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PARTEIEN/215: EU-Reformvertrag in Irland vor dem Scheitern? (SB)


EU-Reformvertrag in Irland vor dem Scheitern?

Gegner des Lissabon-Abkommens übernehmen in Umfragen die Führung


Für eine politische Sensation sorgen die Ergebnisse einer neuen Umfrage in Irland, die erstmals die Gegner des EU-Reformvertrages deutlich vorne sieht. Am 12. Juni wird in Irland - und zwar, weil von der Verfassung der Irischen Republik zwingend vorgeschrieben - als einzigem EU-Mitgliedsstaat das Volk befragt, ob es bereit ist, weitreichende Kompetenzen der eigenen Exekutive, Judikative und Legislative an die EU-Institutionen - Kommission, Parlament und Rat - abzugeben. In ganz Europa stehen die Menschen dem ehrgeizigen Projekt zur Schaffung eines EU-Superstaats skeptisch bis ablehnend gegenüber. Deshalb haben 2005 die Bürger Frankreichs und der Niederlande bei Volksentscheiden mehrheitlich gegen die EU-Verfassung votiert und sie damit zu Fall gebracht. Unter dem Titel EU-Reformvertrag bzw. Vertrag von Lissabon versuchen nun die EU-Politeliten auf Druck der Großkonzerne die Verfassung in minimal veränderter Form doch noch durchzudrücken. Unter enormem Aufwand bemüht man sich in den letzten Wochen, die irischen Wähler mit Drohungen und Versprechungen zum Ja zu Lissabon zu bewegen. Doch inzwischen sieht es aus, als würden die Iren mit nein auf die Verheißungen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich wie keine zweite für den EU-Reformvertrag eingesetzt hat, reagieren.

Am Abend des 5. Juni wurden die überraschenden Ergebnisse einer Umfrage des Demoskopieunternehmens TNS mrbi, welche die Irish Times in Auftrag gegeben hatte und die in der Ausgabe der wichtigsten Tageszeitung auf der Insel vom heutigen 6. Juni veröffentlicht und analysiert wird, im Radio und Fernsehen bekanntgegeben. Die in der Umfrage ermittelte Veränderung der Haltung der irischen Bürger zum EU-Reformvertrag in den letzten drei Wochen ist mehr als dramatisch. Demnach ist die Gruppe der Unentschiedenen von 40 auf 28 Prozent und die derjenigen, die beabsichtigen, mit ja zu votieren, von 35 auf 30 Prozent zurückgegangen. Dafür sind die Lissabon-Gegner, die vor drei Wochen bei magerem 18 Prozent lagen, um 17 auf 35 Prozent hochgeschossen und liegen nun deutlich vorn. Die 7 Prozent, die sagen, sie wollten sich sowieso der Stimme enthalten, fallen nicht ins Gewicht.

Wie der irische Rundfunk Raidió Teilifís Éireann auf seiner Website am 5. Mai richtig feststellte, steuert das Polit-Establishment auf der Insel einer "vernichtenden Niederlage" entgegen. In den letzten drei Wochen haben die Führungspersönlichkeiten fast aller Parteien, darunter Premierminister Brian Cowen, Finanzminister Brian Lenihan, Außenminister Mícheál Martin von Fianna Fáil, der Oppositionsführer Enda Kenny und die beiden Ex-Premierminister John Bruton und Garret Fitzgerald von Fine Gael, Labours Vorsitzender Eamonn Gilmore und deren MEP Proinsias De Rossa, das grüne Führungsduo John Gormley und Trevor Sargent sowie Gesundheitsministerin Mary Harney von den neoliberalen Progressive Democrats mit öffentlichen Auftritten, Zeitungskommentaren und Interviews in den wichtigsten Medien unablässig versucht, den irischen Wählern den EU-Vertrag schmackhaft zu machen - mit wenigem Erfolg, wie sich nun herausgestellt hat.

