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SOZIALES/145: Die EU im Angriff auf Löhne, Renten, Sozialleistungen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 30 vom 29. Juli 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die EU im Angriff auf Löhne, Renten, Sozialleistungen
Leitlinien der EU-Kommission für Sparzwang, Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und weniger Kündigungsschutz

Von Georg Polikeit


Die von den Medien geschürte Aufregung um Griechenland- und Euro-Krise haben in den letzten Wochen vielfach aus dem Blick verdrängt, was sonst noch in der EU geschieht.

Dabei haben die beiden jüngsten "Gipfeltagungen" des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten Veränderungen in der Funktionsweise und den Strukturen der EU auf den Weg gebracht, die durchaus als eine "neue Qualität" in der wirtschaftspolitischen Steuerung der Mitgliedstaaten durch die EU-Zentralinstanzen bezeichnet werden können. Sie betreffen keineswegs nur die "Krisenländer", die dem Diktat aus Brüssel zum sozialen Kahlschlag im Namen des "Defizitabbaus" unterworfen werden und praktisch aufhören, souveräne Nationalstaaten zu sein. Von den Veränderungen in den EU-Steuerungsmechanismen betroffen sind ausnahmslos alle EU-Staaten. Es geht um neue Eingriffsrechte der EU-Zentralen nicht nur in Kernbereiche der Finanz- und Wirtschaftspolitik, sondern auch in die Lohn- und Tarifpolitik, Altersversorgung, Rentensysteme und sonstigen Systeme der sozialen Absicherung.

Im Kern handelt es sich um das, was in bürgerlichen Medien und Politikerreden gelegentlich als "Wirtschaftsregierung" bezeichnet wird. Im Originalslang der EU heißt es "Economic Governance", und das wäre wohl präziser mit "Wirtschaftssteuerung" oder "Wirtschaftslenkung" übersetzt. Im Wesentlichen geht es um drei neue Kontroll- und Steuerungselemente:

1. Das bereits im September 2010 beschlossene "Europäische Semester", das in diesem Jahr (2011) erstmals durchgeführt wurde. Laut Bundesfinanzministerium ist dies "ein Instrument vorbeugender Überwachung" der Mitgliedstaaten durch die EU-Zentrale. Die Einzelstaaten müssen jährlich ihre Haushaltspläne und ihre mittelfristige Finanzplanung bereits ein halbes Jahr vor der Einbringung in die nationalen Parlamente der EU-Kommission in Brüssel zur Kontrolle vorlegen. Das schließt die Vorlage konkreter nationaler Sparpläne und "Reformvorhaben" der einzelnen Staaten zum Abbau von Defiziten ein.

2. Der im März dieses Jahres vereinbarte "Euro-Plus-Pakt". Darin verpflichten sich die 17 Mitgliedstaaten der "Euro-Gruppe", die den Euro als Währung haben, und sechs weitere EU-Staaten, jedes Jahr als Bestandteil ihrer nationalen "Reform- und Stabilitätsprogramme" ein konkretes Maßnahmepaket zur "Förderung der Wettbewerbsfähigkeit" in Brüssel vorzulegen, zu dessen Umsetzung in den nächsten 12 Monaten sie sich verpflichten. Auch dies wird von der EU-Kommission kontrolliert. Als "Indikatoren" für die Bewertung der Pläne wird u.a. ein "Vergleich der Lohnstückkosten" vorgenommen. Aber auch "Reformen des Arbeitsmarktes", Änderungen der Regeln des Aushandelns von Tarifverträgen, Rentenregelungen, Einschränkung des Arbeitslosengeldes und anderer Sozialleistungen sowie die Einführung einer "Schuldenbremse" nach deutschem Vorbild gelten als "Bewertungskriterien". (s. UZ v. 1.4. u. 15.4.2011).

