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PARTEIEN/391: Brexit - Nordirlands Konfliktlage ... (SB)


Brexit - Nordirlands Konfliktlage ...


Seit vor einer Woche die oppositionelle Labour-Partei dem Wunsch der regierenden Konservativen Großbritanniens um vorgezogene Neuwahlen entsprochen und mit ihnen zusammen für ein Gesetz zur frühzeitigen Beendigung der laufenden Legislaturperiode stimmte, tobt im Vereinigten Königreich der Wahlkampf. Premierminister Boris Johnson hofft von den Wählern die Zustimmung für seinen Brexit-"Deal", den er Mitte Oktober mit der EU vereinbart hat, und eine deutliche Mehrheit der Sitze im Unterhaus, um ihn ratifizieren zu können, zu erhalten. Zum Auftakt des Wahlkampfs lagen die Tories in allen Umfragen mit etwas mehr als 30 Prozentpunkten deutlich vor den Sozialdemokraten, die bei etwas mehr als 20 Prozent rangierten. Ob jedoch am 12. Dezember die Konservativen als deutliche Sieger aus dem Urnengang hervorgehen werden, muß sich erst noch zeigen.

Auch Theresa May wollte, als sie im Frühjahr 2017 Neuwahlen ausrief, politische Rückendeckung für ihre konfrontative Verhandlungsposition gegenüber Brüssel einholen und hat dabei die parlamentarische Mehrheit, die sie ein Jahr zuvor von David Cameron quasi geerbt hatte, verspielt. Seitdem sind die Konservativen zwecks Machterhalts auf die Stimmen der zehn Unterhausabgeordneten der probritisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland angewiesen, was wiederum die Verhandlungen um den EU-Austritt vollends in eine Sackgasse führte.

Weil Brüssel und die Regierung in Dublin auch nach einem Brexit auf die Beibehaltung einer unsichtbaren Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland beharrt, um den Frieden nach dem Karfreitagsabkommen von 1998 nicht zu gefährden, sollten die sechs nordostirischen Grafschaften innerhalb der Zollunion mit der EU bleiben. Doch die DUP ließ May wegen der angeblichen Angst, hierdurch trete eine Schwächung der "Union" zwischen Nordirland und Großbritannien ein, dieser sinnvollen Kompromißlösung nicht zustimmen. Mays Alternativvorschlag, das Vereinigte Königreich sollte vorerst als Ganzes in der Zollunion bleiben, bis eine sanfte technologische Lösung des Problems der Überwachung des Güter- und Personenverkehrs auf der grünen Insel gefunden worden sei, fand im vergangenen Frühjahr bei mehreren Abstimmungen im britischen Unterhaus keine Mehrheit. Als deswegen bei den EU-Wahlen im Mai die Konservativen auf den vierten Platz hinter der neuen Brexit Party um Nigel Farage, Labour und den Liberaldemokraten abrutschten, mußte May Number 10 Downing Street räumen.

An die Stelle des Partei- und Regierungschefs ist seit nunmehr 100 Tagen der ehemalige Bürgermeister von London, Johnson, getreten, der zuvor vor allem als Lügenbaron und joviale Medienfigur von sich reden machte. Der Ex-Journalist und Churchill-Biograph hat die Tories auf einen harten Brexit-Kurs gebracht und die letzten EU-Freunde auf den konservativen Hinterbänken, darunter nicht wenige Ex-Minister von Rang und Namen, aus Partei und Fraktion ausgeschlossen. Mit dem Rechtsruck will Johnson alle Wähler, die vor drei Jahren für den EU-Austritt votiert bzw. bei den EU-Wahlen im Mai für die Brexit Party gestimmt haben, dazu animieren, ihr Kreuz beim konservativen Kandidaten in ihrem Wahlkreis zu machen. Auf diese Weise hofft Johnson der Labour-Partei in ihren traditionellen Hochburgen in dem einst von der Schwerindustrie geprägten Nordengland, wo damals auffällig viele Angehörige der Arbeiterklasse für Brexit votierten, eine ganze Reihe von Sitzen abzunehmen.

Begünstigen dürfte dieser Versuch, daß die Sozialdemokraten um Parteichef Jeremy Corbyn in der Brexit-Frage völlig gespalten sind. Die Sozialdemokraten gehen in den Wahlkampf deshalb mit dem Kompromißvorschlag, eine enge Wirtschaftspartnerschaft mit der EU auszuhandeln und am Ende der Beratungen mit Brüssel dem Volk das Ergebnis zur Abstimmung vorzulegen. Sie warnen davor, daß ein Sieg der Tories einen drastischen Abbau von Arbeiterrechten und Umweltschutzbestimmungen sowie den Ausverkauf des staatlichen britischen Gesundheitssystems an die US-Pharmaindustrie bedeuten würde und verweisen auf entsprechende Äußerungen von US-Präsident Donald Trump.

Johnson streitet derlei Absichten ab, wirkt dabei aber nicht besonders glaubwürdig. Beim Radiointerview mit seinem "Kumpel" Farage am 31. Oktober hat Trump völlig ungebeten in den laufenden britischen Wahlkampf eingegriffen und eine Allianz zwischen Tories und Brexit-Partei gefordert, um Labour und Jeremy Corbyn fertigzumachen. Johnson will jedoch die Farage-Truppe ausradieren und hat deshalb vor zwei Tagen ein Bündnis ausgeschlossen. Farage, einst Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP), hat sich revanchiert, indem er die Aufstellung eigener Kandidaten für rund 600 der 650 britischen Parlamentssitze - das heißt praktisch in allen Wahlbezirken in England und Wales; Schottland und Nordirland blieben außen vor - ankündigte und zugleich Johnsons "Deal" mit der EU als "keinen echten Brexit" und somit Mogelpackung verurteilt.

