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INTERVIEW/024: Irland geht alle an - Nestbeschmutzer John Coulter im Gespräch (SB)


Interview mit John Coulter am 10. Januar 2013 in Belfast



Dr. John Coulter ist ein Unikum - ein rechter, bibelfester, protestantischer Unionist, der mit seinen witzigen und provokanten Beiträgen für den Blog "The Pensive Quill" des ehemaligen IRA-Kämpfers Anthony McIntyre die linksrepublikanische und entweder katholische oder atheistische Leserschaft regelmäßig zu heftigen Kommentaren reizt. Als Journalist analysiert Coulter seit 30 Jahren die Ereignisse in Nordirland und sucht nach Wegen einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen den Konfessionen dort sowie zwischen Nord- und Südirland und letzterem und Großbritannien.

2011 entzündete sich ein heftiger Streit, als die nordirische Polizei auf gerichtlichem Weg den Versuch startete, vom Boston College im US-Bundesstaat Massachusetts die Tonaufnahmen einer Reihe von Interviews ausgehändigt zu bekommen, die einige Jahre zuvor im Rahmen einer wichtigen Geschichtsstudie über den Bürgerkrieg in Nordirland mit ehemaligen Paramilitärs sowohl von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) als auch von der Ulster Defence Association (UDA) und der Ulster Volunteer Force (UVF) gemacht worden waren. Um die ehemaligen "Terroristen" zur Aussage zu bewegen, war ihnen versichert worden, daß der Inhalt der Interviews erst nach ihrem Tod veröffentlicht werden würde. Der Police Service of Northern Ireland (PSNI) will offenbar an die Bänder heran, weil er Informationen dort vermutet, die Gerry Adams, den Parteivorsitzenden der IRA-nahen Sinn Féin, mit einem Mordfall in Verbindung bringen könnte. Die Ermittlung ist also politisch motiviert.

John Coulter, der Nordirland-Korrespondent des in Dublin erscheinenden Massenblatts Irish Daily Star ist, hat sich publizistisch gegen den Vorstoß der PSNI positioniert und sich für den journalistischen Quellenschutz stark gemacht. Die Teilnahme Coulters am Streit um die sogenannten Boston-College-Bände ist leicht zu erklären. Im Laufe der Jahrzehnte hat er nicht wenige Interviews mit damals noch aktiven Mitgliedern der IRA, UDA und UVF geführt. Sollte der PSNI den aktuellen juristischen Streit gewinnen, befürchtet er, zwecks angeblicher Klärung älterer Mordfälle zur Preisgabe seiner Quellen gezwungen zu werden. Mit Coulter sprach der Schattenblick am 10. Januar im Europa Hotel im Herzen Belfasts, das auf dem Höhepunkt der "Troubles" immer wieder das Ziel von Autobombenanschlägen gewesen ist.

Außenfassade des Europa Hotels - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das berühmt-berüchtigte Belfaster Europa Hotel
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Dr. Coulter, könnten Sie uns etwas über Ihren Lebenslauf erzählen und wie Sie zum Journalismus gekommen sind?

John Coulter: Ich bin der Sohn eines presbyterianischen Pfarrers wie zugleich ranghohen Logenbruders des Oranierordens und der Royal Black Institution. Ich bin in einer vom Unionismus, protestantischen Fundamentalismus und dem Oranier-Orden sehr stark geprägten Umgebung in Ballymena, in dem sogenannten Bibel-Gürtel in der Grafschaft Antrim, aufgewachsen.

SB: Dort, wo nämlich Ian Paisley herkommt und auch lange Jahre der Bezirksabgeordnete im britischen Unterhaus gewesen ist.

JC: Ganz genau. Man könnte vielleicht sagen, ich habe die Oranier-Kultur mit der Muttermilch eingesogen. Als Jugendlicher hatte ich nicht die geringste Absicht, eine journalistiche Laufbahn einzuschlagen, sondern wollte in die Fußstapfen meines Vaters treten und evangelischer Geistlicher werden. Doch mit 18 habe ich mit einigen Vertretern des liberalen Flügels bei uns in der Gemeinde die Klingen gekreuzt. Sie nahmen an meiner Liebe zur Heavy-Metal-Musik Anstoß und machten deshalb mein Leben zur Hölle. Sie hielten mich für eine Art Abkömmling Satans.

SB: Habe ich Sie richtig verstanden, das waren Vertreter des "liberalen" Flügels?

JC: So ist es. Was meinen Sie, was los gewesen wäre, hätten die Fundamentalisten in der Gemeinde von meinen musikalischen Vorlieben erfahren? Wäre der Scheiterhaufen damals noch en vogue gewesen, wäre ich mit Sicherheit dort gelandet. Als Kind eines presbyterianischen Pfarrers hatte man es in den siebziger Jahren im nordirischen Bibel-Gürtel nicht leicht.

Ganz durch Zufall bin ich zum Journalismus gekommen. Irgendwann ist Maurice O'Neill, damals Chefredakteur beim Ballymena Guardian, an meinen Vater herangetreten, weil er einen Artikel darüber schreiben wollte, wie es ist, ein presbyterianischer Pfarrer zu sein. Schnell verbreitete sich innerhalb unserer Gemeinde die Nachricht, daß die örtliche Presse ein Interview mit meinem Vater führen sollte. Im Zuge dessen ließen die Leute, die mir bis dahin das Leben unerträglich gemacht hatten, mit ihrer Drangsalierung nach. Ich brachte die beiden Sachen miteinander in Verbindung und erkannte in dem Moment die Macht der Medien. Also dachte ich mir, wenn der Journalismus den Menschen Respekt einflößt und einem einen sicheren Hafen im Leben bietet, dann werde ich halt Zeitungsreporter. Meinen Plan, Geistlicher zu werden und Theologie zu studieren, habe ich von einem Moment auf den anderen über Bord geworfen. Statt dessen habe ich mich für den Studiengang Medienwissenschaft, der gerade an der University of Ulster in Coleraine eingeführt wurde, umentschieden.

Als Jugendlicher war ich ein begeistertes Mitglied der Boys Brigade.

SB: Was ist das? So etwas wie die Pfadfinder, aber nur für Protestanten?

JC: Genau. Ich denke das Äquivalent im Süden wäre die Catholic Boy Scouts Association of Ireland. Die Boys Brigade steht den protestantischen Kirchen nahe, nutzt in der Regel deren Räumlichkeiten und trägt deshalb den Spitznamen das "christliche Paramilitär". Gegen Ende meiner Schulzeit habe ich die höchste Auszeichnung bei der Boys Brigade, die Queen's Badge, verliehen bekommen. Zufälligerweise suchte damals der bereits erwähnte Maurice O'Neill jemanden, der für den Ballymena Guardian Notizen von der Boys Brigade schreiben könnte.

SB: Das dürfte wohl nach dem Interview mit Ihrem Vater gewesen sein, oder?

JC: So ist es. Ich habe O'Neill den Vorschlag gemacht, daß ich die regelmäßigen Berichte über die Aktivitäten der Boys Brigade schreibe, und er hat ihn angenommen. Das war mein Einstieg ins Pressegeschäft. Also hatte ich gleich meine erste Kolumne, die ich Bugle Call nannte und in der ich über alles rund um die Boys Brigade berichtete.

SB: Mit einer entsprechenden kleinen Grafik eines Bügelhornspielers, nehme ich mal an? (lacht)

JC: Genau so, ein plietscher Junge, der das Hornsignal bläst. (lacht) Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, sozusagen als Reporter die Kirche unserer Gemeinde der Boys Brigade wegen zu besuchen und mich genau neben den Leuten zu plazieren, die mich früher wegen Heavy Metal et cetera dauernd verspottet und gehänselt hatten. Sie trauten sich aus Angst, ich würde alles in der Zeitung wiedergeben, nicht, den Mund aufzumachen. Ich habe meine neue Macht voll ausgekostet.

