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INNEN/469: Flüchtlingskinder - Gestrandet und schutzlos in Griechenland (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Gestrandet und schutzlos in Griechenland - Die Flüchtlingskinder Europas

Von Karl Kopp


Bilder von inhaftierten Minderjährigen im "Kinderknast von Pagani" auf der Insel Lesbos, von obdachlosen und ausgehungerten afghanischen Jungen in der Athener Innenstadt oder den griechischen Fährhäfen Igoumentisa und Patras schrecken auf. Afghanische Flüchtlingskinder, die in der Kanalisation von Rom vegetieren, obdachlos in den Straßen von Paris oder in Elendslagern wie dem sogenannten Dschungel im französischen Calais um ihr nacktes Überleben kämpfen, erregen Mitleid. Die Planierung der selbstgebauten Elendsbehausungen, wie im Juli 2009 im griechischen Patras und im September 2009 in Calais, setzt für diese Flüchtlingskinder nur die Kette der Gewalt und des Elends fort. Entlang der innereuropäischen Fluchtrouten werden unbegleitete Minderjährige Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Europa schaut weg. Diese dramatischen Bilder sind keine Einzelerscheinung, sondern Ausdruck einer verfehlten europäischen Flüchtlings- und Kinderschutzpolitik.


Kein Schutz. Nirgends

Afghanische und somalische Minderjährige riskieren bei der gefährlichen Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ihr Leben. Das Abdrängen ihrer Schlauchboote in lebensgefährdender Weise und das Zurückverfrachten in Richtung Türkei sind an dieser europäischen Seegrenze traurige Normalität. Falls sie es lebend auf eine der griechischen Inseln schaffen, werden sie, wie alle anderen Bootsflüchtlinge, inhaftiert. Irgendwann, häufig erst nach Wochen, werden sie in die völlige Schutzlosigkeit entlassen.

In den letzten zwei Jahren strandeten über 10.000 unbegleitete Minderjährige auf der Insel Lesbos und anderswo. In Griechenland fehlen aktuell Tausende Aufnahmeplätze für Asylsuchende. Für Kinderflüchtlinge existieren momentan lediglich 405 Schlafplätze in kindgerechten Unterkünften. "In Griechenland existiert keinerlei Verfahren, das auf die speziellen Anforderungen für diese Kinder eingeht", so der UNHCR im Dezember 2009. Die Zahlen zeigen, dass allein die Unterbringungssituation verheerend ist. Flüchtlingskinder können in Griechenland unter den momentanen Voraussetzungen keinen Schutz finden. Es fehlen kindgerechte Unterkünfte und ein funktionierendes System, Vormundschaften zu bestellen und Betreuer - also alle zentralen Elemente eines Kinderschutzsystems.

Aus der Sicht von PRO ASYL sind diese Minderjährigen die Flüchtlingskinder Europas.


Dantes Inferno entronnen - das Elend bleibt

Mytilini, Ende Oktober 2009: Über 150 Kinder und Jugendliche aus Afghanistan und Somalia eingesperrt in einer Halle des Haftlagers Pagani - einige von ihnen schwer krank. Sie haben gerade ihr bloßes Leben nach Europa gerettet und werden unter erbärmlichen Bedingungen inhaftiert. Eine Toilette, eine Dusche, kein Hofgang - das ist der Willkommensgruß Europas. Nebenan befinden sich zum gleichen Zeitpunkt 200 Frauen, 50 Kinder und Babys in einer Zelle. Bei einem gemeinsamen Besuch mit PRO ASYL und UNHCR-Vertretern zeigt sich der stellvertretende Bürgerschutzminister, Spyros Vougias, erschüttert. Er spricht von Zuständen "schlimmer als Dantes Inferno". Eine große Zahl von Minderjährigen wird in den darauffolgenden Tagen aus der Haft entlassen. Aber der traurige Teil der Geschichte setzt sich fort. Die meisten Entlassenen, darunter die Minderjährigen, stehen vor dem Nichts und leben seither schutz- und obdachlos auf den Straßen Athens.

"Viele von uns müssen im Park schlafen. Wir bekommen keine Unterstützung. Wir haben nichts zu essen", teilt M. in einem Gespräch in Athen Anfang November 2009 mit. M. ist ein unbegleiteter Minderjähriger aus Afghanistan. Er kam mit einer Gruppe von knapp 130 aus der Haft entlassenen Schutzsuchenden am 3. November 2009 im Hafen von Piräus in Athen an. Er wurde mit einem Papier aus der administrativen Haft entlassen, das bestätigt, dass er in einem Heim für Flüchtlingskinder in Agiassos auf der Insel Lesbos untergebracht sei. M. hat dieses Heim nie gesehen. So wie M. erging es auch den anderen Minderjährigen aus Afghanistan. Auf dem Papier sind sie alle kindgerecht in Agiassos auf der Insel Lesbos untergebracht und haben einen Vormund. De facto wurden sie einfach im Hafen von Mytilini ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen.


