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PARTEIEN/283: Geschichtsstreit spaltet Nordirlands Politiker (SB)


Geschichtsstreit spaltet Nordirlands Politiker

Aufarbeitung der Geschichte der "Troubles" erweist sich als schwierig



In Nordirland setzt sich der lähmende politische Stillstand fort. Seit Ende letzten Jahres die britische Fahne über dem Rathaus von Belfast eingeholt wurde, was wochenlange Ausschreitungen protestantischer Jugendlicher auslöste, hängt der Haussegen im nordirischen Parlament Stormont schief. Um die verhärteten Fronten aufzubrechen und dem sogenannten Friedensprozeß neues Leben einzuhauchen, hat US-Präsident Barack Obama im Herbst Richard Haass als Sondergesandten in die Unruheprovinz geschickt. Im Mittelpunkt der Gespräche, die der ehemalige Präsident des einflußreichen New Yorker Council on Foreign Relations mit Politikern, Verbandsvertretern und einfachen Bürgern führt, stehen drei miteinander verbundene Streitpunkte: Flaggen, Paraden und die geschichtliche Aufarbeitung des dreißigjährigen Bürgerkrieges, auch Troubles genannt. Bis Weihnachten wollte Haass, der auf lange Jahre der Erfahrung als Diplomat zurückgreifen kann, einen Durchbruch erzielt haben. Wie realistisch dieses Ziel ist, muß sich noch zeigen.

In der Nachbetrachtung des nordirischen Bürgerkrieges stehen sich die katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten heute praktisch genauso unversöhnlich gegenüber, wie sie es taten, als britische Truppen durch die Straßen patrouillierten und man Angst vor Bombenanschlägen und Überfällen haben mußte. Für die Unionisten hat die Irisch-Republikanische Armee (IRA) völlig illegitim und gegen den Willen der protestantischen Mehrheit versucht, Nordirland mit Waffengewalt aus dem Vereinigten Königreich mit Großbritannien herauszulösen. Aus Sicht der Nationalisten mußte die IRA zu den Waffen greifen, um die katholische Bevölkerung Nordirlands vor der gewaltsamen Reaktion der protestantischen Polizei und der loyalistischen Paramilitärs auf die Bürgerrechtsbewegung Ende der sechziger Jahre zu schützen. Im Verlauf des Bürgerkrieges sind rund 3500 Menschen ums Leben gekommen. Zehntausende wurden verletzt.

Nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 hatte man die Historical Enquiries Team (HET) ins Leben gerufen, welche die mehr als 3000 ungelösten politischen Morde der drei zurückliegenden Jahrzehnte untersuchen sollte. Inzwischen ist die Arbeit der HET zum Gegenstand eines erbitterten Disputs geworden. Die Nationalisten werfen dem Gremium vor, sich hauptsächlich mit den früheren Gesetzesverstößen republikanischer Paramilitärs zu befassen, die Verbrechen der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA) dagegen äußerst vorsichtig zu behandeln und die Rolle der Ordnungskräfte - des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, der britischen Armee, allen voran der Elitetruppe Special Air Service (SAS) und des Special Branch (Sicherheitspolizei) der Royal Ulster Constabulary - vollkommen zu ignorieren. Letztere Staatsorgane sollen bei der Bekämpfung des "Terrors" der IRA mit UDA und UVF eng zusammengearbeitet, sie quasi als Todesschwadrone geführt haben. Gerade am 21. November hat die BBC-Sendung Panorama unter dem Titel "Britain's Secret Terror Force" eine Dokumentation ausgestrahlt, bei der es um die Erschießung von mindestens zehn unbewaffneten katholischen Zivilisten durch Mitglieder einer verdeckten Einheit der britischen Armee namens Military Reaction Force (MRF) Anfang der siebziger Jahre ging.

Wie belastet die Vergangenheit in Nordirland ist, zeigt das Thema der sogenannten "Disappeared". Bei den Verschwundenen handelt es sich um 16 Personen, die meisten von ihnen Katholiken, die wegen des Verdachts der Spionage für die britischen Behörden von der IRA heimlich hingerichtet und deren Leichen irgendwo verscharrt wurden. Trotz der Hilfe der IRA hat man bis heute nur neun der sechzehn Leichen finden können. Gegen Gerry Adams, den langjährigen Vorsitzenden der Sinn-Féin-Partei, der als einer der Hauptinitiatoren des Friedensprozesses gilt und heute dem Parlament in Dublin als Abgeordneter und Oppositionsführer angehört, steht der Vorwurf im Raum, 1972 als damaliger Kommandeur der Belfaster IRA-Brigade die Hinrichtung der zehnfachen Mutter Jean McConville wegen des Verdachts, ein Spitzel der britischen Armee in der sozialen Wohnsiedlung Divis Flats zu sein, angeordnet zu haben. Adams weist nicht nur diesen Vorwurf von sich, sondern bestreitet, jemals ein IRA-Mitglied gewesen zu sein. Die Dementis, die niemand in Irland oder Großbritannien glaubt, schaden Adams' Ansehen als Politiker enorm. Trotzdem hält er an dieser Linie fest, aus Angst, daß man an ihm vor Gericht ein Exempel statuieren könnte.

Wegen der verfahrenen Situation hat Nordirlands Justizminister, der parteilose Rechtsgelehrte John Larkin, in einer Eingabe an Vermittler Richard Haass vorgeschlagen, eine Art Generalamnestie für alle politischen Straftaten, die zwischen 1968 und 1998 in Verbindung mit dem Bürgerkrieg in Nordirland begangen wurden, zu erlassen. Auf die Idee Larkins reagierten die meisten nordirischen Politiker wie Erster Minister Peter Robinson von der Democratic Unionist Party (DUP), Alban McGuinness von der gemäßigten katholisch-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) und Amnesty International mit Entsetzen. Mord dürfe niemals verjähren, erklärten sie. Zustimmung für den Vorschlag kam dagegen von Peter Hain, einst Nordirland-Minister im Kabinett Tony Blairs, und - interessanterweise - dem amtierenden Präsidenten des Police Service of Northern Ireland (PSNI), Sir Matt Baggott. Hain bezeichnete den Ansatz Larkins als "common sense", während Baggott meinte, Nordirlands Polizei habe mit der Verbrechensbekämpfung von heute eigentlich genug zu tun.

Des sozialen Friedens in Nordirland willen ist es längst an der Zeit, daß nationalistische und unionistische Volksvertreter endlich mit der Aufrechnung, wieviel Leid die andere Seite ihrer Gemeinde angetan hat, aufhören. Bereits 2005 hat deshalb der ehemalige IRA-Freiwillige und heutige Sinn-Féin-Kritiker Anthony McIntyre, der den empfehlenswerten Blog The Pensive Quill betreibt, eine Generalamnestie für alle politischen Straftaten aus den Jahren der "Troubles" vorgeschlagen. Acht Jahre später hat McIntyres Anregung Eingang in den Mainstream-Diskurs gefunden. Man kann nur hoffen, daß sie bald gesellschaftlich konsensfähig wird.

22. November 2013