SB: Bugle Call war nur der Einstieg. Wie ging es weiter?

JC: An der Universität in Coleraine hatte mein Mentor, ein Dozent namens Des Cranston, großen Einfluß auf mich. Von ihm haben wir gelernt, wie man Beiträge für Funk und Fernsehen produziert. Das gefiel mir so gut, daß ich aus zweiter Hand ein altes Tonbandgerät Marke Uher gekauft habe. Damit bin ich zur BBC in Belfast gegangen und habe gefragt, ob sie Interviews oder kleine Reportagen aus der Ballymena-Region gebrauchen könnten. Radio Ulster, der regionale Radiosender der BBC, ging auf mein Angebot ein und nahm mir hin und wieder kleinere Lokalgeschichten ab. Nachdem ich mein Studium 1981 abgeschlossen hatte, trat ich der National Union of Journalists (NUJ) bei. Die Akkreditierung bei ihr verschaffte mir Zugang zur Nachrichtenredaktion der BBC in Belfast. Für sie arbeitete ich zwei Jahre lang als Freiberufler. Danach habe ich als Journalist eine Festeinstellung beim Belfast Newsletter bekommen. Dort wurde ich Korrespondent für Bildung und Religion.

John Coulter im Foyer des Europa Hotels - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. John Coulter
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Da kam Ihnen Ihre religiös-theologische Erziehung zugute, nehme ich stark an.

JC: Aber sicher. 1988 stieg ich in die Geschäftsleitung bei der Northern Newspapers Group ein, zuerst als stellvertretender Chefredakteur bei einer kleinen Lokalzeitung in Larne und danach als Chefredakteur bei einer in Carrickfergus. Jene Zeitungskette ist in der Northern Alpha Group aufgegangen, deren Besitzer John Taylor ist, der ehemalige nordirische Innenminister und Abgeordnete der Ulster Unionist Party (UUP) im britischen Unterhaus, der heute als Baron Kilclooney of Armagh dem House of Lords angehört. Während dieser Zeit habe ich gelegentlich Artikel verfaßt und veröffentlicht über Dinge, die mich besonders interessierten. Und das Thema, das mich damals mehr als alles andere interessierte, war "collusion", die geheime und illegale Zusammenarbeit zwischen der nordirischen Polizei, dem britischen Inlandsgeheimdienst MI5 und den britischen Streitkräften mit den loyalistischen Paramilitärs von der Ulster Defence Association (UDA) und Ulster Volunteer Force (UVF) im Kampf gegen die Irisch-Republikanische Armee (IRA).

Als ich damals anfing, herumzuschnüffeln, war "collusion" ein absolutes Tabuthema. Mehrere Kollegen haben mir davon abgeraten, mich damit zu befassen. Ich ließ mich aber nicht beirren. Schließlich habe ich mich mit dem in England lebenden Sean McPhilemy von der privaten Fernsehfirma Box Productions zusammengetan. Wir haben gemeinsam eine Dokumentation für die angesehene Sendereihe Dispatches des britischen Fernsehsenders Channel 4 produziert. Die Sendung trug den Titel "The Committee", eine Anspielung auf den Führungszirkel innerhalb des unionistischen Blocks, der die Aktivitäten der loyalistischen Todesschwadronen koordinierte. Sie hat durch die Ausstrahlung im Oktober 1991 für eine Riesenaufregung gesorgt. [1] Es hagelte Kritik seitens ranghoher Politiker in Belfast und London. McPhilemy wurde als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt und mußte sich vor Gericht wegen des Vorwurfs der Diffamierung jahrelang verteidigen. Gegen McPhilemy wie auch gegen mich, der einen Gutteil der Recherchearbeit in Nordirland gemacht hatte, gab es glaubhafte Todesdrohungen. Ich sah mich mit der Wahl konfrontiert, entweder aus dem Journalismus auszusteigen oder Irland zu verlassen.

SB: In England mußte McPhilemy für einige Zeit mit seiner Familie die Wohnung wechseln und unter Polizeischutz gestellt werden. Für Sie war die Lage noch prekärer. Sie befanden sich in Nordirland und dürften aufgrund ihrer Herkunft als Verräter an der protestantischen Sache gegolten haben.

JC: So war es. Zum Glück konnte mir mein Vater, Robert Coulter, aus der Klemme helfen. In der Zwischenzeit hatte er sein Pfarramt aufgegeben und war Berufspolitiker bei der UUP geworden. Durch seine Kontakte an den entscheidenden Stellen konnte er erreichen, daß ich in Ruhe gelassen wurde und in Nordirland bleiben durfte.

SB: In Ruhe gelassen von wem? Von den loyalistischen Paramilitärs?

JC: Von ihnen wie zugleich von der Polizei. Mein Leben war wirklich in Gefahr. Früher trug ich an der Schule wegen meiner Größe - ich war der zweitkleinste Junge meines Jahrgangs - den Spitznamen "Budgie" Coulter (Budgie ist die gekürzte Version des Wortes Budgerigar = Wellensittich - Anm. d. SB-Red.). Nach der Ausstrahlung der Dispatches-Sendung über das "Committee" wurde mein Spitzname in "Bunting" Coulter verwandelt. Damit wurde unsere Familie mit derjenigen der Buntings verglichen. Major Ronald Bunting war ein Kampfgefährte der frühen Tage von Ian Paisley, mit dem er 1968 den berühmten Überfall loyalistischer Schläger auf die Teilnehmer eines Protestmarsches der Bürgerrechtsbewegung an der Brücke bei Burntollet plante und durchführen ließ. Aus Empörung über das Ereignis schloß sich sein Sohn Ronnie der republikanischen Bewegung an und wurde Kämpfer zuerst der IRA und später der sozialistischen Irish National Liberation Army (INLA). Aus unionistisch-loyalistischer Sicht galt Ronnie Bunting als Judas schlechthin. 1980 fiel er einem brutalen Attentat, für das die UDA die Verantwortung übernahm, zum Opfer. Vor diesem Hintergrund trug mein neuer Spitzname eine eindeutige und für mich beängstigende Botschaft. Demnach machte ich, obwohl ich selbst Verwandte bei der nordirischen Polizei durch Anschläge der IRA verloren hatte, Propagandaarbeit für die "Terroristen", indem ich den unbegründeten Vorwurf gegen Mitglieder der Royal Ulster Constabulary (RUC) erhob, sie steckten mit loyalistischen Paramilitärs unter einer Decke.

Darüber hinaus kam es zu Auswirkungen in meinem unmittelbaren Bekanntenkreis. Ein Kumpel von mir, dessen Vater RUC-Kommissar war, hat mich gebeten, das Haus seiner Familie niemals wieder zu besuchen. Er hatte Angst, irgendwelche Leute kämen auf die Idee, daß sein Vater einer meiner Quellen für die Committee-Dokumentation gewesen wäre. Er war es aber nicht. Ich hatte mit ihm über solche Sachen nicht ein Wort gewechselt. Wenn auch mit Bedauern habe ich den Wunsch meines Kumpels respektiert, denn ich wollte seinen Vater nicht in Gefahr bringen. Nicht wenige journalistische Kollegen wandten sich von mir ab. Sie unterstellten mir, ich hätte mir die Geschichte aus den Fingern gesogen, um einen großen Coup zu landen und Schlagzeilen zu produzieren.

SB: Sie und McPhilemy sind damals von konservativen Teilen der britischen Presse, allen voran der Times of London, aufs heftigste angegriffen worden. Es hieß, sie wären den mutigen, selbstlosen Polizisten Nordirlands in den Rücken gefallen und hätten wissentlich IRA-Propagandalügen verbreitet. Das Ganze landete schließlich vor Gericht, nicht wahr?