Dagegen sind es die Vertragsgegner, in deren Reihen die linksgerichtete Sinn Féin, die rechtslastige libertäre Gruppe Libertas sowie diverse Anti-Globalisierungs-, Friedens- und Umweltgruppen zu finden sind, die in den letzten Jahren durch Proteste gegen den Bau einer Gaspipeline an der Atlantikküste der Grafschaft Mayo, gegen den Bau einer Autobahn in unmittelbarer Nähe des archäologisch enorm bedeutungsvollen, früheren Sitzes der irischen Oberkönige in Tara in der Grafschaft Meath sowie gegen die Nutzung des internationalen Flughafens Shannon in der Grafschaft Clare zum Truppentransport durch das US-Militär und für den Transport von verschleppten "Terrorverdächtigen" durch die CIA in Erscheinung getreten sind, die mit ihren Warnungen vor der erneuten Degradierung Irlands zu einer Provinz innerhalb eines auf der Globalebene aggressiv agierenden Imperiums bei den einfachen Iren offene Türen einrennen.

Den Umfrageergebnissen zufolge sind es vor allem jüngere und weniger wohlhabende Menschen, die in Irland den Reformvertrag ablehnen. Viele Kleinbauern befürchten, von einer zentralistischer regierten EU den Erfordernissen der Lebensmittelindustrie geopfert zu werden, während ihrerseits viele Arbeiter und Angestellte mit einer unternehmerfreundlichen, neoliberalen Agenda einschließlich Lohndrückerei und Beschneidung gewerkschaftlicher Errungenschaften rechnen. Man fragt sich, wie Irland seine Sozialstandards verbessern bzw. überhaupt halten kann, wenn nachher bei Mehrheitsentscheidungen die Großmächte Deutschland, Frankreich und Großbritannien den Kurs maßgeblich bestimmen und wenn Dublin in der Kommission zumindest für längere Zeit nicht mit einem eigenen Politiker vertreten ist.

Vor allem sind es die im EU-Vertrag ausdrücklich genannten Bestrebungen in Richtung Aufrüstung sowie gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die in Irland mit seiner leidigen Geschichte jahrhundertelanger Kolonialausbeutung durch Großbritannien Unbehagen auslösen. Die Mehrheit der Bürger der Irischen Republik ist stolz auf ihre schwer erkämpfte Unabhängigkeit und auf die Neutralitätspolitik, dank der das Land von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges verschont blieb und die Dublin den Ruf, bei den Vereinten Nationen stets die Position der kleinen Länder zu vertreten, beschert hat.

Traditionell haben sich die irischen Streitkräfte an vielen UN-Friedensmissionen wie zum Beispiel im Kongo in den sechziger Jahren und im Libanon in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren beteiligt. Die Verwendung von Shannon durch das Pentagon seit Beginn des sogenannten Antiterrorkrieges kratzt bereits am liebgewordenen Selbstbildnis der Iren von der Neutralität und Unabhängigkeit, weshalb viele von ihnen durch ein Nein zum EU-Reformvertrag signalisieren wollen, daß sie an einer Teilnahme an irgendwelchen künftigen Militärabenteuern der früheren europäischen Großmächte zur Ressourcensicherung oder zur "Friedenserzwingung" kein Interesse haben.

Eigentlich wollen die irischen Gegner des EU-Reformvertrages mit ihrem Nein den selbstherrlichen Politeliten in Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten einen Denkzettel verpassen, wie es vor drei Jahren die Franzosen und Niederländer gemacht haben. Doch selbst wenn es ihnen gelingt, die Abstimmung in Irland über den Reformvertrag zu gewinnen, ist bereits jetzt absehbar, daß sich diejenigen Akteure, die meinen, nur sie und ihresgleichen und nicht das gemeine Volk verfügten über den geopolitischen und makroökonomischen Durchblick, über das zu erwartende Nein von der grünen Insel hinwegsetzen werden.

Bereits im Februar hat das EU-Parlament in Straßburg beschlossen, daß der Wille des irischen Souveräns in der Frage des EU-Reformvertrages nicht bindend sei, sollte er negativ ausfallen. Vor kurzem hat das deutsche MEP Elmar Brok von Merkels Christlich-Demokratischer Union (CDU) öffentlich mit einer "Debatte über den Austritt" Irlands gedroht, sollte Dublin beim Verkauf des Reformvertrages nicht Vollzug melden. Wenn jetzt schon auf solche Weise die Rechte eines kleinen, aber nominell souveränen Landes mit Füßen getreten werden, worauf muß man sich erst nach Inkrafttreten des EU-Reformvertrages gefaßt machen? Daß die Mehrheit der irischen Wähler angesichts offener und versteckter Drohungen der EU-Chefetage das von dieser erwünschte Legitimationssiegel verweigern, wäre nur folgerichtig.

6. Juni 2008