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PARTEIEN/339: Britische Tories wollen Theresa May loswerden (SB)


Britische Tories wollen Theresa May loswerden

Brexit-Streit bei der Regierung in London findet kein Ende


Was als Befreiungsschlag gedacht war, ist zum peinlichen Desaster geraten. Mit ihrer Rede auf dem diesjährigen Parteitag der britischen Konservativen am 4. Oktober in Manchester wollte Parteivorsitzende und Regierungschefin Theresa May die Reihen hinter sich schließen, die Tatsache des Verlusts der parlamentarischen Mehrheit bei vorgezogenen Unterhauswahlen im Juni in die Vergangenheit verbannen und Zuversicht in bezug auf die Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union verbreiten. Das Gegenteil ist passiert. Einen schlimmeren Auftritt hat vermutlich keinen Tory-Chef auf einem Parteitag jemals geleistet. War Mays Autorität vor der Rede schwach, so existierte sie nach 45 Minuten auf der Bühne nicht mehr. Der einzige Grund, warum die politisch angeschlagene Regierungschefin nicht längst weggeputscht worden ist, besteht darin, daß der Streit der Kabinettskollegen um die Nachfolgeschaft immer noch kein Ende gefunden hat.

Kurz nach Beginn der Rede trat der Provokateur Simon Brodkin an das Rednerpult und überreichte der sichtlich verdutzten May ein P45-Entlassungsformular, um sich zugleich Außenminister Boris Johnson, der mit den anderen Regierungsmitgliedern in der ersten Reihe saß, zuzuwenden und ihm Daumen hoch zu signalisieren (schließlich sägt Johnson seit Wochen durch Artikel und Reden an Mays Stuhl, während er ihr gleichzeitig Nibelungentreue verspricht). Danach wurde May von einem Hustenanfall heimgesucht, der nicht enden wollte - selbst dann nicht, als ihr Finanzminister Philip Hammond netterweise einen Hustenbonbon gegeben hatte. Während May mehr schlecht als recht ihre Rede absolvierte, löste sich das Motto des Parteitags "Building a country that works for everyone", das hinter ihr in großen weißen Buchstaben auf einer blauen Leinwand geschrieben stand, allmählich auf. Als erstes fiel das F von for, bald darauf das E von everyone zu Boden. Am Ende der Rede sprang Mays Ehemann Philip auf die Bühne. Die Art und Weise, wie die Premierministerin ihm in die Arme fiel, war als Zeichen der Schwäche und der Resignation eindeutig.

In einem Interview mit der Tageszeitung Guardian hat am 6. Oktober Charlie Mullins, Inhaber des Unternehmens Pimlico Plumbers und Großspender der konservativen Partei, offen den Rücktritt Mays gefordert, weil sich diese von Johnson seit Wochen vorführen lasse und nichts dagegen unternehme. Auch der ehemalige Minister Ed Vaizey erklärte öffentlich, die Zeit für May sei abgelaufen, die Partei brauche eine neue Führungsperson. Aktuell versuchen die Tory-Rebellen die Stimmen von 48 Unterhausabgeordneten zusammenzubekommen, um beim bevorstehenden nächsten Treffen des 1922-Komitees am 11. Oktober die Durchführung einer Kampfabstimmung um den Parteivorsitz zu erzwingen. Doch auch wenn es dazu kommt, ist derzeit nicht sicher, wer die Führung bei den Tories übernehmen soll.

Von den möglichen Anwärtern liegen die Machtambitionen von Boris Johnson am offensten zu Tage. Ähnlich Donald Trump hat der ehemalige Bürgermeister von London keine politischen Überzeugungen, sondern lediglich den festen Glauben an die eigene Auserwähltheit zum Höheren. Johnson hat sich 2016 nur deshalb auf die Seite der EU-Gegner gestellt, um den damaligen Premierminister und Parteivorsitzenden David Cameron zu schaden und sich selbst als potentiellen Nachfolger in Position zu bringen. Nicht im Traum hat Johnson wirklich geglaubt, daß eine Mehrheit der Briten für den Brexit votieren würde. Nachdem sie das dann doch überraschend getan hat, trat und tritt er bis heute für den Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion ein, um sich weiterhin die Unterstützung der starken Fraktion der Europhoben zu sichern.

Mit seinen flapsigen Sprüchen - zuletzt mit der Bemerkung über die Notwendigkeit, "die Leichen wegzuräumen", damit der Staat Libyen wieder erblühen könne - geht der sich stets jovial gebende Johnson vielen Menschen in Großbritannien und sogar innerhalb der eigenen Partei auf die Nerven. Mehrere Unterhausabgeordnete fordern bereits seine Entlassung aus dem Kabinett. In den Medien wird spekuliert, der Außenminister will gerade dies provozieren, um anschließend May den Kampf anzusagen.

Doch die Tories haben sich selbst in eine Ecke manövriert, aus der sie so schnell nicht wieder herauskommen werden. Der Streit um den richtigen Kurs in der Brexit-Frage - Konfrontation oder Zusammenarbeit mit Brüssel - lähmt die konservative Partei. Die Tories fallen in den Umfragen hinter der oppositionellen Labour-Party um Jeremy Corbyn immer weiter zurück. Während die Jugend in Massen zu Labour rennt und deren Mitgliederzahl in den letzten zwei Jahren auf mehr als 570.000 angewachsen ist, ist die Zahl der konservativen Parteimitglieder auf 100.000 gesunken. Fänden heute in Großbritannien Unterhauswahlen statt, würde vermutlich Labour gewinnen. Das weiß man auch bei den Tories. Deswegen wollen sich die meisten von ihnen erstmal weiter durchwurschteln und May im Amt belassen, damit sie und niemand sonst den Giftbecher namens Brexit austrinkt.

Nicht wenige Politbeobachter in Großbritannien sähen es gern, wenn Johnson bald May ablöste und die Brexiteers endlich die Verantwortung für den Schlamassel übernehmen würden, den sie dem Land eingebrockt haben. Dann müßten sie auch erkennen, daß ihr Ansatz, London könnte Brüssel die Bedingungen der bilateralen Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und den restlichen 27 EU-Mitgliedsstaaten diktieren, eine Schnapsidee ist. Tatsächlich machen es sich derzeit die Brexiteers leicht. Sie beharren auf einem "harten" Brexit und verteufeln jeden Versuch, durch Zugeständnisse die absehbare wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden, als Kniefall vor der EU-Bürokratie. Die Europhoben um Johnson, Umweltminister Michael Gove und Handelsminister Liam Fox werden bald ihr böses Erwachen erleben, zu dem nicht nur eine stark beschädigte britische Volkswirtschaft, sondern auch eine Spaltung der konservativen Partei gehören dürften.

7. Oktober 2017


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