JC: Das stimmt. Wir waren mit der Enthüllung einfach zu früh. Damals tobte der Bürgerkrieg noch. Der britische Staat konnte nicht zugeben, bei der Bekämpfung der IRA auf die Hilfe der Loyalisten zurückgegriffen zu haben. Im Grunde war es ein offenes Geheimnis, das jedoch nicht beim Namen genannt werden durfte. Heute ist die Lage etwas entspannter. Es hat mehrere Untersuchungen gegeben, die eine Verwicklung staatlicher Akteure in die mörderischen Umtriebe der UDA und der UVF nachgewiesen haben. Das bekannteste Beispiel ist der Fall der Erschießung des katholischen Menschenrechtsanwaltes Patrick Finucane im Jahre 1989 in der Küche seiner Wohnung in West Belfast vor den Augen seiner Frau und drei Kindern durch maskierte UDA-Männer. Ende letzten Jahres hat der britische Premierminister David Cameron in einer offiziellen Stellungnahmne vor dem Unterhaus in London eingeräumt, daß es hier zur "collusion" gekommen war und sich dafür im Namen des Vereinigten Königreichs bei der Finucane-Familie entschuldigt. Angesichts des jüngsten Kenntnisstandes denke ich, daß meine früheren Bemühungen um Aufklärung in dieser Angelegenheit vollkommen gerechtfertigt waren, und ich empfinde daher eine gewisse Genugtuung.

SB: Wie ging es für Sie damals weiter?

JC: Aufgrund seiner Kontakte war mein Vater in der Lage, einen Deal für mich zu machen. Der sah so aus, daß ich in Nordirland bleiben durfte, dafür jedoch aus dem Journalismus aussteigen mußte. Also habe ich meine Seele verkauft und bin Leiter der PR-Abteilung bei der Sandown Homes Group, seinerzeit der größte Betreiber privater Pflegeheime in Nordirland, geworden. Durch die Arbeit dort konnte ich meine Familie ernähren und die Hypothek bezahlen, aber ich habe mich zu Tode gelangweilt. Das Kontroverseste, was ich während meiner 16 Monate in der Position gemacht habe, war ein Interview mit einer alten Dame für die heiminterne Zeitung, in dem diese mir erzählte, wie sie während des Zweiten Weltkrieges als junge Frau Geschlechtverkehr auf einer Heumiete gerade in dem Moment trieb, als die deutsche Luftwaffe im Himmel über Belfast auftauchte und die Stadt bombardierte. Jedenfalls habe ich bereits Ende 1993 überlegt, wie ich einen Wiedereinstieg in den Journalismus schaffen könnte.

SB: Damals lag Veränderung in der Luft. Der Waffenstillstand der IRA sollte nur ein halbes Jahr später erfolgen.

JC: Ja, die Lage entspannte sich allmählich. Doch meine Frau wollte nicht, daß ich wieder Vollzeitjournalist werde. Sie kannte meine Neigung, brisanten Geschichten nachzugehen, und sorgte sich um meine Sicherheit. Sie hatte nicht ganz Unrecht, denn ich habe einige Coups mit Berichten aus dem paramilitärischen Milieu - sowohl auf republikanischer als auch auf loyalistischer Seite - gelandet. Jedenfalls habe ich einen Vertrag auf Teilzeit- bzw. freiberuflicher Basis mit der in Dublin erscheinenden Irish Times ergattern können. Die erste Geschichte für sie drehte sich um illegale Kneipen, über die die Paramilitärs einen Gutteil ihres Einkommens bestritten. Dank meiner Kontakte in der Szene konnte ich einen dieser "drinking clubs" auf republikanischer und einen auf loyalistischer Seite besuchen. Als meine geliebte Gattin Wind von dem Artikel bekam, stellte sie mir ein Ultimatum: Ich mußte zwischen ihr und einer Vollzeitkarriere im Journalismus wählen. Ich entschied mich für das erstere. Wie der Zufall so will, wollte just zu dem Zeitpunkt das Belfast Metropolitan College den neuen Posten eines Dozenten für Journalismus besetzen. Ich habe mich beworben und die Stelle bekommen. Das war die perfekte Lösung. Dadurch hatte ich ein gesichertes Einkommen für meine Familie, brachte junge Menschen das Einmaleins des Journalismus bei und konnte nebenbei die eine oder andere Geschichte schreiben und veröffentlichen.

SB: Und aus dem PR-Betrieb sind Sie vollkommen ausgestiegen?

JC: Selbstverständlich, denn die Langeweile dort war unerträglich. In journalistischen Kreisen habe ich über die Jahre mein Profil schärfen können. Obwohl ich weiterhin hauptberuflich als Dozent arbeite, bin ich irgendwann auch Nordirland-Korrespondent des in Dublin erscheinenden Massenblatts Daily Star geworden. Hin und wieder mache ich ein Interview mit dem einen oder andern Paramilitär, doch meine Frau sieht das Ganze viel entspannter als früher, Gott sei Dank.

SB: Solange nicht der alte Konflikt wieder aufflammt, nehme ich einmal an. Um auf das "Committee" zurückzukommen: Sie haben in diesem Zusammenhang vor kurzem in einem Artikel, der sowohl beim Daily Star als auch bei Anthony McIntyres Blog The Pensive Quill erschienen ist, von einem "inneren Zirkel" innerhalb des protestantischen Establishments gesprochen. Inwieweit existiert jener "innere Zirkel" noch heute? Waren damals unionistische Politiker in das Mordgeschehen involviert oder lief alles lediglich auf der operativen Ebene zwischen loyalistischen Paramilitärs und einzelnenen Mitgliedern des Sicherheitsapparats - Polizei und Militär - ab?

JC: Ich denke, letzteres ist der Fall gewesen. Mitte der achtziger Jahre hatte der Sicherheitsapparat in Nordirland große Probleme, bekannten IRA-Aktivisten strafrechtlich etwas nachzuweisen. Gleichzeitig schadeten sogenannte Shoot-to-kill-Aktionen, bei denen Mitglieder des Special Air Service (SAS) auf frischer Tat ertappte IRA-Freiwillige nicht festnahmen, sondern einfach liquidierten, dem demokratischen Ruf Großbritanniens. Gelungene Zugriffe wie die spektakuläre Erschießung dreier IRA-Kämpfer in Gibraltar im März 1988 waren PR-technisch einfach kontraproduktiv. Man bedenke die ungeheure Kontroverse, welche die Sendung "Death on the Rock" im April desselben Jahres auslöste. Die Regierung Margaret Thatchers sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, Mairéad Farrell, Danny McCann und Sean Savage unter dem Vorwand der Festnahme einfach ermordet zu haben.

SB: Sie meinen, die taktischen Siege auf dem Schlachtfeld waren den strategischen Ansehensverlust in der Öffentlichkeit nicht wert?

JC: Genau. Zu diesem Schluß sind die Verantwortlichen in Belfast und London gekommen. Der "innere Zirkel" ist als Antwort auf dieses Problem entstanden. Es sollten Wege geschaffen werden, wie man die Loyalisten mit nachrichtendienstlichen Informationen versorgt, damit sie die Drecksarbeit für das britische Militär übernahmen und IRA-Mitglieder, die in Verdacht standen, Soldaten oder Polizisten getötet zu haben, erledigten. Darüber hinaus sollten IRA-Aktivisten, die als unerschütterliche Verfechter der Strategie des "langen Krieges" bis zum militärischen Sieg galten, aus dem Weg geräumt werden, damit innerhalb der republikanischen Bewegung die Gemäßigten die Oberhand gewinnen und die Entwicklung in Richtung Friedensprozeß treiben konnten. Ein Beispiel für letztere Vorgehensweise ist der berühmt-berüchtigte Überfall von Loughgall, als 1985 alle acht Mitglieder eines IRA-Kommandos, das die Polizeiwache dort in die Luft sprengen wollte, sowie ein unbeteiligter Zivilist von 25 SAS-Soldaten aufgelauert und in einem Hinterhalt erschossen wurden. Das waren für die IRA die höchsten Verluste an einem Tag während der ganzen Troubles.