Die heftigste Kritik an Johnsons Austrittsabkommen mit der EU kommt jedoch nicht von Farage oder den sogenannten "Spartanern" bei den englischen Tories, sondern von der DUP, die deshalb praktisch ihre Unterstützungsvereinbarung mit den Konservativen aufgekündigt hat. Die DUPler werfen Johnson vor, durch seine Bereitschaft bei den jüngsten Verhandlungen mit Brüssel, einer Verlegung der künftigen Zollgrenze zwischen Großbritannien und der EU in die Irische See zuzustimmen, der Spaltung des Vereinigten Königreichs und der Vereinigung Nordirlands mit der Republik im Süden Tür und Tor geöffnet zu haben.

Um ihre Unzufriedenheit über Johnsons vermeintlichen "Kuhhandel" mit dem irischen Premierminister Leo Varadkar zu unterstreichen, haben vorletzte Woche ranghohe Vertreter der DUP demonstrativ bei einem großen gemeinsamen Diskussionsabend zum Thema Brexit an der Lower Newtownards Road im protestantischen Ostbelfast mit führenden Mitgliedern der als terroristische Vereinigungen verbotenen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA) teilgenommen. Einer jener geschätzten "Gemeindevertreter", deren Verwicklung in das Geschäft mit illegalen Rauschgiftmitteln ein offenes Geheimnis ist, was natürlich auch deren Widerstand gegen Zollkontrollen im Belfaster Hafen erklärt, sorgte mit der Behauptung gegenüber der Presse für Aufregung, nach den ersten Bombenexplosionen in Limerick an der irischen Westküste würde die Republik Irland merken, daß mit dem loyalistischen Widerstand gegen den Verbleib Nordirlands in der Zollunion mit der EU nicht zu spaßen sei.

Die Drohungen seitens der DUP-Privatarmee reißen nicht ab. Als letzte Woche Steve Aiken, der designierte Chef der Ulster Unionist Party (UUP), bekanntgab, die einst größte protestantische Partei Nordirlands werde bei der Wahl im Dezember in allen 18 nordirischen Wahlbezirken Kandidaten aufstellen, wurde der ehemalige U-Boot-Offizier der britischen Kriegsmarine und seine Familie mittels Briefen und Telefonanrufen seitens loyalistischer Paramilitärs mit dem Tode bedroht. Stein des Anstoßes war vor allem die Möglichkeit einer UUP-Kandidatur im Bezirk Nordbelfast, welche dort die unionistische Wählerschaft spalten und dem amtierenden Parlamentsabgeordneten Nigel Dodds, Fraktionsvorsitzender der DUP im Londoner Unterhaus, seinen Sitz kosten könnte. Profiteur eines solchen Szenarios wäre John Finucane, der für die katholisch-nationalistische Sinn Féin in North Belfast ins Rennen geht und dessen Vater, der Bürgerrechtsanwalt Patrick Finucane, 1989 in der eigenen Küche vor Frau und Kindern von einer loyalistischen Killertruppe, welche im Auftrag des britischen Sicherheitsapparats unterwegs war, ermordet wurde.

Als Aiken am 3. November reumütig erklärte, aus Sorge um die Union Nordirlands mit Großbritannien werde die UUP doch nicht an der Wahl in Nordbelfast teilnehmen, hat dies wirklich niemanden überrascht. Überraschend war auch nicht das völlige Desinteresse der britischen Presse, über eine derlei skandalöse und antidemokratische Angelegenheit zu berichten. Man braucht sich nur vorzustellen, was los wäre, müßte die gemäßigte katholisch-nationalistische Social Democratic Labour Party (SDLP) eine Konkurrenzkandidatur gegen Sinn Féin wegen Morddrohungen seitens der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) streichen. Beiderseits der irischen See würden sich die wichtigsten Medienkommentatoren vor lauter Entsetzen über die Rückkehr der irisch-republikanischen "Terrorpaten" über Tage oder vielleicht sogar Wochen nicht mehr einkriegen.

Immerhin haben SDLP und Sinn Féin recht schnell auf die veränderte Wahllandschaft in Nordirland reagiert. Die SDLP hat am Vormittag des 4. November auf die Teilnahme an der Wahl in Nordbelfast verzichtet, damit Finucane und Dodds es allein miteinander aufnehmen können. Die einst von Nobelpreisträger John Hume gegründete Partei streicht auch ihre Segel in Ostbelfast zugunsten von Naomi Long, der Anführerin der konfessionslosen, liberalen Alliance Party, und in North Down zugunsten der unabhängigen Unionistin Lady Silvia Hermon - beides Brexit-Gegnerinnen, die sich gegen die DUP behaupten müssen. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren gingen von den 18 nordirischen Unterhausmandaten zehn an die DUP, sieben an Sinn Féin und das eine an die frühere UUP-Vertreterin Hermon. Weil ein Jahr zuvor die Brexit-Gegner in Nordirland 56 Prozent der Stimmen erhielten, wollen diese bei der Wahl im Dezember ihren Sitzanteil maximieren. Deshalb hat sich am Nachmittag des 4. November Sinn Féin bei der SDLP bedankt und den Verzicht auf eine eigene Kandidatur in North Down und East Belfast - zugunsten von Lady Silvia respektive Naomi Long - sowie in South Belfast bekanntgegeben, damit dort die vielbeachtete SDLP- Nachwuchspolitikerin Claire Hanna eine Chance auf den Sieg hat. Leider schein die Parlamentswahl in Nordirland wieder zu einer "konfessionellen Kopfzählung" mit allen Spannungen, die dazu gehören, zu verkommen.

5. November 2019


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