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INTERVIEW/001: Prof. Dr. Golczewski über deutsch-polnische Verhältnisse (SB)


Deutsch-Polnische Freundschaft?


So viel Polen war in Deutschland noch nie.

Als im Dezember 1970 Willy Brandt anläßlich eines Staatsbesuches beim östlichen Nachbarn vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos auf die Knie ging und damit ein Zeichen der Entschuldigung und des Versöhnungswillens setzte, löste das im eigenen Land Verwirrung aus und polarisierte die öffentliche Meinung.

Als in der letzten Woche Christian Wulff als neu gewählter Präsident der BRD in Warschau mit seinem ebenfalls frischgebackenen Amtskollegen Komorowski zusammentraf, sprach er sich für eine gemeinsame Zukunft "unter Freunden" aus.

Polen ist in diesem Jahr ein Top-Thema in Deutschland, zahllose Kulturveranstaltungen und Diskussionsforen in der gesamten Republik bezeugen das. Und auch, daß der 600. Jahrestag der Schlacht von Tannenberg am 15. Juli 1410, die als Sieg Polens über Deutschland dort gefeiert wird, den deutschen Medien zahlreiche Berichte und Reportagen wert war, könnte als Zeichen einer grundlegenden Veränderung im Verhältnis beider Staaten gesehen werden.

Es scheint, als seien aus Feinden Freunde, zumindest aber aneinander interessierte Nachbarn geworden.

Anläßlich eines Vortrages über "Probleme des deutsch-polnischen Verhältnisses" im Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe am 7. Juli im Rahmen einer Ausstellung über polnische Architektur hatte der Schattenblick Gelegenheit, einen Experten der Materie, Professor Dr. Frank Golczewski vom Seminar für osteuropäische Geschichte an der Universität in Hamburg, zur jüngsten Entwicklung, ihren historischen Zusammmenhängen und zur aktuellen Lage zwischen den beiden Ländern zu befragen.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Prof. Dr. Frank Golczewski

SB-Redakteurin im Gespräch mit Prof. Dr. Frank Golczewski

Schattenblick: Herr Prof. Golczewski, kann man die Hauptwidersprüche und Ressentiments, die das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland lange Zeit begleitet haben, für unsere Leser in einen übersichtlichen Bogen zusammenfassen?

Professor Golczewski: Die Ressentiments gehen erst einmal von den Polen aus, weil sie von den Deutschen über lange Zeit in ihrer Identität nicht akzeptiert worden sind. In einer Phase, in der anderswo die nationale Eigenkonstruktion stattgefunden hat, wurde versucht, aus ihnen etwas anderes zu machen, als sie selbst es wollten. Das ist im Grunde genommen die größte Beschädigung, die man erfahren kann, wenn man nicht als das akzeptiert wird, was man selber gerne sein möchte, wenn man nicht auf gleicher Ebene akzeptiert wird. In der Phase der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert konnte der polnische Nationalstaat noch nicht entstehen. Und darin ist zunächst einmal eine fundamentale Kränkung zu sehen.

SB: Was ergibt sich daraus an möglichen Konsequenzen für das heutige Verhältnis? Man weiß beispielsweise aus einer Studie des Hauses der Geschichte, daß 61% der Polen vor Eintritt in die EU fürchteten, die Deutschen könnten zurückkommen und das frühere Eigentum wieder einfordern bzw. weiteren Landbesitz erwerben. Ist das nachvollziehbar?

Prof. G.: Faktisch natürlich nicht, weil wir genau wissen, daß kaum ein Deutscher gern dahin ziehen möchte. Und selbst wenn Deutsche das wollten, würde die Bundesrepublik unter den aktuellen Umständen dadurch nicht plötzlich den Anspruch auf dieses Land erheben, das ist ja vertraglich geregelt. Aber das subjektive Empfinden, daß so etwas eine Gefahr ist, ist wahrscheinlich noch über Generationen nicht auszurotten.

SB: Es ist auch zu lesen, Polen werde in die Zange genommen: Territorial durch die von der Bundesregierung finanzierten Vertriebenenverbände, wirtschaftlich durch eine in deutscher Hand befindliche Medienlandschaft und eine sehr einseitige Handelsbilanz und politisch durch die gegenüber Polen von Deutschland dominierte EU. Stimmt dieses Bild?