Der Sandy Row Rangers Supporters Club läßt grüßen - Foto: © 2013 by Schattenblick Der Sandy Row Rangers Supporters Club läßt grüßen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Symbolträchtiges Transparent in der Belfaster Loyalisten-Hochburg Sandy Row. Man bekennt sich zum schottischen Fußballverein Glasgow Rangers, zur britischen Krone, zur nordirischen Provinz Ulster (die rote Hand auf weißem Hintergrund) sowie zur schottischen Biermarke Tennent's (das rote T)
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Es gibt die These, wonach der Anführer des Kommandos, Jim Lynagh, deshalb sterben mußte, weil er innerhalb der IRA als wichtigster Verfechter einer Strategie der verbrannten Erde galt. Demnach sollte die IRA alle Anlagen der britischen Armee und der nordirischen Polizei in den drei westlichen Grafschaften Derry, Tyrone und Fermanagh sowie im Süden von Armagh zerstören, um jene Teile der Provinz mit überwiegend katholischer Bevölkerung zu befreien und das von London kontrollierte Gebiet auf das protestantische Kernland in den Grafschaften Antrim und Down sowie im Norden von Armagh zu reduzieren. Wenn die Briten merkten, daß sie lediglich einen kleinen Brückenkopf im Nordosten Irlands halten könnten, würden sie ihre Streitkräfte abziehen. In einer solchen Situation würden sich die Unionisten der Wiedervereinigung der Insel endlich beugen. So jedenfalls lautete der Plan.

JC: Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer Vietkong-Strategie, und zwar deshalb, weil ich glaube, daß der Gruppe um Lynagh ein ähnliches Ende des Nordirland-Konfliktes wie dasjenige des Vietnamkrieges vorschwebte. Es gab innerhalb der IRA einen harten Kern, dessen Mitglieder fest an eine militärische Lösung der aus ihrer Sicht britischen Besatzung Nordirlands glaubten. Ähnlich wie 1975 die Vietcong in das damalige Saigon einrückten, worauf die Amerikaner Hals über Kopf per Hubschrauber die US-Botschaft evakuieren mußten, wollten sie den Briten dermaßen zusetzen, daß sie am Ende keine Alternative hätten, als am Hafen von Larne ihre Armee mit Schiffen abzuholen und sie zurück nach Großbritannien zu transportieren. Ich stimme Ihnen also zu. Jim Lynagh war der Anführer dieser Gruppe und wurde deshalb in Loughgall zusammen mit seinen engsten Vertrauten der gefürchteten, weil schlagkräftigen East Tyrone Brigade der IRA extralegal hingerichtet, um den Weg für einen Waffenstillstand und den späteren Friedensprozeß freizumachen. Davon bin ich vollkommen überzeugt. Doch solche SAS-Einsätze waren höchst umstritten und nach Gibraltar politisch nicht mehr vermittelbar. Es mußte ein anderer Weg gefunden werden, wie man bekannte IRA-Leute, die man strafrechtlich nicht zu fassen bekam, aus dem Verkehr ziehen könnte - und zwar für immer. Man griff auf die UDA und die UVF zurück und setzte sie als Todesschwadronen ein. Staatliche Stellen, welche die IRA und ihre Sympathisanten unter Beobachtung hielten und Informationen über sie sammelten, ließen den Loyalisten entsprechende Erkenntnisse zukommen, damit sie das Töten übernahmen. Keine staatliche Akteure waren unmittelbar daran beteiligt. Armee, Geheimdienst und Polizei blieben im Hintergrund.

Eines der bekanntesten Beispiele für jene Vorgehensweise ist der Überfall im Dorf Cappagh in der Grafschaft Tyrone im Jahr 1991. Eine Einheit der UVF fuhr vollkommen unbehelligt in die republikanische Hochburg, marschierte in die Dorfkneipe und erschoß drei IRA-Kämpfer sowie einen katholischen Zivilisten, um gleich wieder davonzurasen. Bei den Tätern soll es sich um Angehörige einer in Portadown in der Grafschaft Armagh ansässigen, von Billy Wright angeführten Einheit der Mid-Ulster Brigade der UVF gehandelt haben. Bis heute steht der Verdacht im Raum, daß die UVF die Informationen über den Aufenthaltsort der drei IRA-Männer von Kontakten beim Ulster Defence Regiment (UDR), damals der örtliche Kampfverband der britischen Armee in Nordirland, hatte. Auf dem Weg nach Cappagh sowie bei der anschließenden Flucht sollen die Täter zudem die Hilfe der RUC erhalten haben, die entweder zu spät oder an den falschen Stellen Straßensperren errichtete.

SB: Waren auch unionistische Politiker in diese Machenschaften verwickelt oder lief alles zwischen den loyalistischen Paramilitärs und ihren Führungsoffizieren und Kontakten beim MI5, der RUC und dem UDR ab?

JC: Bei meinen Nachforschungen hatte ich es hauptsächlich mit Leuten auf den unteren Ebenen, unmittelbaren Tatbeteiligten oder deren Auftraggebern und Hintermännern zu tun. Meine Hauptquelle ist ein damals noch im aktiven Dienst befindlicher Polizeibeamter gewesen. Die Politiker gerieten in dem Moment in mein Blickfeld, als ich anfing, Mitglieder einer Gruppe namens Ulster Resistance zu interviewen. Einmal, als ich ein Interview mit einem Kommandeur der Ulster Resistance für die Zeitung Larne Guardian führte, ließ dieser fallen, daß sie mit den Sicherheitskräften zusammenarbeiten und daß sich in ihren Reihen auch Soldaten und Polizisten oder zumindest Leute mit einer militärischen Ausbildung befinden.

SB: Ist das die Kampfgruppe, mit der sich Ian Paisley bei einigen nächtlichen Aufmärschen im Gelände Anfang der achtziger Jahre fotografieren ließ?

JC: Nein. Jene Organisation hieß die Third Force. Sie ging in der Ulster Resistance auf, die 1986 von Paisley, Peter Robinson und anderen führenden Politikern der Democratic Unionist Party (DUP) als Reaktion auf das von ihnen abgelehnte Anglo-Irish Agreement zwischen Dublin und London gegründet wurde. Doch während Paisley, Robinson und ihre DUP-Kollegen sich damit begnügten, Brandreden zu halten und bei entsprechenden Veranstaltungen ein rotes Barett zu tragen, um ihre Kampfbereitschaft zu zeigen, gab es innerhalb der Ulster Resistance Leute, die eindeutig militärische Ziele verfolgten. Diese Personen arbeiteten mit der UDA und der UVF zusammen und haben mit ihnen 1988 größere Mengen Waffen aus Südafrika illegal importiert. An der Aktion war auch der legendäre UDA-Nachrichtenchef, Brian Nelson, der als Doppelagent für den britischen Inlandsgeheimdienst MI5 und die Force Research Unit (FRU) des Militärgeheimdienstes arbeitete, beteiligt.

SB: Jüngsten Erkenntnissen zufolge befanden sich unter jenen Waffenlieferungen aus dem Apartheidssüdafrika an die nordirischen Loyalisten auch Munition und Gewehre aus palästinensischen Beständen, welche die Israelis beschlagnahmt hatten.

JC: Davon habe ich inzwischen auch gehört.