3. Der ebenfalls im März dieses Jahres endgültig beschlossene "Europäische Stabilitätsmechanismus" (ESM), der ab 2013 die bisherigen befristeten EU-"Rettungsschirme" EFSF und EFSM ablöst. Er kann in Finanznot geratenen Euro-Staaten als Ultima ratio (letztmöglicher Ausweg) "Finanzhilfen" in Form von Krediten oder Bürgschaften gewähren, an denen auch der IWF beteiligt ist. Dafür müssen die betreffenden Staaten sich mit von EU und IWF diktierten "Anpassungsprogrammen" zum Abbau ihrer Schulden nach dem "Modell Griechenland" einverstanden erklären. De facto werden sie damit unter EU-IWF-Zwangsverwaltung gestellt. Der Gesamtumfang des ESM-"Schirms" wurde auf 750 Milliarden Euro begrenzt, wovon aber nur 500 Mrd. tatsächlich vergeben werden sollen. 80 Milliarden müssen von den beteiligten Euro-Staaten als Bareinlage eingezahlt werden (Deutschland 22 Mrd.). Der Rest sind Kreditzusagen und Bürgschaften. Der Vertrag über die Gründung eines dafür zuständigen EU-Finanzierungsunternehmens mit Sitz in Luxemburg wurde am 11. Juli von den Staaten der Euro-Gruppe unterzeichnet, muss allerdings noch von den Parlamenten ratifiziert werden.

Nimmt man diese drei Neuregelungen zusammen, tritt deutlich hervor, dass damit die Kompetenzen der EU-Spitzengremien gegenüber den Mitgliedstaaten im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik und in der Folge auch in weiteren Bereichen der Sozial- und Gesellschaftspolitik weiter ausgebaut werden, und dies sozusagen still und leise, ohne eine Änderung der EU-Grundverträge. Es entsteht ein Verhältnis der strukturellen Unterordnung der nationalen Einzelstaaten unter zentrale EU-Richtlinien in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dies kann als aktuelle Bestätigung der Aussage im DKP-Parteiprogramm angesehen werden, dass die wirtschaftliche und politische Dynamik die EU dazu drängt, "sich den Kern eines supranationalen Staatsapparates zu verschaffen".


Die "länderspezifischen Empfehlungen" - ein Beispiel ungebremster neoliberaler Wirtschaftssteuerung

Anfang Juni hat die EU-Kommission nun erstmals das "Europäische Semester" praktiziert und von ihren neuen Kompetenzen nach dem "Euro-Plus-Pakt" Gebrauch gemacht, indem sie die von den Regierungen der Einzelstaaten im April vorgelegten "Stabilitäts- und Reformpläne" einer detaillierten Prüfung unterzog. Im Ergebnis hat sie für alle 27 EU-Staaten "länderspezifische Empfehlungen" zu ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik im nächsten Jahr verfasst
(http://ec.europa.eu/europe2020/tools/monitoring/recommendations_2011/index_en.htm).

Wer sich die Mühe macht, diese Texte im Einzelnen durchzusehen, stellt fest, dass die von der EU-Kommission formulierten Vorgaben zwar situationsbedingt für die einzelnen Länder variieren, in den zentralen Leitlinien jedoch immer wieder auf die gleiche Orientierung hinauslaufen. Es geht um das Drängen der EU auf eine stärkere Gleichschaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Einzelstaaten bei strikter Orientierung an den Wirtschaftsdogmen des Neoliberalismus.

Nachfolgend soll der Charakter dieser "Empfehlungen" an einigen Beispielen unter Verwendung von Zitaten aus dem Originalwortlaut verdeutlicht werden. Alle nachfolgend in Anführungszeichen gesetzten Sätze und Satzteile sind wörtlich dem Originalwortlaut entnommen.


Belgien

Obwohl die belgische Regierung die Reduzierung des gesamtstaatlichen Defizits im Jahr 2011 auf 3,6 Prozent und ab 2012 wieder unter die Referenzmarke von 3 Prozent vorsieht, mahnt die EU-Kommission einen "ehrgeizigeren Defizitabbau und raschere Fortschritte in Richtung der 3-Prozent-Schwelle" an.

In einem gesonderten Punkt fordert die EU-Kommission für Belgien "die Einführung einer Strategie", die darauf abzielt, "die alterungsbedingten Ausgaben einzudämmen, u. a. durch Verhinderung eines frühen Ausscheidens aus dem Arbeitsmarkt mit dem Ziel, das effektive Renteneintrittsalter auf diese Weise anzuheben und das gesetzliche Rentenalter an die Lebenserwartung zu koppeln." Des weiteren wird kritisch festgestellt, "dass die Löhne in Belgien ... im Zeitraum 2005-2010 schneller gestiegen sind als in den drei Nachbarländern." Es sei erforderlich, "das Lohnverhandlungssystem" zu ändern, "um sicherzustellen, dass das Lohnwachstum der Arbeitsproduktivität und der Wettbewerbsfähigkeit in stärkerem Maße Rechnung trägt". Ausdrücklich empfohlen wird die Einführung eines "wirksameren Systems für Ex-post-Korrekturen" bei Lohnvereinbarungen ("Ex-post-Korrekturen" ist EU-Slang und meint die nachträgliche Änderung von abgeschlossenen Tarifverträgen während ihrer Laufzeit).