Prof. G.: Das Bild stimmt genau so, wie man nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland gesagt hat, wir seien hier vollkommen amerikanisiert, weil die Amerikaner die Politik bestimmten, wir Coca-Cola tränken usw., was früher alles anders war. Natürlich ist da eine wirtschaftliche Dominanz in den ersten Jahren nach 1990 gewesen. Heute stimmt das eigentlich, bis auf die Presse, überhaupt nicht mehr, oder richtiger einen Teil der Presse, den Teil, der, ich sage es mal vorsichtig, nicht unbedingt meinungsbildend ist, Illustrierte und so etwas. Aber es gibt ja auch Newsweek, also könnte man genauso gut sagen, Polen sei amerikanisch dominiert. Mit der Wirtschaft ist es so ähnlich wie in der ehemaligen DDR. Da sind die Konzerne hineingegangen und da ist natürlich wirtschaftlicher Besitz entstanden. Jetzt ist aber die Frage, ob man das als Aufbau nimmt oder als Überfremdung.

SB: Viele Polen, heißt es, seien von dem Modernisierungsprozeß ernüchtert. Sie hätten zwar Anschluß an das so genannte Wirtschaftswunder erhalten, aber sie hätten nicht teil daran. Würden Sie das auch so sehen?

Prof. G.: Ja, aber das ist wieder genau das Gleiche wie in der ehemaligen DDR. Die ältere Generation ist ab einem gewissen Alter nicht mehr in der Lage gewesen, sich auf die neuen Verhältnisse umzustellen. Das ist eine verlorene Generation, das sind die Verlierer. Was jüngere Leute betrifft, die haben das in aller Regel als Chance begriffen.

SB: Aber haben sie die tatsächlich? Gerade die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist in Polen besonders hoch.

Prof. G.: Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist hoch. Das liegt unter anderem daran, daß es in Polen sehr viele Kinder gibt - oder bis vor kurzem gab. Mittlerweile geht auch dort die Zahl der Geburten zurück. Auf der anderen Seite erlebt Polen einen Boom. Es ist einer der wenigen Staaten in Europa, die kontinuierliche, relativ hohe Zuwachsraten haben. Selbst in der Wirtschaftskrise, die wir in den letzten Jahren hatten, ist Polen ziemlich gut durchgekommen.

SB: Heißt das, daß die Angst vor dem Abzug von Arbeitsplätzen weiter gen Osten oder nach Asien auch eine eher subjektiv empfundene Furcht ist?

Prof. G.: Es ist die gleiche Angst, die bei uns dazu geführt hat, daß polnische Arbeiter jahrelang hier keine Stelle kriegen durften. Wobei das keine reale Grundlage hat. Großbritannien und Irland z.B. haben den Arbeitsmarkt für Polen freigegeben, und sie sind auch in Massen hingegangen, und eigentlich haben beide Seiten davon profitiert. Jetzt ist Irland in der Krise und das heißt, daß ein großer Teil der Polen wieder abgezogen ist, weil es keine Arbeit mehr gibt. Man geht ja nicht dorthin, wo es keine Arbeit gibt, sondern man geht dorthin, wo Arbeit ist. Und wo Arbeit ist, ist auch der Bedarf nach Arbeitskräften da. Von daher sind diese Phobien für mich absolut unverständlich, weil sie jeder wirtschaftlichen Logik widersprechen. Sie entsprechen einer Vorstellungsweise, die unwirtschaftlich ist und die im Grunde genommen alte Ängste aufkocht.

SB: Aber offensichtlich sehr wirkmächtig ist.

Prof. G.: Ja, das ist wirkmächtig. Es wäre natürlich falsch, diese Ängste einfach zu ignorieren, die sind natürlich da. Im Grunde genommen wäre es die Aufgabe eines Staates, von dem man ja normalerweise annimmt, daß da in dieser Richtung kompetente Leute sind, um solche Phobien zu bekämpfen. Aber gerade in Polen gab es Parteien, die genau davon profitierten, daß sie die Ängste vor den Deutschen und vor der EU schürten und damit an die Macht kamen.

