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PARTEIEN/226: Irland stimmt erneut über den Lissabon-Vertrag ab (SB)


Irland stimmt erneut über den Lissabon-Vertrag ab

Ja-Seite wähnt sich auf der Siegerstraße - Nein-Seite kämpft noch


An diesem 2. Oktober sind drei Millionen Wähler in Irland aufgerufen, sich an der Volksbefragung über die Ratizifierung des EU-Reformvertrags zu beteiligen. Von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr abends sind die Wahllokale geöffnet. Die Auszählung erfolgt am 3. Oktober in Dublin Castle. Mit einem Ergebnis wird für den frühen Nachmittag gerechnet. Umfragen zufolge sieht alles danach aus, als würde die Ja-Seite diesmal gewinnen, was natürlich riesige Erleichterung bei den Befürwortern einer in ihren Strukturen gestrafften, "handlungsfähigen" EU auslöste.

Der diesjährige Wettstreit für oder gegen den Vertrag von Lissabon fand unter ganz anderen Rahmenbedingungen als der im frühen Sommer 2008 statt. Das Platzen der irischen Immobilienblase sowie die verheerenden Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise haben die Arbeitslosigkeit in Irland innerhalb von zwölf Monaten auf über 400.000 glatt verdoppelt. Ende September meldete das Central Statistic Office, das im vergangenen April mehr Menschen aus Irland aus- als eingewandert sind. Damit hat der alte Fluch Irlands, die längst überwunden geglaubte Auswanderung, zum erstenmal seit 1995 wieder seinen Haupt erhoben. Die Binnennachfrage geht zurück. Nicht wenige Firmen kämpfen ums nackte Überleben. Einige haben schon Konkurs angemeldet. Viele Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit. Andere können die Hypotheken auf ihren teuer gekauften Eigenheimen, die seit dem letzten Jahr im Schnitt ein Drittel ihres Werts verloren haben, nicht mehr bedienen. In der Privatwirtschaft gehen die Löhne zurück. Wegen eines drastischen Rückgangs der Steuereinnahmen und weil die Regierung für 54 Milliarden Euro die faulen Kredite der irischen Banken und großen Bauherrn übernehmen will, stehen verheerende Kürzungen staatlicher Ausgaben bevor, die vor allem den öffentlichen Sektor treffen werden.

Vor diesem Hintergrund haben fast alle im irischen Parlament vertretenen Parteien - die regierenden Fianna Fáil und Grünen sowie die oppositionelle Fine Gael und Labour - Werbung für die Annahme des Lissabon-Vertrags mit dem Argument gemacht, Irland habe jahrelang von der Mitgliedschaft in der EU profitiert, die Inselrepublik könne es sich in der momentanen Lage nicht leisten, die anderen Mitglieder gegen sich aufbringen, indem sie die von den Festlandvettern erwünschte Reform der EU blockiere. Nach dem Nein im letzten Jahr habe Premierminister Brian Cowen im Frühsommer von den anderen EU-Regierungschefs rechtliche Garantien erhalten, daß weder die irischen Steuersätze noch das Abtreibungsverbot auf der Insel noch die militärische Neutralität des Landes nach Inkrafttreten des Reformvertrags angetastet würden. Darüber hinaus bliebe Irland seine Vertretung in der Kommission erhalten. Also sollte man sich diesmal vernünftig zeigen und mit einem Ja beweisen, daß man zum "Kerneuropa" gehöre. Votierten die Iren erneut mit Nein zu Lissabon würde dies Irland innerhalb der EU "isolieren", ausländische Investoren abschrecken und die global players auf den internationalen Finanzmärkten verunsichern, was wiederum unweigerlich zu einer Erhöhung der Zinsen führen würde, welche der irische Staat zu Bedienung seiner Schulden bezahlen muß.

Tatkräftige Unterstützung bei Vermittlung dieses Untergangszenarios erhielten die etablierten Parteien von den Oberhirten der protestantischen und katholischen Kirche, führenden Gewerkschaftbossen sowie zahlreichen Industriekapitänen, allen voran Michael O'Leary. Der Chef von Ryanair, der für sein loses Mundwerk und seine Gossensprache berüchtigt ist, hat eine halbe Milliarde Euro aus der Kasse seines Konzerns ausgegeben, um Werbung für Lissabon zu machen (Für den gleichen Zweck hat der US-Chiphersteller Intel, der größte private Arbeitgeber Irlands, 300.000 Euro gespendet). Er hat nicht nur umsonst irische Mitarbeiter der EU in Brüssel nach Hause geflogen, damit sie bei ihren Verwandten und Bekannten Stimmung für Ja machen konnten, und ganzseitige Werbeanzeigen in der irischen Presse geschaltet, auf der die Anführer der Anti-Lissabon-Kampagne abgebildet waren mit der arroganten Überschrift "Only Losers say No to Europe", sondern auch Irland am 23. September in Begleitung von dem EU-Transportkommissar Antonio Tajani und einem Troß von Journalisten in einer 737-Maschine bereist, welche die riesige Aufschrift "Yes to Europe" auf der Seite trug. Beobachter vermuten, daß O'Leary auf diese Weise die Zustimmung der EU-Kommission zu einem erneuten Versuch von Ryanair, die staatliche irische Luftlinie Aer Lingus zu übernehmen, erkaufen will. Auf jeden Fall gab O'Leary bei einer Fernsehdebatte mit dem Geschäftsmann Declan Ganley von der Gruppe Libertas offen zu, daß ihm der Vertrag von Lissabon völlig schnuppe sei; ihm gehe es lediglich darum, daß Irland "in Europa" bleibe.