Des weiteren drängen die "Empfehlungen" für Belgien auf "Arbeitsmarktreformen". Dazu gehören "eine weitere allmähliche Herabsetzung von Höhe und Bezugsdauer der Arbeitslosenleistungen" sowie "strengere Kriterien für die Inanspruchnahme einer Vorruhestandsregelung".


Niederlande

In den Empfehlungen an die Niederlande erklärt die EU-Kommission ihr Einverständnis mit dem "Stabilitätsprogramm" der niederländischen Regierung, das die Absenkung des Defizits bis 2012 unter den Referenzwert von 3 Prozent vorsieht. Hauptpunkt der Kritik an den niederländischen Plänen: "Die langfristigen Kosten der Bevölkerungsalterung liegen über dem EU-Durchschnitt, vor allem bei der Langzeitpflege und den Renten". Deshalb wird die niederländische Regierung aufgefordert, "Maßnahmen (zu) ergreifen, um das gesetzliche Renteneintrittsalter heraufzusetzen, indem es an die Lebenserwartung gekoppelt wird". Außerdem sollen die Niederlande "angesichts der Bevölkerungsalterung ein Modell für die Reform der Langzeitpflege erarbeiten".

Schließlich wird "die relativ ineffiziente Verkehrsinfrastruktur" in den Niederlanden erwähnt, wobei das empfohlene "Heilmittel" geradezu EU-typisch ist: "Verbesserungen bei der effizienten Nutzung der Infrastruktur, zum Beispiel durch Straßenbenutzungsgebühren, würden dabei helfen, die Mobilität der Arbeitskräfte und die Produktivität zu erhöhen und damit auch zu potenziellem Wachstum beitragen".


Luxemburg

Luxemburg gehört mit einem "Defizitziel" von 1,0 Prozent im Jahr 2011 zu den Musterschülern der EU. Dennoch empfiehlt die EU-Kommission auch hier einen noch strengeren Sparkurs, um "das nominale Defizit noch mehr zu reduzieren und bereits 2012 das mittelfristige Ziel zu erreichen".

Vor allem kritisiert die EU-Zentrale aber auch hier den voraussichtlichen "Anstieg der altersbedingten öffentlichen Ausgaben". Wörtlich: "Während das gesetzliche Rentenalter eigentlich bei 65 Jahren liegt, gestattet das luxemburgische Altersversorgungssystem einen früheren Eintritt in den Ruhestand mit praktisch keinen Abzügen von der Altersversorgung, die zudem noch vergleichsweise hoch liegt". Empfohlen wird das "Abraten von Vorruhestandsregelungen" sowie die "Verknüpfung des gesetzlichen Rentenalters mit der Lebenserwartung".

Außerdem drängt die EU-Kommission auch gegenüber Luxemburg darauf, "das Lohnrundensystem zu reformieren und sicherzustellen, dass das Lohnwachstum den Entwicklungen auf dem Gebiet der Arbeitsproduktivität und der Wettbewerbsfähigkeit besser Rechnung trägt". Im Zeitraum 2000-2010 seien die Lohnstückkosten in Luxemburg "fast einundeinhalbmal schneller als im EU-15-Durchschnitt und mehr als fünfmal schneller als in Deutschland" gestiegen.


Frankreich

Im Namen der "Haushaltskonsolidierung" fordert die EU-Kommission, dass die Korrektur des übermäßigen Defizits in Frankreich (2010: 7,0 Prozent) bis 2013 "rigoros vorgenommen" wird. Alle unerwarteten Steuermehreinnahmen seien zur Beschleunigung des Defizit- und Schuldenabbaus zu verwenden.

Positiv bewertet die EU-Zentrale dagegen die von Sarkozy 2010 gegen den massiven Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzte "Rentenreform". Allerdings nicht ohne hinzuzufügen: "Die Überprüfung der Nachhaltigkeit des Rentensystems sollte fortgesetzt und erforderlichenfalls sollten zusätzliche Maßnahmen getroffen werden." Dagegen sind nach Ansicht der Kommission "die geltenden Kündigungsschutzvorschriften weiterhin zu streng", wobei insbesondere kritisch vermerkt wird, dass "bei großen Massenentlassungen umfassende Wiedereinstellungsverpflichtungen" gelten.