SB: Gehen Sie davon aus, daß sich durch die Wahl des neuen Präsidenten Komorowski gesellschaftlich für Polen etwas ändert?

Prof. G.: Ich würde eher sagen, die Wahl Komorowskis ist eigentlich ein Symptom dafür, daß sich bereits einiges geändert hat. Schon in den letzten Jahren, als Tusk Ministerpräsident war, ist das Verhältnis erheblich besser geworden, als es vorher mit Jaroslav Kaczynski war. Wenn man z.B. einen Rechtsradikalen als Bildungsminister nimmt und damit zum Herrn der Schulen macht, der einer Partei angehört, deren Vorgängerin antideutsch und antijüdisch gewesen ist - dann kann man nicht erwarten, daß auf dieser Basis eine liberale Politik praktiziert wird. Aber der wurde dann ja abserviert und damit ist es natürlich anders geworden.

SB: Die jüdische Problematik ist ja auch in Polen sehr virulent. Nirgendwo auf der Welt gab es eine so große, geschlossene jüdische Bevölkerung vor dem 2. Weltkrieg. Gibt es ein ähnliches Verdrängungsproblem wie in Deutschland, was die Verfolgung und Ermordung von Juden anbetrifft?

Prof. G.: Ja, das ist ja mit der Jedwabno-Sache 2001 ziemlich deutlich geworden. In Jedwabno sind im Juli 1941 Juden von Polen umgebracht worden. Heute gibt es in Polen eine breite Diskussion darüber, ob sich Juden unter sowjetischer Herrschaft im ehemaligen Ostpolen antipolnisch verhalten haben und das dann die Strafe dafür gewesen ist. Das habe im Grunde genommen die Polen dazu gebracht, die Juden für unpatriotisch zu halten und sich deswegen gegen sie zu wenden.

SB: Israel wurde 1967 für seinen Einsatz im Sechstagekrieg von der Sowjetunion als imperialistisch gebrandmarkt. Das haben viele bei den 68er Unruhen in Polen als antisemitisch kritisiert.

Prof. G.: Wobei das nicht nur '68 so war, sondern das gab es auch 1956 im Zuge der Entstalinisierung. Da hat man z.B. polnische Funktionäre, die in der Stalinzeit etwas zu sagen hatten, abgesetzt. Jetzt könnte man sagen, es geschah, weil sie Juden waren, jedenfalls hat man das miteinander verknüpft und gesagt, Juden hätten im Grunde genommen den Kommunismus in Polen bewirkt. Da gibt es das Schlagwort von der 'Judäo-Kommune', der Judenkommune, das meint jüdischen Bolschewismus, Juden und Kommunisten sind dasselbe. In dem Moment, in dem nationale Gefühle hochkochen bzw. instrumentalisiert werden, gibt es immer ein Nebengleis dabei, das antijüdisch ist. Aber das war kein polnisches Spezifikum...

SB: So wenig, wie es ein rein deutsches Spezifikum ist.

Prof. G.: Richtig - das gibt es praktisch überall in Europa. Die Ursachen liegen darin, daß Juden normalerweise eben nicht national sind, jedenfalls nicht auf die europäischen Nationen bezogen. Die Juden, die national sind, also die Zionisten, kann man wieder damit fangen, indem man an ihnen kritisiert, daß sie doch für eine ganz andere Nation sind. Was wollen die dann hier? Oder was wollen sie irgendwo, wo die Palästinenser schon sind? Letztlich ist es immer die gleiche Grammatik: Welches Land gehört zu welchen Menschen? Das ist auch das, was zwischen Deutschen und Polen immer wieder diskutiert wurde und von daher kann man das eben auch auf dem jüdischen Nebenkriegsschauplatz austragen.

SB: Der englische Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet Nationalitäten oder auch Traditionen als Erfindungen, also Konstruktionen.

Prof. G.: Nicht alle sind Erfindungen. Hobsbawm geht so weit zu sagen, es ist eine 'invention of tradition' - nicht unbedingt erfunden, aber konstruiert. Das heißt, ich muß einen bewußten Akt vollziehen, um zu sagen: "Das kommt daher." Wenn ich das nicht sage, weiß es niemand und damit ist es nicht in meinem Bewußtsein. Ich muß eine Verbindung zwischen Punkt A und Punkt B herstellen, damit eine Tradition funktioniert.