SB: Bleiben wir ein Moment beim Thema Loughgall. Seit 2011 findet in Dublin eine Untersuchungskommission statt, die unter dem Vorsitz des Richters Peter Smithwick die Umstände des Jonesborough-Überfalls aufklären soll. Hier geht es um die Ermordung der beiden RUC-Kommissare Harry Breen und Bob Buchanan bei einem IRA-Überfall 1989 in South Armagh nahe der Ortschaft Jonesborough. Breen und Buchanan sind die beiden ranghöchsten Polizeibeamten, die während der Troubles gewaltsam starben. Am Tage ihres Todes hatten sie an einem Treffen mit Kollegen bei der Polizei in der Irischen Republik in der grenznahen Stadt Dundalk teilgenommen. Es soll geklärt werden, ob es unter den Mitgliedern der Garda Síochána in Dundalk einen Spitzel gab, der die IRA über Zeitpunkt und Route der Rückkehr Breens und Buchanans in den Norden informierte und den Überfall erst ermöglichte. Ehemalige IRA-Mitglieder, die in den Anschlag verwickelt waren, haben in schriftlichen Aussagen für die Untersuchungskommission bestritten, einen Informanten bei der Garda in Dundalk gehabt zu haben, und behauptet, die Bewegungen der beiden RUC-Offiziere im Vorfeld des Überfalls selbst ausgespäht zu haben.

Breen war als RUC-Verbindungsoffizier in die SAS-Liquidierung der acht IRA-Mitglieder verwickelt gewesen. Es gibt Hinweise, wonach die beiden RUC-Beamten auf der Rückfahrt von Dundalk nach Belfast von der IRA-Brigade von South Armagh ursprünglich nicht getötet, sondern entführt werden sollten, damit Breen zu Loughgall vernommen werden konnte. Schließlich stand und steht bis heute der Verdacht im Raum, der SAS sei auf den Angriff auf die Polizeiwache in Loughgall nur deshalb so gut vorbereitet gewesen, weil es einen Maulwurf innerhalb der IRA gab, der vorab die Pläne der East Tyrone Brigade an die Behörden verriet. Es wird spekuliert, daß die beiden Polizisten in Jonesborough nicht entführt, sondern getötet wurden, um den Maulwurf zu schützen und seine Identität geheimzuhalten. Für diese Vermutung sprechen Hinweise, wonach Fred "Stakeknife" Scappaticci, ein angeblicher Doppelagent des britischen Militärgeheimdienstes innerhalb der IRA-eigenen Sicherheitsabteilung, derjenige gewesen ist, der die Änderung der Operationspläne vornahm. Wiederum gibt es Spekulationen, daß er dies auf Veranlassung von Martin McGuinness, dem heutigen Sinn-Féin-Vizepräsidenten und Stellvertretenden Premierminister Nordirlands, getan hat, der damals als Mitglied des IRA-Generalstabs und besagter Maulwurf eventuell in Absprache mit London dabei war, auf heimlichen Umwegen für eine Schwächung der Militaristen innerhalb der republikanischen Bewegung zu sorgen. Was sagen Sie zu diesen Überlegungen?

JC: Ich kann auf jeden Fall eines feststellen: Alle IRA-Leute, denen ich im Laufe meiner Arbeit begegnet bin, waren auf Martin McGuinness ganz schlecht zu sprechen. Ich habe wiederum mehr als einmal Sinn-Féin-Leute gebeten, die von Ihnen angerissenen Verdachtsmomente zu kommentieren. Sie haben kategorisch bestritten, daß an der Geschichte etwas dran wäre. Um niemanden zu diffamieren, habe ich es aus journalistischer Sicht dabei belassen. Bedenkt man den ungeheuren Erfolg des Loughgall-Überfalls für die Briten - mit einem Schlag gelang es dem SAS, eine ganze Active Service Unit (ASU) der IRA auszuschalten -, kommt man um die Erkenntnis nicht herum, daß es einen Maulwurf gegeben haben muß. Es gibt auch eine Theorie, wonach sich der Maulwurf unter den acht getöteten IRA-Mitgliedern befand.

SB: Stimmt. Derzufolge hätte er am Tag des Angriffs auf die Polizeiwache ein Erkennungszeichen wie eine rote Mütze tragen sollen, damit ihn der SAS nicht erschießt, hätte es aus irgendeinem Grund aber versäumt, weshalb er mitgetötet wurde.

JC: Genau. Es besteht auch der Verdacht, er habe die rote Mütze, oder was immer es war, getragen und sei trotzdem vom SAS getötet worden. Demnach wäre durch die Ausschaltung der kompletten, von Jim Lynagh geführten ASU der East Tyrone Brigade seine Funktion erfüllt worden und er selbst überflüssig geworden. Indem man ihn tötete, hat man auch einen potentiell gefährlichen Zeugen illegaler staatlicher Umtriebe beseitigt. Bedenkt man den hohen Rang, den Breen und Buchanan innerhalb der RUC innehatten und das Wissen, über das sie verfügt haben mußten, dann war es meines Erachtens aus Sicht der IRA ein absolutes Eigentor, sie zu ermorden, statt sie zu verschleppen und auszuquetschen. Danach hätte man sie immer noch töten können. Durch ihre Ermordung ist der IRA eine ganze Menge wichtiger Informationen verlorengegangen. Wie man es verantworten konnte, darauf zu verzichten, ist mir aus militärischer oder nachrichtendienstlicher Hinsicht schleierhaft. Wenn es aber den einen oder anderen Doppelagenten innerhalb der IRA gegeben hätte, der durch die Erkenntnisse, die man bei der Vernehmung und eventuellen Folter von Breen und Buchanan hätte gewinnen können, enttarnt worden wäre, dann läßt sich ein Motiv für ihre rasche Ermordung sofort erkennen.

SB: Sie halten also die These, daß das der Grund ist, warum sie beim Überfall getötet wurden, statt zunächst entführt und dann vernommen zu werden, für plausibel?

John Coulter im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

JC: Durchaus. Als Erklärung ist sie nachvollziehbar. Aber möglicherweise ist einfach etwas schiefgegangen. Vielleicht haben die an der Aktion beteiligten IRA-Freiwilligen die Beherrschung verloren und wild auf das Auto geballert. Oder vielleicht hat jemand ihnen den falschen Befehl gegeben - töten statt entführen. Wir wissen es nicht.

SB: Von der möglichen Verwicklung McGuinness' in die Loughgall- und Jonesborough-Überfälle einmal abgesehen, wissen wir, daß er in den achtziger und neunziger Jahren eine führende Rolle spielte, die IRA vom bewaffneten Kampf abzubringen und die republikanische Bewegung in einen Sinn-Féin-Wahlverein zu verwandeln. Bekanntlich hat er über Jahre, noch während die Troubles liefen, auf IRA-Seite geheime Diskussionen mit Vertretern des MI6 und anderen Abgesandten verschiedener Regierungen in London geführt. Es besteht deshalb auch der Verdacht, seine Bereitschaft, sich mit der Teilung Irlands und dem Verbleib von britischen Streitkräften in Nordirland abzufinden und damit auf die Kernziele der IRA zu verzichten, sei auf seinen konservativen Katholizismus zurückzuführen und daß das für die Briten der entscheidende Hebel bei ihm gewesen sei. Was halten Sie von dieser Idee?

JC: Martin McGuinness hat als Zeuge beim Bloody-Sunday-Tribunal öffentlich zugegeben, ein Mitglied der IRA gewesen zu sein. Genauer gesagt, er hat bestätigt, zum Zeitpunkt des Massakers vom Bloody Sunday in Derry den Posten des Stellvertretenden IRA-Kommandeurs der Stadt innegehabt zu haben. Vor der Untersuchungskommission bestritt er, irgendwelche Schüsse auf die britischen Soldaten abgegeben und somit veranlaßt zu haben, daß diese das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffneten und 14 davon töteten. Nichtsdestotrotz dürfte McGuinness in seiner langjährigen Position als IRA-Kommandeur für zahlreiche Bombenanschläge und Überfälle verantwortlich gewesen sein und somit das Leben einer unbekannten Anzahl von Menschen auf dem Gewissen haben. Möglicherweise hat er sogar eigenhändig die eine oder andere Person umgebracht. Wohlwissend als Christ, daß er nach dem Ableben vor Gott dafür Rechenschaft wird ablegen müssen und ihm wegen seiner Taten ewige Verdammnis droht, hat er sich vielleicht als Reue für den Friedensprozeß stark gemacht und ihm zum Durchbruch verholfen. Aus theologischer Sicht leuchtete mir eine solche Handlungsweise vollkommen ein.

