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PARTEIEN/300: Politische Krise in Nordirland nach IRA-Mordfehde (SB)


Politische Krise in Nordirland nach IRA-Mordfehde

Ulster Unionisten drohen mit Kollaps der politischen Institutionen


Zwei Morde im paramilitärischen Milieu von Belfast haben Nordirland in die schwerste politische Krise seit Jahren gestürzt. Am 6. Mai wurde Gerard "Jock" Davison, ein ranghoher Ex-Kommandeur der IRA auf offener Straße erschossen. Am 12. August wurde als Vergeltung Kevin McGuigan, ebenfalls ein ehemaliges IRA-Mitglied, in der eigenen Wohnung von zwei Schützen ermordet. Die Aussage von Kevin Geddes, dem Chefermittler des Police Service of Northern Ireland (PSNI), daß "Angehörige der IRA" wahrscheinlich in die Liquidierung McGuigans verwickelt gewesen sind, hat seitens der protestantischen Parteien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Sowohl die Democratic Unionist Party (DUP) als auch die Ulster Unionist Party (UUP) werfen der katholisch-nationalistischen Sinn Féin vor, sich nicht an die Absprachen in Verbindung mit dem Friedensprozeß zu halten und weiterhin eine eigene Privatarmee zu führen. Sie verlangen von der britischen Nordirlandministerin Theresa Villiers den Ausschluß Sinn Féins aus der nordirischen Allparteienregierung respektive drohen mit dem eigenen Austritt. Beide Szenarien bergen das Risiko gesellschaftlicher Destabilisierung. Ein Kollaps der politischen Institutionen in Nordirland und eine Rückkehr zur Direktverwaltung aus London wären vermutlich die Folge.

Der politische Theaterdonner der DUP und UUP hat weniger mit Moral als mit Machtkalkül zu tun. Die Kontroverse um die weitere Existenz der Kommando-Struktur der IRA, selbst wenn die katholisch-nationalistische Untergrundarmee nach den Worten des PSNI-Präsidenten George Hamilton nicht mehr "kriegsfähig" sei, bietet der UUP um Parteichef Mike Nesbitt die Gelegenheit, den Erzrivalen DUP als schwach und beschwichtigend gegenüber den "Terroristen" anzuprangern. Mit genau diesem Argument hatte die DUP Ende der neunziger, Anfang der Nuller-Jahre unter der Führung des wortgewaltigen Reverend Ian Paisley die UUP um Friedensnobelpreisträger David Trimble in den Augen der protestantischen Wählerschaft diskreditiert und sie als stärkste Kraft im unionistischen Lager überholt - um dann schließlich 2007 zur Überraschung aller selbst in eine Regierungskoalition mit Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, einzuwilligen.

Die DUP greift ihrerseits die IRA-Blutfehde dankbar auf, um von der eigenen Verwicklung in den größten Immobilienskandal in der Geschichte Nordirlands, nämlich vom Verkauf der Liegenschaften der irischen Bad Bank NAMA in Nordirland für 1,6 Milliarden Euro an den US-Investitionsfonds Cerberus, abzulenken. Bei der Transaktion mit Namen "Project Eagle" besteht der dringende Verdacht, daß üppige Bestechungsgelder an DUP-Chef Peter Robinson, der zugleich Nordirlands Premierminister ist, und dessen politische Weggefährten geflossen sind, weshalb der PSNI in der Angelegenheit bereits Ermittlungen eingeleitet hat. In diesem Zusammenhang hat der loyalistische Dissident Jamie Bryson in den letzten Wochen mit belastenden Enthüllungen auf seinem Blog die DUP-Führung in schwerste Erklärungsnot gebracht.

Wer den Doppelmord Davison/McGuigan verstehen will, muß sich mit der Ermordung des Taxifahrers Robert McCartney am 30. Januar 2005 befassen. In jener Nacht gerieten McCartney und sein Freund Brendan Devine mit einer Gruppe alkoholisierter "harter Jungs" von der IRA in der Kneipe Magennis' in der Belfaster Innenstadt in Streit. McCartney und Devine wurden in eine Seitengasse geschleppt und mit Eisenstangen, zerbrochenen Flaschen und Messern malträtiert. Beiden Männern wurde die Kehle aufgeschlitzt. McCartney, dem auch ein Auge ausgestochen wurde, starb vor Ort, während Devine schwer verletzt und unter Polizeischutz im Krankenhaus überleben sollte. Als die Polizei Magennis' erreichte, wurde sie über Stunden von randalierenden Besuchern der Kneipe am Betreten des Tatorts gehindert. Erst als die Täter Kneipe und Gasse von allen juristisch relevanten Spuren gesäubert und die Aufnahmen der Sicherheitskameras gelöscht hatten, könnte die Polizei ihre Arbeit aufnehmen.