SB: Würden Sie sagen, daß diese Traditionsbindung sowohl für junge Polen wie für junge Deutsche zugunsten einer europäischen Zugehörigkeit aufgebrochen werden könnte?

Prof. G.: Das weiß ich nicht. Schon bei jedem Fußballspiel merkt man, daß es nicht so ist. Aber es ist auch nicht gefährlich, denn wenn St. Pauli gegen den HSV spielt, weiß man auch genau, auf welcher Seite man ist, d.h., was man mit seiner Identität verbindet. Das ist nicht national, aber es hat ungefähr die gleichen Kategorien.

SB: Aber es bleibt ja nicht beim Fußball, sondern hier wird ja durchaus und gezielt in Richtung eines neuen Nationalbewußtseins instrumentalisiert .

Prof. G.: Fußball verdeutlicht nur, daß es eine derartige Denkkategorie gibt: Ich identifiziere mich mit Deutschland. Und ich kenne niemanden, der sich mit einer europäischen Mannschaft identifizieren würde.

SB: Und was ist mit der Angst davor, daß, wenn Polen sich auf Europa zubewegt, sich öffnet, an eigener Identität nichts mehr bleibt?

Prof. G.: Ich meine, Europa und eine nationale Identität stehen gar nicht im Widerspruch zueinander. Man kann ja auch Itzehoer und Deutscher sein, das ist kein Widerspruch.

SB: Aber die Angst besteht ja darin, daß ich meine Rechte oder meine Möglichkeiten der Einflußnahme als Pole oder als Deutscher an eine Institution abgebe, die ich weder durchschaue noch in irgendeiner Weise mitbestimmen kann.

Prof. G.: Das zeigt aber eigentlich nur, daß das Bewußtsein von der eigenen Identität schwach ist. Wenn ich Angst habe, meine Identität an Europa zu verlieren, dann denke ich eigentlich mit, daß meine Identität gefährdet ist, daß sie gar nicht so stark ist. Jede Aggressivität und jeder Versuch der Abwehr ist eigentlich immer ein Ausweis der subjektiv empfundenen Schwäche.

Ich nenne ein anderes Beispiel: Ich kenne keinen Russen, der Angst vor Europa hat, weil kein Russe Angst haben muß, seine Identität zu verlieren. Da steckt ein großer Staat dahinter, eine starke Tradition. Im Falle Polens ist das ganz anders. Da hat es noch diese historische Begründung, denn es gibt tatsächlich sehr viele Polen, die ihre nationale Identität verloren haben. Vor allen Dingen an Deutschland und deswegen ist Deutschland, aus dieser polnisch-nationalen Perspektive, eine Gefahr für die eigene Identität. Deswegen wird Erika Steinbach als so gefährlich angesehen, während sie hier niemand wirklich ernst nimmt.

SB: Kann man sagen, daß das polnische Nationalbewußtsein eng verknüpft ist mit einem ständigen Gefühl, sich zur Wehr setzen zu müssen, vergleichbar dem israelischen Bewußtsein?

Prof. G.: Ja. Ich meine, Israel als Staat ist natürlich genauso kontinuierlich gefährdet, ob jetzt nun faktisch oder dem eigenen Gefühl nach, sei mal dahingestellt. Die neuere Geschichtswissenschaft wertet dieses subjektiv empfundene Gefühl erheblich höher als die Faktizität. Das ist genauso wie bei den Börsenkursen, da werden nicht Waren gehandelt sondern die Meinung über Waren. Die ist eigentlich entscheidend, unabhängig davon, ob eine Ware wirklich gut ist.

SB: Das ist das Prinzip der Börse.

Prof. G.: Genau, und in der Geschichte ist es genauso: Ich fühle mich von irgendjemand bedroht. Ob diese Bedrohung real ist, ist absolut uninteressant. Ich habe keine Kontrolle darüber und ich habe auch keine Möglichkeit, das zu messen. Ich sehe nur, daß ich mich im Augenblick bedroht fühle und entsprechend handle ich. Deswegen muß ich mich, wenn ich mein Handeln erklären möchte, nicht auf die Realität beziehen, sondern kann mich auf die subjektive Empfindung berufen.