SB: Eines der Probleme im sogenannten Friedensprozeß ist die Tatsache, daß die Unionisten diesen niemals vollkommen angenommen haben. Ihre Haltung zeichnet sich durch Widerwillen und Mißgunst aus - als hätten sie das große Opfer gebracht, um einen Frieden zu ermöglichen, und die katholisch-nationalistische Seite gar keine. Selbst als UUP-Chef David Trimble Ende 1998 in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen bekam, nutze er seine Dankesrede, um Vorwürfe gegen die IRA und Sinn Féin zu erheben. Und obwohl die Irische Republik im Rahmen des Karfreitagsabkommens auf ihren verfassungsmäßigen Anspruch auf die ganze Insel Irland verzichtet hat, was ein ungeheures Zeichen des Willens zum friedlichen Miteinander war, tun die Unionisten bis heute so, als seien sie die großen Verlierer und die Nationalisten hätten immer noch eine Bringschuld zu begleichen. Auf protestantischer Seite ist der Glaube weit verbreitet, daß der Friedensprozeß nur den Katholiken genutzt hat. Daraus speisen sich die jüngsten Flaggenproteste. Woher kommt dieses extreme Negativurteil der Protestanten in bezug auf den Friedensprozeß? Drückt sich damit lediglich die Wagenburg-Mentalität aus oder steckt noch mehr dahinter?

JC: Die Unionisten mögen die Streichung von Artikel II und III der Verfassung der Republik Irland erreicht haben. Sie hatten aber eine andere für sie enorm wichtige Forderung, die bis heute nicht in Erfüllung gegangen ist. Ich spreche hier von der Wiedereingliederung der Republik Irland in das British Commonwealth, aus der sie 1948 ausgetreten ist. Im Rahmen der Verhandlungen um das Saint-Andrews-Abkommen von 2006, das nach langen Streitereien den Weg zur Rückübertragung der Regierungsbefugnisse für Nordirland von London an Belfast und der Bildung der interkonfessionellen Koalition aus DUP und Sinn Féin 2007 freimachte, soll es informelle Nebenvereinbarungen gegeben haben. Hierzu gehört die Zusage Dublins, daß die Republik Irland die erneute Mitgliedschaft im britischen Commonwealth beantragen würde. Auf protestantischer Seite besteht Verärgerung darüber, daß die DUP ihr Veto gegenüber einer Regierungsbeteiligung der einst "terroristischen" Sinn Féin aufgegeben und dafür nicht den Preis ausgezahlt bekommen hat, den sie hierfür zur Bedingung gemacht hatte, nämlich eine Beteiligung Südirlands an der Commonwealth Parliamentary Association (CPA). Man hat das Gefühl, daß man von der irischen Regierung und Sinn Féin übers Ohr gehauen wurde, um es flapsig auszudrücken. Mein Vater war ein großer Verfechter der CPA. Während seiner Zeit - 1998 bis 2011 - als UUP-Abgeordneter im nordirischen Regionalparlament hat er an mehreren CPA-Versammlungen, darunter in Australien, Kanada und Indien, teilgenommen.

Seit dem Einsetzen der internationalen Bankenkrise und dem Platzen der Immobilienblase in der Republik Irland 2008 ist die Regierung in Dublin pleite. Seit 2010 steht sie unter der Kuratel der Troika, bestehend aus Europäischer Zentralbank (EZB), Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF). Nur mit deren Hilfe kann sie ihre Ausgaben bezahlen und muß im Gegenzug drastische Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen durchsetzen. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem Verlust der nationalen Souveränität. Ich würde weitergehen und behaupten, daß die Irische Republik als Projekt gescheitert ist und daß es das Beste für ihre Bürger wäre, würden die 26 Grafschaften dem Vereinigten Königreich wieder beitreten. Auf diese Weise ließe sich die Wiedervereinigung Irlands leicht bewerkstelligen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre der Wiederbeitritt zum British Commonwealth.

SB: Da vertreten Sie eine recht eigenwillige These, Herr Coulter.

JC: Mag sein. Aber lassen Sie uns die momentane Situation genauer unter die Lupe nehmen. Die Eurozone steht am Rande des Zusammenbruchs. Die Zwangsjacke einer gemeinsamen Währung hat die Staaten Südeuropas und mit ihnen Irland in den Ruin getrieben. Sie stehen jeweils vor einem gewaltigen Schuldenberg, auf dessen Abzahlung die Europäische Zentralbank und vor allem Deutschland pochen. In dieser Lage wäre die Republik Irland gut beraten, die Hilfe seines größten Handelspartners Großbritannien, das nicht in der Eurozone ist und mit dem Pfund Sterling immer noch über die eigene Währung verfügt, in Anspruch zu nehmen. Das British Commonwealth ist ein internationaler Machtblock, der der Republik Irland die Möglichkeit böte, sich von der EU etwas zu emanzipieren.

SB: Aber das Commonwealth ist keine Freihandelszone. Die Währung seiner Mitgliedsländer ist nicht einmal an das britische Pfund gekoppelt. So gesehen bietet sie Irland keine wirkliche Alternative zur EU.

JC: Das mag sein. Aber in dem Ausmaß, in dem Großbritannien aktuell auf Distanz zur EU geht, gewinnt das Commonwealth auch für London an Bedeutung. Nicht zufällig hat 2012 William Hague, Außenminister der konservativ-liberalen Koalitionsregierung David Camerons, die Arbeit der britischen Botschaften und Konsulate im Ausland reorganisiert. Um Gelder zu sparen, sollen diese künftig enger mit den Vertretungen der anderen Commonwealth-Staaten kooperieren. In einigen kleineren Ländern sollen die Botschaften Großbritanniens und Kanadas zusammengelegt werden. Australien und Neuseeland erwägen, sich der Initiative anzuschließen. Damit hat sich Großbritannien praktisch aus dem gemeinsamen diplomatischen Korps der EU verabschiedet und die Keimzelle einer Alternative dazu gelegt. Dem rechten Flügel bei den britischen Konservativen sind die Integrationsbestrebungen der EU bereits jetzt zu weit gegangen. Er will eine ganze Reihe von Befugnissen aus Brüssel nach London zurückholen. Die meisten Briten lehnen die Vision eines europäischen Bundesstaates ab und wollen die Souveränität des eigenen Landes bewahren. Sie sehen, wie die EU mit Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien umspringt, und empfinden eine gewisse Erleichterung, daß Großbritannien unter Tony Blair den Euro nicht als Währung übernommen, sondern am Pfund festgehalten hat. Um die Abwanderung vieler Tory-Wähler zur euroskeptischen UK Independence Party (UKIP) zu stoppen, hat Cameron vor kurzem für die nächste Legislaturperiode, also bis 2017, eine Volksbefragung über das Verhältnis Großbritanniens zur EU angekündigt.

SB: 2014 steht ein anderer Plebiszit bevor, nämlich derjenige um die Unabhängigkeit Schottlands. Könnte es sein, daß Londons nachlassende Begeisterung für die EU aus der Erkenntnis stammt, daß sich der Drang Schottlands zur Rückerlangung seiner Eigenständigkeit und zur Beendigung der Union mit England unter anderem aus dem Euroföderalismus speist?

