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PARTEIEN/383: Brexit - und atlantische Interessen ... (SB)


Brexit - und atlantische Interessen ...


Nach dem formellen Rücktritt Theresa Mays als Vorsitzende der konservativen Partei Großbritanniens am 7. Juni ist bei den Tories das Rennen um die Nachfolge - und damit zugleich um das Amt des Premierministers - in die heiße Phase getreten. Bis zum Mittag des 11. Juni mußten mögliche Bewerber die Unterstützung von mindestens acht Parteikollegen der konservativen Fraktion im britischen Unterhaus vorweisen, um sich offiziell als Kandidat aufstellen zu dürfen. Zehn haben dieses Kriterium erfüllt. Mehrere Wahlgänge sollen nun durchgeführt werden, bis Ende Juni zwei Bewerber übriggeblieben sind, zwischen denen die konservative Partei, die rund 150.000 Mitglieder zählt, als ganzes bis Ende Juli in einer Stichwahl entscheiden soll.

Als haushoher Favorit gilt Medienliebling Boris Johnson. Der Absolvent der Eliteschule Eton und frühere Journalist gibt sich seit Jahren volksnah und redselig, was ihm zweimal die Wahl zum Bürgermeister in der traditionell eher links tendierenden Hauptstadt London beschert hat. Seine populistische Rhetorik trägt aber häufig fremdenfeindliche Züge. Ob er das Volk einen kann wie einst Winston Churchill oder eher à la Donald Trump spaltet, wird unter Experten kontrovers eingeschätzt. Fest steht, daß Johnson - ähnlich den beiden genannten Vorbildern - von maßlosem Ehrgeiz getrieben wird, der sich häufig in Selbstüberschätzung und Fehlentscheidungen manifestiert.

Aus seinem letzten Griff nach dem höchsten Amt im Staat, als er nach dem Referendum für den EU-Austritt im Sommer 2016 seinen früheren Schulfreund David Cameron als Partei- und Regierungschef zu beerben versuchte und es unter anderem durch einen öffentlichen Streit mit dem eigenen Wahlkampfleiter Michael Gove gründlich vermasselte, wodurch überraschend die frühere Innenministerin May in die Number 10 Downing Street einziehen durfte, hat der Blondschopf ebenso gelernt wie aus den darauffolgenden beiden Jahren als Außenminister, als sein loses Mundwerk das Ansehen der britischen Diplomatie schwer in Mitleidenschaft zog. Seit Wochen tritt Johnson in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung und bearbeitet statt dessen in Hinterzimmern bei Vieraugengesprächen diverse Fraktionskollegen, um sie für sich zu gewinnen.

Berichten zufolge scheint die stille Offensive zu funktionieren. Im Polit- und Medienbetrieb Westminsters reden inzwischen alle von der hohen Professionalität von Johnsons Wahlkampfteam, das von dem von May vor wenigen Wochen wegen des Streits um die Rolle des chinesischen Konzerns Huawei beim Aufbau eines britischen 5G-Netzwerks gefeuerten Ex-Verteidigungsminister Gavin Williamson geleitet wird und in Sachen Organisation und Spendengelder den Kampagnen aller anderen Kandidaten weit überlegen zu sein scheint. Hinzu kommt, daß sich Johnsons gefährlichster Gegner, Umweltminister Gove, gerade in den letzten Tagen selbst demontiert hat, als er zugeben mußte, in den neunziger Jahren regelmäßig Kokain konsumiert zu haben, während er gleichzeitig als Law-and-Order-Apostel in der Presse gegen eine mögliche Liberalisierung der britischen Drogengesetze wetterte. Die peinliche Koks-Affäre könnte dazu führen, daß am Ende des Monats nicht Gove, sondern Außenminister Jeremy Hunt, bislang in den Umfragen der drittbeliebteste Kandidat, gegen Johnson in der Stichwahl antritt.