Die Kette der Gewalt und Entrechtung setzt sich fort

Da in Griechenland kein Schutz- und Aufnahmesystem für Flüchtlingskinder existiert, irren die aus der Haft entlassenen Minderjährigen durch das Land und versuchen verzweifelt, über Italien oder immer häufiger über die Balkanroute in ein anderes europäisches Land auszureisen. Auf diesen innereuropäischen Fluchtwegen riskieren sie erneut ihr Leben und sind jeglicher Form von Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt.

Diese Kinder und Jugendlichen versuchen irregulär, versteckt in LKWs und Containern, nach Italien zu gelangen. Zahlreiche Kinder kamen in den letzten Jahren um, weil Ladungen sich verschoben oder sie in den Frachträumen erstickten. Wenn sie entdeckt werden, kommt es zu Misshandlungen - von den LKW-Fahrern oder von der griechischen Hafenpolizei. Gelangen sie unentdeckt in die italienischen Häfen Ancona, Venedig oder Bari droht ihnen - obwohl dies auch nach italienischem Recht verboten ist - dass sie wie Stückgut mit der nächsten Fähre zurückverfrachtet werden.

In der ersten Aprilwoche 2009 werden von der Polizei in Rom 24 afghanische Kinder im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren in der Kanalisation in der Nähe des Bahnhofs Ostienze entdeckt. Sie leben dort mit knapp 90 anderen Obdachlosen. Die Zeitung La Republica berichtet, dass zu diesem Zeitpunkt knapp 1.100 unbegleitete Kinder auf den Straßen Roms leben. 30 Prozent dieser Flüchtlingskinder sind nach Schätzung der Behörden afghanische Minderjährige.

Am 2. Februar 2010 beschreibt UNHCR die dramatische Situation von unbegleiteten Minderjährigen im französischen Calais. Eine steigende Zahl kämpfe unter elenden Bedingungen um das nackte Überleben. UNHCR schätzt, dass knapp ein Viertel aller Schutzsuchenden in Calais unter 18 Jahre alt ist. UNHCR - Mitarbeiter haben beispielsweise 9-jährige Kinder vorgefunden, die unter unerträglichen Bedingungen in Calais vegetierten.


Europa darf nicht länger wegschauen

Trotz emphatischer Bekenntnisse zur "Vorrangigkeit des Kindeswohls" nimmt die Europäische Union in Kauf, dass für diese Flüchtlingskinder kein gemeinsames Schutzsystem existiert. Europa ist bis jetzt nicht willens, diesen Kindern und Jugendlichen einen geschützten Weg innerhalb der EU zu eröffnen.

PRO ASYL hat deshalb im Frühjahr 2010 eine Initiative gestartet, um das Leid dieser Minderjährigen zu beenden. Mit Postkarten und E-Mails sollen der Bundesinnenminister und die Europäische Kommission zum Handeln aufgefordert werden. Um die Kinder aus dem Elend und der Schutzlosigkeit zu holen, bedarf es jetzt gemeinsamer Anstrengungen der EU-Mitgliedstaaten. Für die gestrandeten Minderjährigen in Griechenland muss schnell und unbürokratisch eine humanitäre und kindgerechte Lösung gefunden werden. PRO ASYL fordert, dass diese Flüchtlingskinder kurzfristig nach Deutschland geholt und in andere EU-Staaten verteilt werden und ihnen endlich eine menschenwürdige Zukunft eröffnet wird.


Flüchtlinge in Griechenland: gestrandet, entrechtet und ohne Schutz"

Seit 2008 ist PRO ASYL mit einem Kooperationsprojekt in Griechenland aktiv und unterstützt besonders schutzbedürftige Flüchtlinge. In diesem Zeitraum stand das Projektteam Tausenden Schutzsuchenden unter schwierigsten Bedingungen zur Seite.

Die von der STIFTUNG PRO ASYL und dem Förderverein PRO ASYL herausgegebene Broschüre dokumentiert exemplarische Einzelfälle und stellt die Arbeit des Projekts im Kontext der griechischen und europäischen Flüchtlingspolitik dar.

DIN A5, 32 Seiten
(1,00 Euro pro Ex., ab 10 Stück pro Ex. 0,80 Euro, ab 100 Stück pro Ex. 0,70 Euro; zzgl. Versandkosten)


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 46-48
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2010