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PARTEIEN/399: London - Regierungschef geht erkrankten Bürgern voran ... (SB)


London - Regierungschef geht erkrankten Bürgern voran ...


In Großbritannien wütet das Corona-Virus besonders heftig. In den letzten 24 Stunden sind 938 Menschen an der Lungenkrankheit gestorben. Die Zahl der Covid-19-Opfer liegt inzwischen bei 7111. Setzt sich diese Entwicklung auf der Insel fort, wie von den Experten des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) in Seattle vorhergesagt, das den weltweiten Verlauf der Epidemie erfaßt, dürfte die Zahl der Corona-Virus-Todesopfer im Vereinigten Königreich bis August diejenige Italiens, Spaniens und Frankreichs überholt haben. Mit 66.000 Verstorbenen hätten die Briten dann die meisten Covid-19-Opfer in Europa zu beklagen. Sollte es zu diesem traurigen Ergebnis kommen, können sich die Menschen in England, Schottland, Wales und Nordirland bei ihrer eigenen Regierung dafür bedanken, die aus Arroganz, Hybris und Sorglosigkeit nicht rechtzeitig geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche ergriffen hat. Ironie der Geschichte - der Hauptverantwortliche für die nationale Katastrophe, Premierminister Boris Johnson, liegt selbst seit drei Tagen mit einer Covid-19-Erkrankung im Londoner Krankenhaus Saint Thomas auf der Intensivstation.

Als sich im Februar die Ausbreitung des Coronavirus über Europa abzeichnete und die Zustände in den Krankenhäusern Norditaliens zusehends verschlimmerten, entschied sich die Johnson-Regierung gegen sofortige Maßnahmen zur Eindämmung, weil sie angeblich zu aufwendig und zu teuer seien, und statt dessen für die sogenannte "Herdenimmunität". Hauptverfechter der utilitaristischen Strategie war Johnsons Chefberater Dominic Cummings. Bei einer Besprechung über den richtigen Umgang mit der Herausforderung soll sich der neoliberale Technophile erfolgreich für folgenden Standpunkt stark gemacht haben: "Herdenimmunität: die Wirtschaft schützen, und wenn das bedeutet, daß einige Rentner sterben, dann ist das halt Pech." Als Anfang März in den meisten anderen Staaten Europas erste Maßnahmen der sozialen Distanzierung ergriffen wurden, um die Übertragungswege zu verlängern und die Verbreitung der Seuche zu verlangsamen, lief in Großbritannien das öffentliche Leben völlig normal weiter. Gegen den Rat und die Bitte der irischen Regierung fand vom 10. bis 13. März in Südostengland das Cheltenham Festival statt. Besucht wurden die traditionsreichen Renntage von mehr als einer Viertelmillion Briten und Iren. Berichten zufolge haben sich nicht wenige dieser Pferdesportliebhaber mit Covid-19 infiziert und das Virus in ihre Heimatgemeinden beiderseits der Irischen See eingeschleppt.

Erst am 16. März entschieden sich Johnson und seine Minister angesichts der Horrormeldungen aus Italien und der langsam steigenden Infektionszahlen in Großbritannien für einen plötzlichen Kurswechsel. Das Konzept der "Herdenimmunität" wurde über Bord geworden. Begründet wurde das Umdenken mit der fadenscheinigen Behauptung, die Modelle, welche der ursprünglichen Strategie zugrunde lagen, basierten auf dem üblichen Verlauf der alljährlichen Grippewelle; man habe die höhere Ansteckungsrate von Covid-19 nicht berücksichtigt. Offenbar hatte man die laufend veröffentlichten Daten der Behörden der Volksrepublik China nicht verfolgt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Johnson die Gesundheitsgefahr heruntergespielt und getönt, Großbritannien werde das neuartige Corona-Virus "innerhalb von 12 Wochen besiegt" haben. Bei einem Krankenhausbesuch am 3. März gab er demonstrativ allen, auch Erkrankten, die Hand und prahlte bei anschließenden Pressekonferenzen sogar mit seinem angeblich menschenfreundlichen Verhalten. Rund eine Woche, nachdem Johnson plötzlich die Schließung aller Schulen, Kneipen und sonstigen nicht lebenswichtigen Einrichtungen angeordnet und den Bürgern bis auf weiteres zum Verbleib in den eigenen vier Wänden geraten hatte, mußte er am 27. März bekanntgeben, sich selbst mit Covid-19 infiziert zu haben. Inzwischen haben sich viele Mitglieder der britischen Regierung, die sich entweder mit dem Corona-Virus angesteckt oder nur einen Infizierten in der Familie haben, in die häusliche Quarantäne begeben. Dazu gehört auch Dominic Cummings, der sich zu Hause in Isolation befindet und dessen Onkel, ein prominenter Anwalt, vor wenigen Tagen an Covid-19 gestorben ist. Selbst Carrie Symonds, Johnsons 34jährige schwangere Partnerin, hat sich - wie sich inzwischen herausgestellt hat - mit dem Coronavirus infiziert, war jedoch nur ganz leicht erkrankt und hat sich inzwischen wieder erholt. Wie ein Kapitän, der in der Stunde der Not die Brücke nicht verläßt, begab sich Johnson zunächst in der Downing Street in die Isolation, um von seiner kleinen Wohnung aus die Regierungsgeschäfte weiter zu leiten.

