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SOZIALES/139: Welches Sozialmodell verfolgt die EU-Kommission für Europa? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2010

Unter Kritik und Verdacht
Welches Sozialmodell verfolgt die EU-Kommission für Europa?

Von Gabriela Sierck


Seit am 1. Dezember 2009 der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, besteht die Hoffnung, dass die sozialen Rechte in Europa einen höheren Stellenwert erhalten. Die Vorschläge der Europäischen Kommission haben im Bereich der Sozialpolitik in den letzten Jahren an Profil gewonnen. Offenkundig setzt sie sich jetzt auch mehr mit den Anliegen und Argumenten auch der kirchlichen Wohlfahrtsverbände auseinander. Diese sollten ihre Chancen nutzen.


Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1957 stand die wirtschaftliche Integration im Vordergrund. Jedoch gab es von Anbeginn an das Bemühen um Gleichstellung: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" war eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union. Es ist in den Römischen Verträgen von 1957 verankert und war bereits 1975 Gegenstand einer Richtlinie, die die Diskriminierung in allen Lohnaspekten zwischen Frauen und Männern bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit verbietet. Daneben gab es von Anbeginn an die Unterstützung für soziale Maßnahmen durch den Europäischen Sozialfonds. Ein frühes Beispiel für europäische Rechtssetzung im Bereich der Sozialpolitik ist die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit. Mit ihr wird sichergestellt, dass Arbeitnehmer bei Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit in den Sozialversicherungssystemen keine unzumutbaren Nachteile erleiden.

Trotz dieser frühen Beispiele blieben Politik, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Bürger und die Medien im Hinblick auf die Vorschläge der Europäischen Kommission zum Sozialen Europa kritisch. Die Europäische Kommission hat immer mehr sozialpolitische Kompetenzen eingefordert und ihr wurde dafür vorgeworfen, dass sie das Subsidiaritätsprinzip verletze. Wenn Bundesländer, Kommunen und die nationalen Parlamente europäische Vorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz abklopfen, dann hat dies viel damit zu tun, dass sie einen eigenen Kompetenzverlust befürchten. Wenn aber Wohlfahrtsverbände, Nichtregierungsorganisationen, Sozialversicherer und Gewerkschaften die Subsidiaritätsrüge erheben, dann hat dies viel mit der Furcht zu tun, dass die Kommission eine "falsche" Sozialpolitik vorschlagen könne.


Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 hat die EU zwei Grundlagenverträge erhalten: den Vertrag über die EU (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Mit Art. 2 EUV wurde die Grundrechte-Charta verbindlich und in Art 3 AEUV werden die sozialen Ziele der Europäischen Union präzisiert. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon fand sich im Vertrag über die Europäische Union wenig zu den sozialen Rechten der Bürger der EU, und die Grundrechtscharta war juristisch betrachtet eine reine Absichtserklärung. Obwohl sich die europäischen Institutionen immer wieder auf sie berufen haben, führte die fehlende Verbindlichkeit zu Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, in denen die Existenz der Charta völlig ignoriert wurde. Gerade in den letzten drei Jahren kam es zu einer gewissen Irritation über die europäische Sozialpolitik durch die Rechtsprechung des EuGH.


Binnenmarktfreiheiten versus Arbeitnehmerrechte

Der Europäische Gerichtshof hat in einigen Urteilen in den Jahren 2007 und 2008 den Freiheiten des Binnenmarktes eine höhere Bedeutung als den sozialen Rechten eingeräumt. Am 11. Dezember 2007 urteilte der EuGH in der Rechtssache Viking, dass der Streik finnischer Seeleute gegen das Umflaggen einer Fähre der Firma Viking zwischen Helsinki und Tallin einen Eingriff in das Recht der Firma Viking sei, sich in einem anderen EU-Staat niederzulassen. Schon eine Woche später folgte ein weiteres Urteil, in dem die Binnenmarktfreiheiten wiederum einen höheren Stellenwert als die Arbeitnehmerrechte erhielten.