SB: Wir haben bei uns die sogenannte 68er Zeit als eine Zeit des Aufbruchs erlebt. Auch in Polen gibt es um 1968 eine Aufbruchszeit. Kann man das vergleichen, gibt es da Anknüpfungspunkte?

Prof. G.: Das ist ganz anders, denn hier war ja die Aufbruchszeit nicht national. Im Gegenteil, hier hat sie sich eigentlich am Nationalen der Generation davor abgearbeitet und sie abgelehnt. Die Warschauer Studentenbewegung z.B., die zu den Protesten geführt hat, hat sich mit einem polnisch nationalen Dichter, Józef Ignacy Kraszewski, gegen die Sowjets gewandt, sich also im Grunde genommen für die eigene Nation stark gemacht. Das wäre keinem 68er hier eingefallen. Wenn man will, kann man natürlich auf einer Metaebene wieder eine Gemeinsamkeit finden: die Ausrichtung gegen das Establishment. Und das war eben in Polen sozialistisch-undemokratisch und hier war es liberal-demokratisch, pro-amerikanisch und deswegen war man jeweils dagegen.

SB: Gab es in Polen auch eine Kritik von links, vergleichbar der in der DDR, die den Sozialismus nicht abschaffen, sondern einen anderen Sozialismus wollte?

Prof. G.: Ganz klein, ganz klein. In der 'Politica' z.B., dieser, muß man für die damaligen Verhältnisse sagen, Intellektuellen-Zeitschrift, da wollte man so etwas wie einen intelligenten Sozialismus. Und - auch das ist im Grunde vergleichbar, wenngleich eher damit, was 1968 in der Tschechoslowakei passiert ist - einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

SB: Gab es da Parallelen im Empfinden, in der Ausrichtung, in den Zielen?

Prof. G.: Ja, aber die Gruppen in Polen waren winzig im Verhältnis zur Tschechoslowakei. Und die tschechischen Bestrebungen waren nicht national. Dubcek war Chef der kommunistischen Partei, das heißt, man wollte im Grunde genommen die Partei reformieren, eher vergleichbar mit dem, was Gorbatschow später vorhatte. Gorbatschow wollte ja auch nicht die Sowjetunion beseitigen, sondern er wollte eine gut funktionierende Sowjetunion.

SB: Um noch einmal die Brücke zur Architektur zu schlagen: Gibt es eine polnische Architektur - man könnte die Frage noch weiter stellen - gibt es überhaupt eine nationale Architektur?

Prof. G.: Es gibt Architektur im nationalen Kontext. Ich weiß nicht, ob es eine nationale Architektur gibt. Diese historisierende Bauweise in Polen nach dem zweiten Weltkrieg gibt es ja woanders auch. Nur in Polen hat sie eine politische Funktion, sie steht in diesem Kontext.

SB: Können Sie für unsere Leser kurz erklären, was eine historisierende Bauweise ist? Heißt das, daß man wieder aufbaut, was vorher gewesen ist?

Prof. G.: Was vorher war, aber eben in einem noch früheren Zustand. Man hat ja Warschau nicht so wieder aufgebaut, wie es vor der Zerstörung war, sondern man hat ein mittelalterliches Warschau oder ein Renaissance-Warschau aufgebaut.

SB: Und das war eine polnische Stellungnahme?

Prof. G.: Ja. Es gibt einen Fahrplan zum Wiederaufbau Warschaus: Vor 1938 war es ganz kleinteilig, und dann hat man es großräumig wieder aufgebaut. So ist es in Polen praktisch in allen Städten. Danzig ist auch genau so alt aufgebaut.

SB. Man hat nach alten Vorlagen so wieder aufgebaut, wie es irgendwann einmal gewesen ist?

Prof. G.: Irgendwann, ja, aber nicht in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern im 17. oder 18. Jahrhundert.

SB: Die Generation, die nach dem 2. Weltkrieg aufgewachsen ist, wußte zunächst nicht viel über Polen. Da gab es den 'Eisernen Vorhang' und da war Schluß. Und was dahinter war, das war kein Thema, weil man ja nach Westen gewandt war.