JC: Ich denke schon. Im ersten Moment hört sich die Idee eines unabhängigen Schottlands wie das reinste Hirngespinst an. Doch gingen die ganzen Einnahmen aus dem Verkauf des britischen Nordseeöls an die Regierung in Edinburgh, statt nach London, und baute man, wie ohnehin geplant, die Sektoren Wind- und Wellenenergie kräftig aus, wäre Schottland wirtschaftlich überlebensfähig. Die Cameron-Regierung will auf alle Fälle verhindern, daß eine Mehrheit der Schotten nächstes Jahr für die Unabhängigkeit stimmt. Doch selbst wenn die Scottish National Party (SNP) die Abstimmung nicht gewinnt, sondern die Mehrheit für die Unabhängigkeit leicht verfehlt - wofür derzeit die Umfragen sprechen -, wird Premierminister Alex Salmond auf die Übertragung weiterer Befugnisse von London nach Edinburgh pochen. Dies wiederum könnte Peter Robinson und Martin McGuinness dazu veranlassen, ihrerseits eine größere Eigenständigkeit für Regierung und Parlament in Belfast zu verlangen.

SB: Wie halten es die meisten Unionisten mit dem schottischen Nationalismus? Lehnen sie ihn ab, weil er das Vereinigte Königreich schwächt? Die Flaggenprotestler mögen nicht repräsentativ sein, sind aber über die Beteiligung Sinn Féins an der Regierung in Belfast derart unglücklich, daß sie die Forderung nach der Wiedereinführung der direkten Verwaltung aus London - "direct rule" - lautstark erhoben haben.

JC: Das zeigt deutlich die Grundeinstellung der Loyalisten und der Unionisten. Sie lehnen den irischen und den schottischen Nationalismus gleichermaßen ab und halten am Verbleib im Vereinigten Königreich eisern fest. Das Aufkommen der Flaggenproteste läßt auch eine andere Entwicklung erkennen, nämlich das Auseinanderdriften der unionistischen Parteien und ihrer Wähler in den protestantischen Arbeitervierteln. Dort herrscht nicht nur soziales Elend, sondern auch politische Resignation. In den katholischen Arbeitervierteln gelingt es Sinn Féin bei Kommunalwahlen, den Wahlen zur Regionalversammlung, zum britischen Unterhaus oder zum EU-Parlament regelmäßig eine Beteiligung von bis zu 80 Prozent zu erzielen. In den protestantischen Arbeitervierteln liegt die Wahlbeteiligung dagegen bei rund 35 Prozent. Für die Unionisten bedeutet dies, daß sie künftig Sitze an Sinn Féin verlieren könnten, weil ein Gutteil der eigenen Wählerschaft zu Hause geblieben ist, statt zur Urne zu gehen. Die Flaggenproteste zeigen, in welchem Ausmaß die beiden großen unionistischen Parteien den Kontakt zu den Menschen in den unteren Gesellschaftsschichten verloren haben. Unter der protestantischen Jugend gibt es eine große Anzahl von Menschen, die keine echte Lebensperspektive haben, deren Vorbilder Paramilitärs oder Drogendealer sind, und für die eine Straßenschlacht mit der Polizei der Inbegriff eines gelungenen Abends ist. Sie sind für die Appelle von Berufspolitikern wie Premierminister Robinson oder Michael Nesbitt, dem Chef der Ulster Unionist Party (DUP), nicht mehr zu erreichen. Sie fühlen sich von solchen Leuten verraten.

SB: Auf dem Höhepunkt des Friedensprozesses, kurz nachdem das Karfreitagsabkommen von der Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze in Plebisziten angenommen wurde, gab es die Vorstellung, daß sich die Oraniermärsche, die seit Jahrzehnten jeden Sommer Anlaß zum Streit und gelegentlicher Unruhe liefern, in Volksfeste verwandeln könnten, an denen jeder - selbst nordirische Katholiken aus Westbelfast und Touristen aus Dublin - teilnehmen und Spaß haben könnte. Sie wären nicht mehr bedrohlich. Man müßte nicht befürchten, in eine Schlägerei zu geraten. Diese Vision hat sich jedoch nicht verwirklichen lassen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

SB: Das hat sich deshalb als Fata Morgana erwiesen, weil Sinn Féin die Bedeutung des Oranierordens als Bindemittel der protestantischen Gemeinde Nordirlands erkannt und sich zum Ziel gesetzt hat, ihn zu demontieren. Traditionell war die Oranierloge der Platz, an dem sich der protestantische Landbesitzer und sein Knecht oder der unionistische Fabrikant und der loyalistische Werftarbeiter auf Augenhöhe treffen und ihr gemeinsames Erbe als englisch-schottische Einwanderer und Sieger über das einheimische Katholikenvolk zelebrieren konnten. Es war ein Freimaurertum, das dem politischen Zweck der protestantischen Einheit diente. Sinn Féin hat sich deshalb vorgenommen, die wichtigsten Loyal Orders, den Oranier-Orden, die Royal Black Institution und die Apprentice Boys of Derry zu dämonisieren, um den Zusammenhalt unter den Protestanten zu erschüttern. Und der Weg, wie sie das gemacht hat, war Einspruch gegen die Durchführung verschiedener Oraniermärsche einzulegen, angeblich weil die Belästigung für die katholische Bevölkerung entlang der jeweiligen Route nicht zumutbar wäre. Die Märsche sind das Wichtigste für die Oranierbrüder. Es war klar, daß sie jede Einschränkung ihres traditionellen Rechts, zu historischen Anlässen wie der Schlacht am Boyne 1690 an der "queen's highway" entlang zu marschieren, bekämpfen würden. Ihre Kompromißlosigkeit ließ sie in den Augen der internationalen Öffentlichkeit wie eine nordirische Version des Ku-Klux-Klans erscheinen, was genau der Eindruck war, den Sinn Féin erzeugen wollte.

SB: Ist es aber nicht so, daß viele Logenbrüder des Oranierordens kein Interesse an Umzügen hätten, wenn sie sich nicht dabei explizit als katholikfeindlicher Verein feiern könnten? Dürften sie die Katholiken nicht dabei beschimpfen und keine anti-katholischen, anti-irischen Lieder mehr spielen, gingen sie der nationalistischen Bevölkerung nicht auf den Wecker, und dann würde ihnen das Ganze auch keinen Spaß mehr machen.

Außenfassade der 1874 im romanischen Stil erbauten Sankt-Patrick-Kirche zu Belfast - Foto: © 2013 by Schattenblick

Saint Patrick's Church an der Belfaster Donegall Street, vor deren Toren am 12. Juli 2012, dem großen Marschtag des Oranier-Ordens, der Spielmannszug Young Conway Volunteers (YCV) anti-katholische Lieder spielte und damit eine heftige Kontroverse auslöste.
Foto: © 2013 by Schattenblick

JC: Da ist was dran. Doch inzwischen leidet der Oranier-Orden an einem Mitgliederschwund. Die älteren Mitglieder sterben aus, während die Jugend nicht mehr wie früher nachwächst. Sie haben ein Rekrutierungsproblem. Statt zum Oranierorden zu gehen, machen in den letzten Jahren immer mehr protestantische Jugendliche bei den loyalistischen Spielmannszügen mit. Diese verzeichnen einen regen Zulauf. Ich denke daher, daß Sinn Féin besser beraten gewesen wäre, hätte sie statt gegen die Märsche des Oranierordens gegen die der loyalistischen Spielmannszüge mobilisiert. Letztere waren relativ neu. Der Einspruch wäre leichter zu begründen. Indem Sinn Féin Widerstand gegen wichtige Oraniermärsche leistete und sogar den von Drumcree, den die örtliche Loge dort seit mehr als 200 Jahren am Sonntag vor dem 12. Juli, dem Jahrestages der Boyne-Schlacht, durchführt, entlang der Garvaghy Road gerichtlich verbieten ließ, hat sie meiner Meinung nach ihrem eigentlichen Anliegen, der Wiedervereinigung Irlands, schwer geschadet. Für alle Oranier und damit auch die meisten Protestanten war das ein unverzeihlicher Affront.