In dem Urteil des EuGH vom 18. Dezember 2007 in der Rechtssache Laval ging es darum, dass der lettische Bauunternehmer Laval im Jahr 2004 lettische Arbeitnehmer auf einer Baustelle in Schweden eingesetzt hatte. Die Entlohnung erfolgte gemäß lettischen Tarifverträgen. Schwedische Baugewerkschaften fassten dies als Lohndumping auf und versuchten, den Bauunternehmer dazu zu bewegen, gemäß den schwedischen Tarifvereinbarungen zu zahlen. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen blockierten sie die Baustelle in Schweden. Der EuGH erkannte in seinem Urteil das Grundrecht auf Streik zwar ausdrücklich an, vertrat aber die Auffassung, dass ein Streik keine der vier Grundfreiheiten der EU (Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit und Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs) einschränken dürfe.

In der Rechtssache Rüffert (Urteil des EUGH vom 3. April 2010) hatte das vorlegende Gericht den EuGH gefragt, ob eine Tariftreueklausel, wie sie das niedersächsische Vergabegesetz vorsah, eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstelle, was von dem EuGH bejaht wurde. Gewerkschaftsvertreter haben diese Rechtsprechung vor allem deshalb kritisiert, da sie den Umkehrschluss zulasse, dass Arbeitgeber die Möglichkeit haben, Gewerkschaften unter dem Vorwurf der Verletzung der Freiheiten im Binnenmarkt für ihre Gewerkschaftsarbeit zu belangen.


Seit der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, besteht nun die Hoffnung, dass die sozialen Rechte in Europa einen höheren Stellenwert erhalten und nicht hinter den vier Freiheiten des Binnenmarktes zurückstehen. Die soziale Marktwirtschaft wurde im Vertrag von Lissabon als ein Ziel der Union benannt. Der neue rechtliche Rahmen wird (hoffentlich) die von den Gewerkschaften geäußerten Fragen und Bedenken angemessen beantworten. Im so genannten Monti-Bericht zur Neubelebung des Binnenmarktes vom 11. Mai 2010 heißt es hierzu: "Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, wäre auszuloten, welcher Spielraum für weitere politische Maßnahmen besteht."

Theoretisch bestehen zwei Möglichkeiten um ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Freiheiten und Streikrecht herzustellen: eine Ergänzung des Vertrages um eine "Klausel über den sozialen Fortschritt" oder eine Regelung des Streikrechts auf EU-Ebene, die jedoch ebenfalls eine Änderung der Verträge erfordern würde. Wenn man sich an die Schwierigkeiten der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon in den Mitgliedstaaten erinnert, ist zu vermuten, dass es Jahre oder Jahrzehnte braucht, bis eine klare Regelung durchgesetzt wird; es sei denn, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bekommt die Chance, die Rechtsprechung des EuGH auf die Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu überprüfen. Ob er den Argumenten des EuGH folgen wird, darf bezweifelt werden.


Wer über die Zukunft des Sozialen Europa etwas sagen will, muss neben der rechtlichen Ebene auch die Frage der Zuständigkeit und des politischen Willens für eine europäische Sozialpolitik in den Blick nehmen. Die EU hat für die Sozialpolitik eine eingeschränkte Zuständigkeit, die im Art. 151 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) genau festgelegt wurde: Dazu zählen die Unterstützung der Mitgliedstaaten unter anderem im Bereich der Beschäftigungsförderung, der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes für Arbeitnehmer, die kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, die Beschäftigungsbedingungen für Drittstaatsangehörige, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, die Chancengleichheit und die Modernisierung des sozialen Schutzes.

Das Soziale Europa wird heute durch Schlagworte wie Modernisierung des Europäischen Sozialmodells, Aktivierung, Inclusion, Flexicurity, Beschäftigungsfähigkeit et cetera geprägt. Was darunter zu verstehen ist, ist schwer zu beschreiben. Diese Schlagwörter tauchen aber immer wieder auf, wenn die Europäische Kommission versucht, die Sozialschutzsystem der Mitgliedstaaten auf gemeinsame Ziele neu auszurichten.