Ferner diagnostiziert die EU-Kommission Frankreich "eine abnehmende Wettbewerbsfähigkeit bei den Lohnkosten infolge der Wiedereinführung des einheitlichen Mindestlohns im Zeitraum 2003-2005". Kritisch wird angemerkt, dass der französische Mindestlohn "noch immer einer der höchsten in der Europäischen Union" sei.


Deutschland

Den "Klassenprimus" behandelt die Brüsseler Kommission natürlich deutlich freundlicher als den Rest der EU-Staaten. Gelobt wird der deutsche "Aufschwung auf breiter Basis". Die deutsche Wirtschaft habe "ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den meisten Ländern des Euro-Währungsgebiets weiter gesteigert" stellen die Brüsseler Kommissare fest. Auf die Idee, dass die deutsche Exportwalze eine entscheidende Ursache für die Defizite der übrigen EU-Staaten sein könnte, kommen die EU-Oberen nicht.

Kritisch vermerken die EU-Kommissare aber, dass die deutsche Staatsverschuldung nach den "Projektionen" der Bundesregierung auch 2015 noch bei 75,5 Prozent des BIP und damit über dem EU-"Referenzwert" (60 Prozent) liege. Gedrängt wird auf "weitere Schritte zur Erhöhung der Ausgabeneffizienz im Gesundheitswesen und bei der Langzeitpflege". Lobend erwähnt die Brüsseler Kommission die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, doch müsse sie "auf Länderebene noch vollständig umgesetzt werden" (lies: weitere Senkung der Ausgaben der Bundesländer und vor allem der Zuweisungen an die Kommunen).

Schließlich wird von einem drohenden "Mangel an Arbeitskräften vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung" fabuliert, weshalb bestehende Hindernisse für eine Erwerbsbeteiligung von älteren Menschen, Frauen und gering qualifizierten Arbeitskräften beseitigt werden müssten (was weitere Deregulierung der Arbeitsverhältnisse und Erweiterung des Sektors der gering entlohnten Teilzeitarbeit bedeuten dürfte).

Kritisch erwähnt wird allerdings auch, dass der "Bildungsgrad junger Menschen in Deutschland im Tertiär- und oberen Sekundarbereich" unter dem EU-Durchschnitt liege, wobei nach Brüsseler Ansicht "eine Erhöhung des Angebots an Vor- und Ganztagsschulen und ein leichterer Übergang zwischen verschiedenen Zweigen des Schulsystems" Abhilfe schaffen könnte.

"Empfohlen" wird ferner, die in Deutschland beabsichtigte "grundlegende Umstellung der Energieversorgung" strikt an das "Prinzip der Kostenwirksamkeit" zu binden (also einer Erhöhung der Energiepreise durch die Stromkonzerne keine Hindernisse in den Weg zu legen).


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Die hier skizzierte Auflistung ließe sich mit weiteren Beispielen fortsetzen. Die aufgeführten dürften jedoch bereits genügen, um einen Eindruck zu vermitteln, in welcher Breite die EU-Zentrale den Einzelstaaten künftig Vorgaben im Bereich der Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verordnen will und in welche Richtung diese weisen.

Es lässt sich natürlich die Frage aufwerfen, welche Verbindlichkeit diese "Empfehlungen" aus Brüssel tatsächlich haben und mit welchem Nachdruck sie die Mitgliedstaaten umsetzen werden. Immerhin ist aber vorgesehen, dass die Einhaltung der "Reformprogramme" der einzelnen Staaten und der von der EU dazu formulierten "Empfehlungen" im nächsten Frühjahr erneut überprüft werden soll und damit wieder auf die Tagesordnung kommt. Der politische Druck, der damit aufgebaut wird, dürfte nicht ohne Wirkung bleiben. Mit Sicherheit ist aber davon auszugehen, dass es sowohl auf EU-Ebene wie in den einzelnen Mitgliedstaaten starke Kräfte in Politik und Wirtschaft gibt, die auf die Einhaltung dieser Pläne und Empfehlungen pochen werden, weil sie genau den Interessen und Wünschen der in der EU ansässigen transnationalen Konzerne entsprechen.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 30 vom 29. Juli 2011, Seite 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011