SB: Ist es aber nicht so, daß die Flaggenprotestler und die Teilnehmer der loyalistischen Spielmannszüge durch ihre Gewaltbereitschaft, womit die Protestanten der Mittelschicht nichts zu tun haben wollen, dem Unionismus schaden?

JC: Derzeit sind es eher die kurzfristigen Auswirkungen, die mir Sorgen machen. Aufgrund der Gespräche, die ich in letzter Zeit mit Leuten in loyalistischen Kreisen geführt habe, befürchte ich, daß wir am Rande eines neuen Bürgerkrieges stehen, wo nur ein Funke genügen würde, um eine weitere Runde des Blutvergießens auszulösen. Kurz gesagt, die loyalistische Jugend gerät derzeit außer Kontrolle.

SB: In den letzten Jahren hat es seitens Sinn Féins Bemühungen um Versöhnung gegeben. Sie hat unionistische Politiker und protestantische Geistliche eingeladen, Vorträge auf verschiedenen Sinn-Féin-Parteitagen zu halten. An Vergleichbares auf unionistischer Seite kann ich mich nicht entsinnen. Können Sie das erklären?

JC: Für die Unionisten wäre so etwas scheinheilig. Das widerspricht ihrem protestantischen Naturell. Sinn Féin dagegen spielt meisterhaft die Klaviatur der Propaganda. Zum Beispiel sitzt sie in Nordirland mit Martin McGuinness als Stellvertretendem Premierminister in der Regierung und setzt die von London verordneten Sozialkürzungen durch, während sie sich unter der Führung von Fraktionschef Gerry Adams auf den Oppositionsbänken im Dubliner Parlament als erbitterte Gegner derselben Austeritätspolitik der irischen Regierung aufspielt. Im Grunde genommen ist das einzige, womit sich Sinn Féin ernsthaft empfehlen kann, die Tatsache, daß sie die einzige gesamtirische Partei ist, die auf beiden Seiten der Grenze Vertreter in den Kommunen und Parlamenten sitzen hat. Im Norden macht ihr einzig die Social Democratic Labour Party (SDLP) Konkurrenz. Doch die einst stärkste katholisch-nationalistische Partei Nordirlands hat abgewirtschaftet und gilt inzwischen als Altherrenverein, der seine besten Tage hinter sich hat. War Sinn Féin früher die Partei der katholischen Arbeiterschicht, so findet sie in letzter Zeit immer mehr Anhänger bei der Mittelschicht. Um sie wirbt die Partei mit neuen, jungen, ausgebildeten Politikern und Politikerinnen, die mit der IRA niemals etwas zu tun hatten und durch die Troubles völlig unbelastet sind. Zwar baut Sinn Féin nach wie vor stark auf die IRA-Verbindung und die Unterstützung der ehemaligen Kämpfer und Gefängnisinsassen, doch es wächst in ihren Reihen eine neue Politikergeneration heran, die zukunftsorientierter und damit für weite Wählerkreise im Süden genauso wie im Norden attraktiver ist.

SB: Angesichts der Kürzungspolitik, von der Sie sprachen und der sich die Menschen mittleren und niedrigen Einkommens weltweit ausgesetzt sehen, wäre es in Nordirland nicht endlich an der Zeit, daß die katholische und protestantische Arbeiterklasse zusammen etwas dagegen unternimmt?

JC: Leider läßt sich die konfessionelle Kluft, die sich hier über Jahrhunderte verfestigt hat, nicht im Handumdrehen beseitigen. Da muß vor allem im Bildungssektor etwas unternommen werden. Bislang gehen fast alle Kinder und Jugendliche auf Schulen, die religiös in katholische und protestantische strikt getrennt sind. Folglich lernen die meisten nordirischen Kinder beim Aufwachsen niemanden von der anderen Konfession kennen. Die bekanntgewordenen Fälle von Kindesmißbrauch durch Priester haben die katholische Kirche in Irland schwer erschüttert. Die einst mächtigste Institution auf der Insel befindet sich in einer Vertrauenskrise. Waren vor zwanzig Jahren sonntags die Kirchen noch voll, gehen heute fast nur noch Rentnerinnen regelmäßig zur Messe. Nach meinem Dafürhalten bietet die derzeitige Lage der katholischen Kirche die perfekte Gelegenheit für eine umfassende Reform. Sie soll sich vom Vatikan distanzieren und dem protestantischen Beispiel folgen, indem sie das Zölibat für den Klerus abschafft und den Priestern und Nonnen endlich wieder erlaubt, zu heiraten und Familien zu gründen.

SB: Also weg vom Ultramontanismus und zurück zur keltischen Kirche, wenn Sie so wollen?

JC: So könnte man es vielleicht beschreiben. Die katholische Kirche muß das Vertrauen der Gläubigen zurückgewinnen. Ein guter Schritt in die Richtung wäre, wenn der Priester genauso wie der evangelische Pfarrer mit seiner Frau und Familie mitten in der Gemeinde und nicht mehr von ihr getrennt wohnte.

SB: Wäre dadurch die katholische Kirche für den nordirischen Protestantismus weniger eine Bedrohung? Oder würden die Protestanten die Annäherung als Täuschungsmanöver empfinden?

JC: In dem Ausmaß, in dem der Mißbrauchsskandal die katholische Kirche bei den eigenen Angehörigen diskreditiert hat, ist sie auch für Nordirlands Unionisten und Loyalisten weniger als Gefahr wahrgenommen worden. Die katholische Gemeinde erscheint ihnen nicht mehr wie ein von Papst, Bischöfen und Priestern dirigierter Block. Dies hat auch den säkularen Kräften innerhalb von Sinn Féin Auftrieb gegeben. Das gibt mir Anlaß zur Sorge.

SB: Sie sorgen sich wegen des zunehmenden Säkularismus in der nordirischen Gesellschaft? Eigentlich müßte doch der Rückgang der konfessionellen Bindung zu begrüßen sein.

JC: Meiner Meinung nach ist der christliche Glaube zunehmend in Gefahr. Schauen Sie sich die Leute an, die an den loyalistischen Flaggenprotesten teilnehmen. Sie bezeichnen sich selbst als loyalistische Protestanten, aber wann hat einer von diesen Jugendlichen das letzte Mal die Kirche von innen gesehen? Ich glaube nicht, daß das regelmäßige Kirchengänger sind. Ich denke, daß sich der Katholizismus und der Protestantismus zusammentun müssen, um den Säkularismus, den Evolutionismus und den Atheismus, die sich immer mehr in der Gesellschaft ausbreiten, zu bekämpfen. Deshalb habe ich vor einigen Jahren meine eigene Denkfabrik, die Revolutionary Unionist Convention, gegründet. Damit trete ich an für einen einheitlichen christlichen Glauben nach Kapitel 3, Vers 16, des Johannes-Evangelium für das Zusammenschmelzen der verschiedenen protestantischen Gruppierungen Nordirlands zu einer einzigen Unionist Party sowie für die Wiedervereinigung Irlands bei gleichzeitiger Rückkehr des Südens in das Vereinigte Königreich mit Großbritannien.

SB: Das haben Sie sich viel vorgenommen. Ich bedanke mich bei Ihnen, Dr. Coulter, für dieses Interview.

Außenfassade der edwardianischen Crown Bar - Foto: © 2013 by Schattenblick

Belfasts sehenswürdigste Kneipe, die direkt gegenüber dem Europa Hotel liegt
Foto: © 2013 by Schattenblick

Fußnote:

[1] Siehe hierzu die Rezension des Schattenblicks aus dem Jahr 1999:

http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar080.html


23. Februar 2013