Prof. G.: Ja.

SB: Schon eher bekannt war Polens sehr avantgardistische Kulturszene.

Prof. G.: Die Plakatkunst zum Beispiel.

SB: Die Chefkuratorin des neu projektierten Museums für moderne Kunst in Warschau CoCA, Joanna Zielinska, wird zitiert mit den Worten: "Die Polnische Kunstszene hat viele Jahre verloren. Es gab zwar immer eine starke Avantgardeszene, doch sie hatte nie institutionelle Repräsentanz."

Prof. G.: Also, es gab nicht immer eine starke Avantgardeszene, in der Stalin-Zeit gab es sie nicht, aber dann wurde sie befreit und danach hat sie sich tatsächlich nicht mehr unterkriegen lassen. Ich würde auch nicht unbedingt sagen, daß sie nicht institutionalisiert gewesen sei. Es gab sie natürlich an den Kunsthochschulen, und wenn man das vergleicht mit der DDR oder der Sowjetunion, dann waren die polnischen Künstler absolut frei, was man an der abstrakten Malerei, an den abstrakten Plakaten sieht. So etwas wäre in der Sowjetunion nicht gegangen, sowas wäre in der DDR nicht gegangen, weil es als Formalismus abgelehnt war und auch später nicht gefördert und dann auch nicht praktiziert wurde. In Polen ging das alles. Und in Polen war man auch wahnsinnig stolz drauf, daß man damit Preise in Venedig oder sonst irgendwo gewonnen hat.

Polen war, das muß man natürlich dazusagen - deswegen bin ich mit den heutigen Kritikern nicht unbedingt einer Meinung -, in der kommunistischen Zeit der Staat, in dem man alles sagen konnte. Wenn man sich nicht furchtbar blöd benahm und irgendjemanden richtig beleidigte oder so etwas, passierte einem nichts. Und es gab eigentlich auch keine Denunziationen - das machte man nicht.

SB: Und wie erklärt sich das?

Prof. G.: Man ließ den Staat Staat sein, das ist ein Produkt der Teilungszeit. Diese IMs (informelle Mitarbeiter), die es in der DDR gab, gab es natürlich in Polen auch, bloß haben sie nach Möglichkeit nichts protokolliert, was irgendwie interessant gewesen wäre, das machte man einfach nicht, fertig.

SB: Dann wäre die Sowjetherrschaft an den Polen gescheitert?

Prof. G.: Ja, Stalin hat einmal gesagt, es sei leichter, eine Kuh zu satteln, als einem Polen Kommunismus beizubringen.

SB: Spielt da auch der Katholizismus in Polen eine Rolle?

Prof. G.: Ja, natürlich, der Katholizismus war immer eine Gegeninstanz und er war immer erlaubt. Er war nie in irgendeiner Weise so weitgehend diffamiert, daß man etwa nicht in die Kirche gehen konnte. Auch die Parteileute gingen in die Kirche. Es gibt eine schöne Anekdote des ehemaligen Präsidenten Bierut, das war ein einfacher Mensch, ein Handwerker, der hat bei der Einweihung des Parteigebäudes in Warschau 1946 eine Rede gehalten, mit dem Hämmerchen draufgeklopft und am Schluß gesagt: "So wahr mir Gott helfe." Das ist möglicherweise nicht einmal mit Absicht geschehen, das machte man halt so.

SB: Um noch einmal auf die jüngere Zeitgeschichte und die heutige Generation zu kommen. Hätte die Sache zwischen Polen und Deutschen 1970 nach dem Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt in Polen, der ja ganz viel bewegt hat, nicht eigentlich erledigt sein können?

Prof. G.: Brandt hat mehr bei uns bewegt als in Polen.

SB: Das ist interessant.

Prof. G.: Nun ja, er ist ja vor dem Ghetto-Denkmal niedergekniet.

SB: Und das war das falsche Denkmal?