Im Verlauf der selben Sendung vom 24. September, der größten des staatlichen irischen Fernsehsenders RTÉ zum Thema Lissabon, traten in zwei weiteren Kopf-an-Kopf-Debatten, wie man sie aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf kennt, Joe Higgins, Vorsitzender der sozialistischen Partei und frischgebackener EU-Abgeordneter, gegen Außenminister Mícheál Martin respektive Mary Lou McDonald, Vizepräsidentin von Sinn Féin, der einzigen Partei im irischen Parlament, die gegen Lissabon eingestellt ist, gegen den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Pat Cox, der in den letzten Wochen die Gruppe "Ireland for Europe" anführte, an. Während Martin die Zuverlässigkeit der von der Regierung ausgehandelten "Garantien" hervorhob, gelang es Higgins, die vom Lissabon-Vertrag für Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte ausgehende Bedrohung zu thematisieren. McDonald brachte Cox mit ihrem Hinweis auf die von Brüssel und der europäischen Rüstungsindustrie anvisierte Militarisierung der EU ziemlich aus der Fassung. Der Träger des Karlspreises, der nicht nur die EU-Kommission, sondern auch mehrere Großkonzerne als Lobbyist in Brüssel berät, flüchtete sich in Verweise auf die europäischen "Werte" - nach dem Motto, die EU sei über jedes neokoloniales Großmachtdenken erhaben und wolle lediglich den Ländern der Dritten Welt in Sachen Konfliktlösung und ziviler Aufbau helfen.

Ein wichtiges Gesprächsthema sind in den letzten Wochen die Plakate der konservativen Gruppe Cóir mit der Behauptung gewesen, die Ratizifierung des EU-Reformvertrags könnte den Mindestlohn in Irland auf 1,84 Euro absinken lassen. Weil Cóir Verbindungen zu den Abtreibungsgegnern hat, riefen zahlreiche Vertreter der Ja-Seite die Führung der katholischen Kirche dazu auf, sich von der Cóir-Behauptung zu distanzieren. Als Bischof Noel Treanor von Down and Connor dies tat, gab die Organisation eine Erklärung heraus, in der sie feststellte, daß die Tage, in denen sich die Bürger Irlands gefallen ließen, sich vom "Hirtenstab schlagen" zu lassen "lange vorbei" seien. Zwar steht nichts über einen Mindestlohn im Vertrag von Lissabon, Tatsache ist jedoch, daß die Urteile des Europäischen Gerichtshofs in letzter Zeit Unternehmern die Möglichkeit eröffnet haben, Menschen aus Billiglohnländern der EU wie Rumänien und Bulgarien in reicheren Staaten für sich arbeiten zu lassen und sie nach Tarif aus ihren Heimatländern zu bezahlen.

Ob die Umfragen stimmten und die Iren tatsächlich beim zweiten Mal dem Vertrag für Lissabon zustimmen, werden die nächsten Stunden zeigen. Sollten sie es tun, dann ungeachtet der großen Gegenbemühungen der letzten Wochen von Sinn Féin, Cóir, der irischen Friedensbewegung, der People's Movement, der Kommunistischen Partei und zahlreicher anderer kleiner Gruppierungen. Daß die von der Ja-Seite in Aussicht gestellte positive Auswirkung der Zustimmung Irlands zum Reformvertrag eintrifft, darf man bezweifeln. Eher sieht alles danach aus, als stünde die Europäische Zentralbank den bevorstehenden Kürzungen und Streichungen im Sozialbereich Pate. Berichten der heutigen Londoner Times zufolge haben sich Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Gordon Brown auf Tony Blair als ersten EU-Präsidenten geeinigt. Lautet das Ergebnis der Abstimmung in Irland Ja, dann soll die Inthronisierung des britischen Kriegsverbrechers, der zusammen mit George W. Bush die Hauptverantwortung für das Blutvergießen im Irak trägt, als erster EU-Präsident am 29. Oktober bekanntgegeben werden.

2. Oktober 2009