Am 1. April schickte der 55jährige Johnson per Twitter eine Videobotschaft ans Volk, das er zum Durchhalten aufrief. In der Aufnahme seiner Laptopkamera sah der ehemalige Journalist recht blaß und krank aus. Er machte auch keinen besonders guten Eindruck, als er zwei Tage später auf dem Bürgersteig der Downing Street an der landesweiten Aktion, eine Runde Applaus für das Krankenhauspersonal an der Covid-19-Front, teilnahm. Kaum hatte Königin Elizabeth II am Abend des 4. April eine ihrer höchst seltenen Reden an die Nation gehalten, um allen ihrer Untertanen Mut in schweren Zeiten zuzusprechen, als das Amt des Premierministers bekanntgab, Johnson habe sich auf Rat seiner Ärzte, da seine Temperatur noch hoch sei und er den trockenen Husten nicht loswerde, ins Krankenhaus begeben. In diesem Augenblick wurde der Verdacht, Johnson und seine Berater hätten die Schwere der Erkrankung des Premierministers über eine Woche lang heruntergespielt, zur Gewißheit.

Zu einer schweren Panne in der Informationspolitik der britischen Regierung kam es am 5. April, als sich Außenminister Dominic Raab als geschäftsführender Premierminister in Johnsons Abwesenheit der Presse vorstellte. Raab behauptete, Johnson gehe es gut, er stehe trotz Krankenhausaufenthalts laufend mit dem Kabinett in Verbindung. Später stellte sich heraus, daß Raab zuletzt zwei Tage zuvor mit Johnson gesprochen hatte und es dem Premierminister überhaupt nicht gut ging, da er bereits auf der Intensivstation lag und mit Sauerstoff versorgt werden mußte. Auch wenn die Medien den Begriff tunlichst vermeiden, herrscht nun in London eine regelrechte Regierungskrise. Niemand erwartet ernsthaft, daß Johnson, sollte er mit ärztlicher Hilfe die Infektion mit dem Corona-Virus überstehen, bald wieder seine Pflichten erfüllen kann. Medienberichten zufolge tobt schon der Kampf um die Nachfolge. Als möglicher Nachfolger wird bereits Johnsons langjähriger Rivale Michael Gove gehandelt. Der Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, der auch formal Vizepremierminister ist, war nach der Einlieferung Johnsons ins Krankenhaus recht schnell mit der Feststellung vor die Fernsehkameras getreten, der 46jährige Raab - weil nur Ersatzmann - könne ohne das restliche Kabinett keine Entscheidungen außerhalb seines eigenen Ressorts treffen.

Mit oder ohne Johnson erweist sich das Krisenmanagement der konservativen Regierung Großbritanniens im Kampf gegen das Coronavirus weiterhin als desaströs. In den britischen Krankenhäusern sind Schutzkleidung, Gesichtsmasken und Atemgeräte absolute Mangelware. Das Testen potentiell Infizierter kommt nur schleppend voran. Schätzungen zufolge hat sich ein Fünftel des medizinischen Personals mit dem Coronavirus angesteckt. Acht Notärzte - allesamt Einwanderer aus früheren britischen Kolonien - sind bereits der Seuche zum Opfer gefallen. Ähnlich wie in anderen Ländern haben sich in Großbritannien viele Altenheime zu regelrechten Hot Spots für Covid-19 entwickelt. Angesichts dieses Phänomens haben die British Medical Association und das Royal College of General Practitioners vor kurzem den Altenheimbetreibern empfohlen, ihre ältesten und gebrechlichsten Gäste dazu zu bringen, ein Dokument zu unterzeichnen, demzufolge sie bei einem gesundheitlichen Notfall nicht wiederbelebt werden wollen. Man kann sich sicher sein, daß ein solches DNAR-Formular - "do not attempt to resuscitate" - nicht über Leben oder Tod des wohlhabenden, bestens vernetzten Boris Johnson entscheiden wird.

9. April 2020


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