Die Zuständigkeit der Kommission ist dabei weitgehend unstrittig, wenn es um soziale Rechte im Zusammenhang der Arbeitnehmerfreizügigkeit geht, wie beispielsweise der Richtlinienvorschlag der Kommission aus dem Jahr 2008 zu den grenzüberschreitenden Patientenrechten, die Länge der Elternzeit oder des Mutterschutzes. Diese Themen bereiten eher inhaltliche Probleme, da die Rechtstraditionen, Sozialsysteme und die Sozialpolitik von 27 Mitgliedstaaten einer schnellen Einigung im Wege stehen.


Die Europäische Kommission hat die "Offene Methode der Koordinierung" (OMK) eingeführt. Über die Bedeutung dieser Methode existieren unterschiedliche Meinungen. Während einige von einer schleichenden Zentralisierung in der Sozialpolitik sprechen, betrachten sie andere als Placebo. Die Europäische Kommission wendet diese Methode immer häufiger an.

Die Mitteilungen der Europäischen Kommission zur "Verstärkung der Offenen Koordinierungsmethode" vom 2. Juli 2008 sowie das Begleitdokument zu Effizienz und Effektivität von Sozialausgaben geben wichtige Hinweise zur Ausrichtung der europäischen Prioritäten aus Sicht der Kommission: Die OMK soll zu einer gegenseitigen Verpflichtung auf die Erreichung gemeinsamer quantitativer Ziele genutzt und die Sozialausgaben der Mitgliedstaaten auf europäisch definierte Prioritäten gelenkt werden.

Dies ist jedoch nicht ganz unproblematisch, denn die Strategie, europäische Ziele mit einer Kürzung und Streichung anderweitig motivierter Sozialausgaben zu verbinden und nationale Ziele nur noch zu akzeptieren, wenn sie einen Schritt zu den gemeinsamen Zielen darstellen, reduziert die Kompetenzen der nationalen Parlamente und der Regierungen der Mitgliedstaaten. Im Rahmen des Wachstums- und Stabilitätspaktes beispielsweise könnten Sozialausgaben, die nicht der Erreichung gemeinsamer Ziele dienen, auf den Prüfstand gestellt werden.


Eine ökonomisch verengte Betrachtungsweise?

Welches Sozialmodell verfolgt die Kommission für Europa? Der Kommission wird immer öfter vorgeworfen, eine ökonomisch verengte Betrachtungsweise aufrechtzuerhalten, wonach ein effizienter Einsatz öffentlicher Mittel immer dann gegeben sei, wenn mit möglichst geringen öffentlichen Mitteln eine möglichst hohe Reduzierung der Armutsquote erreicht wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Kommission ein hohes Beschäftigungsniveau um jeden Preis anstrebe, mit der Folge, dass in Europa so genannte prekäre Arbeitsplätze zunehmen.

Wohlfahrtsverbande, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen kritisieren auch, dass die Europäische Kommission zu stark auf Beschäftigungsförderung setzt, jedoch keine Antwort darauf gibt, wie die Förderung und Betreuung derjenigen aussehen soll, die nicht in Beschäftigung vermittelt werden können oder die am Rande der Gesellschaft leben. Ähnlich argumentieren diese Verbände auch, wenn es um eine neue Wirkanalyse des Europäischen Sozialfonds geht. Wie kann man die Wirksamkeit von sozialen Maßnahmen beispielsweise für Obdachlose analysieren und messen? Geht es um Beschäftigungsförderung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt oder um die Befähigung zur Teilhabe an der Gesellschaft?

Europäische Rechtssetzungsverfahren sind sehr langsam. So hat die Kommission im Juli 2008 ein großes Sozialpaket veröffentlicht, deren wichtigste Vorschläge (fünfte Gleichstellungsrichtlinie, Ausweitung des Mutterschutzes, grenzüberschreitende Patientenrechte) noch nicht verabschiedet sind. Zu sehr gehen die Meinungen auseinander oder die beabsichtigten Regelungen hätten in den Mitgliedstaaten unbeabsichtigte Nebenwirkungen.