Der Mord an Robert McCartney hat damals die Menschen in Irland und Großbritannien schockiert und hohe Wellen beiderseits des Atlantiks geschlagen. McCartneys Schwestern forderten Gerechtigkeit und wurden bei ihrer Kampagne von den Regierungen in Dublin, London und Washington unterstützt und empfangen. Wie ihr Bruder stammten sie aus der katholischen Enklave Short Stand im loyalistischen East Belfast und waren Sinn-Féin-Wähler. Deshalb wandten sie sich auch an die Sinn-Féin-Führung. Ihnen wurde von Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams und -Vizepräsident Martin McGuinness Hilfe versprochen. Demonstrativ traten die McCartney-Schwestern deshalb wenige Wochen später beim Sinn-Féin-Parteitag in Dublin auf und halfen Adams, McGuinness und Konsorten, die PR-Katastrophe halbwegs zu meistern.

Die Gegenhilfe seitens Sinn Féin blieb jedoch aus. "Jock" Davison und zwei andere IRA-Männer wurden des Mordes an McCartney angeklagt, jedoch 2008 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Entgegen der öffentlichen Aufforderung der Sinn-Féin-Führung haben alle Augenzeugen der Vorkommnisse die Aussage verweigert. Rund 70 Gäste von Magennis' behaupteten gegenüber der Polizei, während des Streits auf der Toilette gewesen zu sein, obwohl der Raum so vielen Menschen nicht annähernd Platz bietet. Später mußten die McCartney-Schwestern aufgrund von Anfeindungen der Nachbarn das Viertel Short Strand verlassen.

Kevin McGuigan stammte ebenfalls aus dem Short Strand. Bei der IRA hatte er einst unter "Jock" Davison gedient. Auf dessen Befehl soll er mehrere Anschläge durchgeführt haben. Wegen der versuchten Tötung eines britischen Soldaten hatte McGuigan einige Jahre im Gefängnis verbracht. In den Nuller-Jahren sollen sich McGuigan und Davison zerstritten haben. Ob es sich dabei um den Sinn-Féin-freundlichen Kurs der IRA im Friedensprozeß oder um Drogengeschäfte ging, ist unklar. Fest steht, daß die IRA McGuigan irgendwann durch mehrere Beinschüsse "bestrafte". Die zwei Männer, die McGuigan vor den Augen seiner Frau erschossen, skandierten, das sei "Rache für Davison". Wenn McGuigan tatsächlich der Mörder von Davison gewesen ist, wird man vermutlich niemals erfahren, ob er nur aufgrund persönlicher Differenzen oder auch wegen dem, was seinem Nachbarn McCartney vor zehn Jahren geschehen war, so handelte.

Neue Enthüllungen haben den McCartney-Mord in den vergangenen Tagen wieder zu einem wichtigen Gegenstand der öffentlichen Diskussion gemacht. Am 26. August im Belfast Telegraph berichtete die Journalistin Suzanne Breen, die seit langem über die Aktivitäten der nordirischen Paramilitärs schreibt, die Polizei habe sich damals mit der IRA-Führung von Belfast getroffen und mit ihr vereinbart, nur wegen der Mordtat nicht aber wegen Behinderung der Justiz durch Aussageverweigerung und/oder der stabsmäßigen Säuberung des Tatorts zu ermitteln - wodurch sie ein wichtiges Druckmittel aus der Hand gab.

Die öffentlich geäußerte Befürchtung führender DUP- und UUP-Politiker, daß es im Falle der Morde an Davison und McGuigan aus Gründen der Staatsräson erneut an Ermittlungseifer seitens des PSNI fehlen könnte, ist nicht unbegründet, wenn auch fadenscheinig. Als Colin "Bap" Lindsay, ein ehemaliger Kommandeur der protestantischen Ulster Defence Association (UDA) im Juli in Belfast - vermutlich von loyalistischen Ex-Kameraden - mit einem Samurai-Schwert erschlagen wurde, waren großartige Klagelieder seitens DUP und UUP über die paramilitärische Bedrohung der nordirischen Demokratie nicht zu hören gewesen. Solche Argumente werden von ihnen nur vorgetragen, wenn sie damit Sinn Féin und die nationalistischen Sache schaden können.

Ihrerseits muß sich Sinn Féin vorwerfen lassen, das kriminelle Treiben der alten IRA-Garde zu lange geduldet und gedeckt zu haben. Eine Distanzierung dazu sowie eine generelle Verjüngung der Parteispitze wären längst fällig gewesen. Doch wegen mangelnder parteiinterner Demokratie müssen die Vertreter von Sinn Féin bei jeder Kontroverse Parteipräsident Adams in Schutz nehmen und so tun als glaubten sie seine dummdreisten Beteuerungen, niemals ein Mitglied der IRA gewesen zu sein. Dabei weiß in Irland jedes Kind, daß Adams früher der oberste Befehlshaber der IRA war und möglicherweise heute immer noch ist. Das würde auch erklären, warum sich der Belfaster Politiker bis heute weigert, die endgültige Auflösung der IRA bekanntzugeben. Die Aufregung um die Morde an Davison und McGuigan macht Sinn Féins Chance, nach den bevorstehenden Parlamentswahlen in der Republik Irland eine Regierungskoalition mit Fianna Fáil zu bilden, zunichte. Daran sind nicht nur die politischen Gegner Fine Gael, Labour und Fianna Fáil sowie die rechte Presse, sondern ist vor allem Sinn Féin selbst schuld.

28. August 2015


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