Solange Johnson nicht in irgendein Fettnäpfchen tritt, dürfte er die Wahl zum neuen Tory-Vorsitzender gewinnen, so lautet aktuell die einhellige Meinung aller Politbeobachter. Nicht umsonst hat er vor einigen Tagen versprochen, als Premierminister für eine deutliche Steuererleichterung für Besserverdienende zu sorgen. Schließlich gehört ein Gutteil der konservativen Parteibasis - ältere wohlhabende Rentner aus dem Militär, der höheren Beamtenschaft sowie dem Londoner Finanzsektor - genau zu dieser Bevölkerungsschicht. Im Gegensatz zu Gove und Hammond will Johnson das Vereinigte Königreich ohne Wenn und Aber am 31. Oktober aus der Europäischen Union führen. Er bekennt sich zum ungeordneten Austritt und droht zudem, die von May mit Brüssel vereinbarten Scheidungssumme - rund 40 Milliarden Euro - nicht zu zahlen.

Die drastische Position Johnsons erklärt sich nicht zuletzt aus dem Erfolg der Brexit Party bei den Europawahlen Ende Mai. Die Truppe um den schamlosen Populisten Nigel Farage wurde stärkste Kraft und hat die regierenden Tories auf den fünften Platz hinter den Liberaldemokraten, den Sozialdemokraten und den Grünen verbannt. Im Falle eines ähnlichen Ergebnisses bei einer britischen Parlamentswahl drohte die Zahl der konservativen Mandate im Unterhaus von derzeit 313 auf rund 20 zu schrumpfen. Die Konservativen würden in der Bedeutungslosigkeit versinken, die allermeisten Tory-Abgeordneten verlören ihre Sitze und wären plötzlich arbeitslos.

Die zunehmende Gefahr eines No-Deal-Brexits mit allen zu erwartenden Negativfolgen für die britische Wirtschaft sorgt für Aufregung und Widerstand bei der Opposition und den pro-europäischen Konservativen im Unterhaus. Bei einer Unterredung soll Arbeitsministerin Amber Rudd Johnson vor einer Meuterei eines Teils der eigenen Fraktion im Herbst gewarnt haben, sollte er tatsächlich den ungeordneten EU-Austritt anpeilen und keine gütliche Einigung mit Brüssel erreichen. Ein solcher Aufstand im Parlament käme für den neuen Premierminister einem verlorenen Mißtrauensvotum gleich und würde Neuwahlen unvermeidlich machen. Wegen dieser Eventualität hat der eifrigste EU-Gegner unter den Kandidaten um den konservativen Parteivorsitz, der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab, allen Ernstes angeregt, die Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit nach der Sommerpause zu verschieben, damit der Brexit zu Halloween vom Unterhaus und damit gegen den Willen der konservativen Minderheitsregierung nicht verhindert werden kann.

Für alle Fälle hat Johnson ein As im Ärmel, nämlich die offene Unterstützung für seine Kandidatur durch US-Präsident Donald Trump und dessen früheren Politberater Steve Bannon. Seit seinem Rücktritt als Außenminister im vergangenen Sommer hat sich Johnson offenbar mehrmals in London mit Bannon getroffen und von dem konservativen politischen Svengali beraten lassen. Beim Staatsbesuch in Großbritannien Anfang Juni mischte sich Trump ebenso offen wie ungebeten in die britische Politik ein und attestierte seinem "Freund" Johnson, er gäbe einen "ausgezeichneten Premierminister" ab.

Damit die transatlantischen Pläne, das Vereinigte Königreich aus der EU herauszulösen, um es endgültig zum Vasallenstaat der USA zu machen, Wirklichkeit werden, will Washington sogar die Möglichkeit, daß bei vorgezogenen Wahlen in Großbritannien die oppositionelle Labour Partei gewinnt und deren Parteichef Jeremy Corbyn Premierminister wird, konkret ausschließen. Wie die Washington Post am 10. Juni berichtete, hatte Außenminister Mike Pompeo sechs Tage zuvor beim Treffen mit den Führern der großen jüdischen Verbände der USA versichert, Washington werde dafür sorgen, daß der pro-palästinensisch eingestellte Corbyn niemals in die Number 10 Downing Street einzieht. Mit welchen Methoden das State Department ein solches Szenario zu verhindern gedenkt, mußte der ehemalige CIA-Chef nicht näher ausführen.

12. Juni 2019


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