Die Europäische Kommission hat am 7. Juli diesen Jahres eine europaweite öffentliche Diskussion zur Frage gestartet, wie angemessene, nachhaltige und sichere Pensionen und Renten gewährleistet werden können und wie die EU die nationalen Bemühungen am besten unterstützen kann. Seit der Veröffentlichung eines so genannten Grünbuches, welches als Konsultationspapier mit vielen Fragen angelegt ist, gab es heftige Kritik, dass die Kommission sich in die nationalen Rentensysteme einmische und den Mitgliedstaaten eine Erhöhung des Renteneintrittsalters vorschreibe. "Bild" titelte sogar, die EU wolle die Rente mit 70 einführen.

Politiker aus fast allen europäischen Mitgliedstaaten diskutierten, ob die Rente nicht Sache der Mitgliedstaaten sei. Die Kommission hat ihr Grünbuch damit begründet, dass Maßnahmen auf europäischer Ebene die Zukunft der Alterssicherung in den Mitgliedstaaten beeinflusse. Hier ist zum Beispiel an die Finanzmarktregulierung zu denken. Je mehr die Bürger Europas privat vorsorgen müssen, desto dringender wird die Frage, wie die Bürger ihre Zusatzrente sicher anlegen.

Das Grünbuch widmet sich den Fragen zu einer Grundrente und zu möglichen Rentenreformen in den Mitgliedstaaten. In diesem Teil werden die Konsultationsteilnehmer nach ihren Vorstellungen zur Sicherung der Renten in der Zukunft und der Rolle der EU im Bereich der Renten gefragt und danach, wie ein höheres Renteneintrittsalter erreicht werden kann. Im Bereich der Mobilität der Arbeitnehmer werden Fragen zur Portabilität von Betriebsrentenansprüchen und den "cross-border-fonds" als Alternative zu den mobilen Betriebsrenten gestellt.

Ein weiteres Thema ist die Sicherheit und Transparenz von Rentenfonds, wozu auch der Schutz vor der Insolvenz von Unternehmen und der Betriebsrentenkassen gehören soll. Die Kommission fragt auch nach dem besseren Schutz von Betriebsrentenansprüchen etwa nach Firmenpleiten, Unternehmensübertragungen und dergleichen. Bislang war es für Rentner schon im nationalen Bereich nicht einfach, die Betriebsrentenkasse zu identifizieren, in der sie Jahre vor dem Renteneintritt Ansprüche erworben haben. Wenn Arbeitnehmer in mehreren Mitgliedstaaten Betriebsrentenansprüche erworben haben, kann dies unter Umständen noch schwieriger sein.

Deshalb regt die Kommission an, über einen so genannten "tracking service" (Verfolgungssystem) nachzudenken. Hiermit ist ein nationales Registrierungssystem von Betriebsrenten gemeint, welches auch als Anlaufstelle für Rentner dienen kann, den Anspruchsgegner des Betriebsrentenanspruches zu klären.

Dieses Grünbuch ist ein erster Schritt im Rahmen eines langwierigen Rechtsetzungsverfahrens. Es ist noch völlig unklar, in welche Richtung ein mögliches Weißbuch oder Empfehlungen der Kommission gehen werden. Kritiker werfen der Kommission nicht nur Verletzung des Subsidiaritätsprinzips vor, sondern auch dass sie auf Armutsbekämpfung und Lebensstandardsicherung setzt und die Altersvorsorge auf Kapitaldeckung stützen möchte. Der Konsultationsprozess dauert noch bis zum 15. November 2011 und Einzelpersonen, Interessenverbände und Organisationen können durch die Teilnahme deutlich machen, welche Rentenpolitik sie möchten.


Welches Europa im Jahr 2020?

Die Europäische Kommission und der Europäische Rat haben im Frühjahr 2010 ihre Strategie "Europa 2020" verabschiedet, in der sie die Entwicklung einer wissens- und innovationsbasierten, ressourcenschonenden, ökologischen Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und ausgeprägtem sozialen und territorialen Zusammenhalt vorschlagen. Europa 2020 ist ein auf zehn Jahre angelegtes Wirtschaftsprogramm. Es handelt sich um das Nachfolgeprogramm der Lissabon-Strategie, die von 2000 bis 2010 verfolgt wurde. Ziel ist ein "intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" mit einer besseren Koordinierung der nationalen und europäischen Wirtschaft.