Prof. G.: Das war das falsche Denkmal. Es gibt in Warschau eine Konkurrenz der beiden Aufstände, des Ghetto-Aufstands und des Aufstands von 1944. Und ich sage das jetzt mal etwas pauschalierend: die Rechten sind der Meinung, der Ghetto-Aufstand war gar kein Aufstand, sondern eigentlich nur eine Reaktion auf die drohende Vernichtung, das bedeutet Notwehr oder Gegenwehr. Aber es stand dahinter im Unterschied zum Warschauer Aufstand nach dieser Meinung nicht die Idee eines selbständigen Staates. Er war nicht auf Überleben ausgerichtet, sondern nur darauf, ehrenvoll zu sterben. Also kein Aufstand im eigentlichen Sinne, während der polnische Aufstand auf Eigenstaatlichkeit abzielte. Man wollte im Grunde genommen die Stadt befreien, um sie dann als von Polen befreit zu demonstrieren und sie nicht von den Sowjets befreien lassen.

SB: Der Kniefall Brandts wäre danach eine Entschuldigung bei den Juden gewesen, aber nicht bei den Polen?

Prof. G.: Genau.

SB: Und so hat man es wahrgenommen.

Prof. G.: Man muß dazu sagen, daß der Ghetto-Aufstand in den ersten Jahren - das Ghetto-Denkmal ist 1948 errichtet worden -, also in der Stalinzeit sehr gefeiert worden. Im Gegensatz zum Warschauer Aufstand von 1944, weil das ein antisowjetischer Aufstand war. Formal, faktisch war er natürlich gegen die Deutschen, aber im Hinterkopf war er eigentlich gegen die Sowjets gerichtet. Deswegen sage ich immer, so blöd war Stalin nicht. Man hat sich furchtbar aufgeregt, daß die Rote Armee nicht weitergegangen ist, sondern abgewartet hat, bis die Deutschen diesen Aufstand niedergeschlagen hatten...

SB: Ein klares Kalkül also.

Prof. G.: Es war klar, daß das Leute waren, die gegen die Sowjets waren. Also hat man es ruhig den Deutschen überlassen, sie auslöschen.

SB: Sie sagten vorhin, daß es noch Generationen dauern würde, die Ressentiments den Deutschen gegenüber aus der Welt zu schaffen.

Prof. G.: Ja, weil es jetzt eine neue Auflage bei einem relativ kleinen, aber ziemlich markanten Teil der Jugend gibt, die mit rechten Bewegungen in Verbindung stehen und die auch manche Institute beherrschen. So ist z.B. das Institut für politische Wissenschaften an der Warschauer Universität vollkommen rechts. Das sind Leute, die eine Verschwörung von Juden-Deutschen-Kommunisten usw. gegen Polen als eine Weltverschwörung sehen. Und diese Leute sind jetzt so im Schnitt um die vierzig - also das dauert noch ein bißchen.

Als Tusk Ministerpräsident wurde, haben die Rechten damit Propaganda gemacht, daß sein Großvater in der Wehrmacht war. Gut, er stammte aus der Gegend von Danzig, d.h., das war deutsch geworden und er ist zwangsmäßig eingezogen worden. Er wollte eigentlich gar nicht und er ist dann auch im Widerstand gewesen. Aber selbst, wenn das nicht gewesen wäre, wäre das im Grunde genommen ein Instrumentalisieren dieser Geschichte gegen den politischen Gegner. Und selbst, wenn der Großvater nicht gegen die Nazis gewesen wäre, so kann doch Tusk nichts dafür!

SB: Wie sehen Sie den Wechsel an der Spitze Polens vor dem Hintergrund, daß die Kaczynski-Brüder ja eine große Anhängerschaft und eine starke Position in Polen hatten.

Prof. G.: Die haben sie immer noch. Ich meine, 53% (Komorowski) zu 47% (Kaczynski), das ist nicht furchtbar viel. Daran sieht man, daß sie einfach noch da sind.

SB: Herr Professor Golczewski, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

Schattiger Gesprächsplatz hinter dem Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe

Schattiger Gesprächsplatz hinter dem Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe

Einen Bericht über die Ausstellung "Polska Architektura - Polen Architektur" und den Vortrag von Professor Dr. Frank Golczewski am 7. Juli im Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe finden Sie unter
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BERICHT/001: Deutsch-polnischer Alltag - Architekturausstellung in Schleswig Holstein (SB)

19. Juli 2010