eingeleitet worden. Man hat einen Waffenstillstand vereinbart und ist in Verhandlungen getreten. Aber unterm Strich hat die AKP-Regierung bislang nichts als verbale Machtdemonstration oder Wahlkampf-Kalkül betrieben. Keine einzige Forderung der kurdischen Bevölkerung wurde wirklich in die Tat umgesetzt. Daß es diesen Friedensprozeß überhaupt gibt, geht, egal, welches Kalkül die AKP-Regierung oder die herrschenden Kräfte anderer Länder wie die EU oder die USA damit verbinden, auf das kurdische Volk zurück, allen voran natürlich die Frauen und die Mütter, die Frieden, Demokratie und Gleichberechtigung gefordert haben. Die Kurdenfrage wird nicht mit Europa oder den USA gelöst, sondern einzig und allein durch die Geschwisterlichkeit der Völker, die in der Türkei leben. Wenn türkische und kurdische Menschen, Frauen und Männer gemeinsam Hand in Hand für Demokratie und Gleichberechtigung kämpfen, ist das sehr ermutigend. Die Gezi-Bewegung ist ein Ausdruck dafür, daß Menschen unterschiedlicher Volksgruppen, die bislang immer nur gegeneinander Vorurteile geschürt hatten, bereit sind, zusammen für ihre Rechte zu kämpfen. Denn sie wissen, daß sie nur gemeinsam erfolgreich sein können. Das finde ich sehr wesentlich.

Wer glaubt, daß Europa oder die Westmächte einen positiven Beitrag dazu leisten und Vorkämpfer der Demokratie in der Türkei sein könnten, irrt. Europa hat selber Demokratie abgebaut und wird deshalb bestimmt keine Demokratie irgendwohin transportieren. Das kann nur das Ergebnis einer Bewegung aus der Bevölkerung heraus sein. Noch ein letzter Satz dazu: Es ist heuchlerisch, wenn die Europäische Union und Deutschland auf der einen Seite immer wieder Menschenrechtsverletzungen in der Türkei kritisieren, aber auf der anderen Seite selber die PKK verboten haben, was sie bislang hierzulande nicht einmal mit der NPD wagen.

SB: Andererseits gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen der türkischen und der deutschen Regierung. Menschen, die in der Türkei ins Gefängnis kommen und später nach Deutschland ausreisen, werden hier wiederum eingesperrt. Auf der Ebene der Repression arbeiten die beiden Staaten ganz offensichtlich gut zusammen.

ÖD: Ja klar, die Verbindung besteht aber auch im wirtschaftlichen und militärischen Bereich. So stellt die Türkei eines der größten Truppenkontingente innerhalb der NATO. Auch gibt es wirtschaftliche Abkommen zwischen der Türkei und der EU, nach denen die Türkei billige Produkte für deutsche Unternehmen, insbesondere im Textilbereich, herstellt. Diese Verbindung existiert, aber sie geht zu Lasten der Bevölkerung in der Türkei. Letzten Endes kommt diese Verbindung nicht einmal der Bevölkerung hier in Deutschland oder in Europa zugute, da sie vor allem den wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen und Herrschenden dient.

SB: Noch eine abschließende Frage: Wie hat dir die Tagung heute gefallen?

ÖD: Ich muß leider gestehen, daß ich nur beim Abschlußpodium dabei war und die Tagung als ganze deshalb nicht bewerten kann. Die abschließende Diskussion fand ich jedenfalls sehr interessant. Alle waren sich einig, daß dieses Europa eine reaktionäre Konstruktion ist. Die Frage nach konkreten Forderungen und Alternativen wird noch viel diskutiert werden. Da gibt es bis dato unterschiedliche Ansätze und Positionen. Wesentlich war der Punkt, daß eine Bewegung gegen diese reaktionäre Politik vorangetragen werden muß. Aus der Bewegung erwachsen dann meistens die richtigen Forderungen von selbst.

SB: Özlem, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Bisherige Beitrage zur Tagung "Europa - Brauchen wir eine Alternative zu Euro und EU?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → REPORT:

BERICHT/010: Links der Linken - Internationalismus und Antikapitalismus vs. EU und Euro (SB)
INTERVIEW/025: Links der Linken - Der neue alte Klassenkampf, Winfried Wolf im Gespräch (SB)

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