Die Strategie sieht unter anderem die Erhöhung der Forschungsausgaben, der Beschäftigungsquote (75 Prozent aller Menschen zwischen 20 und 64 sollen einer Beschäftigung nachgehen) und der Zahl der Hochschulabsolventen vor. Die EU will die Zahl armutsgefährdeter Personen um 25 Prozent verringern. Umstritten waren vor allem das angestrebte Engagement der EU in der Bildungspolitik (die Schulabbrecherquote soll im Jahr 2020 weniger als 10 Prozent betragen und mindestens 40 Prozent der jüngeren Generation soll einen Hochschulabschluss oder eine andere tertiäre Ausbildung haben) und die angezielte Armutsreduzierung.

Im Rat und unter den Lobbyisten wurde heftig gestritten, welchen Armutsbegriff die Kommission vertrete und ob sie Vorgaben für die nationalen Bildungssysteme machen dürfe. Zudem wurde kritisiert, dass Europa 2020 keine wesentlichen Unterschiede zu den Prioritäten der Lissabon-Strategie setze, die bei der Umsetzung ihrer Ziele wenig erfolgreich gewesen war. Umstritten war daher auch, auf welche Weise eine bessere Einhaltung der verfolgten Ziele durch die Nationalstaaten erreicht werden könnte.

Die spanische EU-Ratspräsidentschaft hat deshalb Anfang dieses Jahres die Einführung von Sanktionsmechanismen gegen Mitgliedstaaten verlangt, die die Ziele der Strategie nicht erfüllten. Der Vorschlag stieß jedoch auf heftige Gegenwehr. Die Umsetzung dieser Visionen in die Realität erfolgt in den Mitgliedstaaten. Hier sind vor allem die Wohlfahrtsverbände und die Zivilgesellschaft gefragt, die Umsetzung zu fördern und zu unterstützen. Alle großen deutschen Wohlfahrtsverbände sind in Brüssel vertreten. Sie haben den Prozess um Europa 2020 genauso kritisch und mit ihrer Fachkompetenz begleitet wie viele andere Themen.


Lobbyisten für ein soziales Europa

Auf europäischer Ebene haben sich Hunderte von Organisationen und Netzwerken aus allen europäischen Mitgliedstaaten zu dem Verein "SocialPlatform" zusammengeschlossen. Der Verband hat inzwischen ein hohes "Standing". Er wird von der Kommission und dem Europäischen Parlament oft als Experte in sozialen Angelegenheiten angehört. Der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk unterhalten in Brüssel seit einigen Jahren Verbindungsbüros, die die europapolitischen Interessen der Verbände vertreten und die Interessen der Menschen einbringen. Sie kommentieren und analysieren die europäische Sozialpolitik.

Die besten Lobbyisten sind dabei die Lobbyisten in eigener Sache: Seit neun Jahren führt die Kommission jährlich ein europäisches Forum für Menschen in Armut durch. Betroffenenverbände und Betroffene können mit den Mitarbeitern der zuständigen Generaldirektionen auf einer Konferenz die wichtigsten Forderungen an die europäische Sozialpolitik (zum Beispiel Mindestlöhne, unfaire Arbeitsbedingungen, Zugang zu Gesundheitsdiensten) diskutieren.

Für die Verbände wird in den nächsten Monaten vor allem das Lobbying für die Dienste von allgemeinem Interesse auf der Agenda stehen. Sie werden deutlich machen müssen, dass die Arbeit der Wohlfahrtsverbände nicht wie jede andere Dienstleistung im Binnenmarkt (Binnenmarktfreiheiten und Wettbewerbsrecht) behandelt werden darf. Das wird sicherlich nicht einfach sein. Dennoch: Die Vorschläge der Europäischen Kommission im Bereich der Sozialpolitik haben in den letzten Jahren erheblich an Profil gewonnen und ihre Sprache zeigt, dass sich die Kommission mit den Anliegen und Argumenten der Wohlfahrtsverbände auseinandersetzt.


Die promovierte Juristin Gabriela Sierck leitete von 1986 bis 1993 das Menschenrechtsreferat der Deutschen Kommission Justitia et Pax und ist seit 1993 Beamtin in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, dort arbeitet sie seit 2007 im Referat "Europa".


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2010, S. 514-518
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2010