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INNEN/467: "Wenn man eine Seele rettet, rettet man die ganze Menschheit" (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

"Wenn man eine Seele rettet, rettet man die ganze Menschheit"

Tunesische Fischer über ihre Seenotrettungsaktion und die laufenden Strafverfahren


Was passierte im August 2007?

Wir fischen nachts und ruhen zu Sonnenaufgang. Vom 7. auf den 8. August habe ich in der Kabine geschlafen und ich hörte meinen Kameraden schreien: "Steh auf, steh auf! Schnell, wir müssen handeln! Menschen schreien, wenn wir nicht sofort helfen, werden sie sterben!" Als erstes bin ich hinten aufs Schiff gegangen und habe zu ihnen gesprochen, sie sollen ruhig bleiben. Sie waren am Verdursten. Nachdem wir ihnen Wasser gegeben hatten, konnten sie sich ein bisschen beruhigen. Erst habe ich ein SOS an die tunesischen Behörden geschickt, aber ich lag näher an Italien als an Tunesien und wir haben keine Antwort von Tunesien bekommen. Die Italiener haben meinen Ruf gehört und ich habe ihnen alles geschildert. Die Situation war schlimm, wenn ich nicht angefangen hätte zu helfen, wären jetzt 5 - 6 Menschen tot. Ich habe ein anderes Boot um Hilfe gerufen. Bald kam mein Freund Abdel Karim Bayoudh. Wir hielten die "Nussschale" direkt zwischen unseren Booten fest. Dann haben wir die schweren Personen herausgehoben, damit das Boot leichter wird und nicht umkippt. Bei mir waren dann 33 Menschen auf dem Boot, Abdel Karim hatte 11 Menschen. Das Flüchtlingsboot war total kaputt. Was hätte ich denn anderes tun können? Die Alternative wäre gewesen, die Menschen sterben zu lassen.

"Eine Schwangere hätte Lampedusa nicht mehr lebend erreicht, wenn wir ihr nicht mit traditionellen Mitteln geholfen hätten. Sie war sonnenverbrannt und am Verdursten. Alle 15 Minuten haben wir ihr frische Tücher aufgelegt, sie konnte kaum die Augen öffnen, war fast tot." Abdel Basset Zenzeri

Ich bin als Muslim erzogen worden und man hat uns gelehrt: Wenn man eine Seele rettet, rettet man die ganze Menschheit. Dann sind wir losgefahren. Nach ca. 1,5 Stunden kam die Guardia. Sie wollten die Menschen von unseren Booten aufs große Schiff holen, aber es ging nicht, weil das Meer fürchterlich war. Dann haben sie uns gesagt, dass wir ihnen folgen sollen. Ca. 17 Meilen vor Lampedusa kam ein Kriegsschiff. Sie schickten einen Arzt. Ein schwer krankes, behindertes Baby wurde ihm übergeben, aber er hat es wieder zurückgegeben, schon nach einer Minute, ich konnte es kaum fassen. Da war eine hochschwangere Frau, die fast am Sterben war. Als versucht wurde, diese Frau zu übergeben, wurde sie zurückgeschoben. Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt. Das Schiff der Guardia sagte uns, wir sollten ihnen folgen. Da bekam ich das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt, ein ganz komisches Gefühl. Als wir die 12-Seemeilen-Zone vor Lampedusa erreicht hatten, habe ich gestoppt. Ich sagte, dass da etwas läuft, was ich nicht verstehe. Dann kamen drei Schnellboote von der italienischen Seite und haben uns die ganze Zeit umkreist. Auf einem stand Ambulance, und man sagte uns, wir sollten Richtung Lampedusa weiterfahren. Daraufhin habe ich die Maschinen angeworfen, jetzt hatte ich eine klare Order, jetzt konnte ich fahren. Kurz vor Lampedusa sagten sie: jetzt haben wir euch.

"Ich bin 22 und ich habe keine Zukunft. Die Italiener haben ihr Ziel erreicht: Viele Fischer sagen sich, sie wollen nicht helfen, damit es ihnen nicht ergeht wie Zenzeri und meinem Vater. Wir wären überglücklich, wenn das Urteil weggefegt wird, wenn wir unser Leben zurückbekommen mit unseren Familien." Mohamed Anine Bayoud

Als wir auf Lampedusa anlegten, haben sich alle auf uns gestürzt, wie auf Kriminelle. Die Menschen, die wir gerettet haben, sind am nächsten Tag frei herumgelaufen und wir waren angekettet, das war ein ganz merkwürdiges Gefühl. Drogenhändler, Mörder und andere Schwerstverbrecher werden nicht so behandelt. Später im Gerichtssaal waren wir in Metallkäfigen, jeder für sich allein. Ich wurde beschuldigt, dass ich die Leute aus Libyen geholt und sie die ganze Zeit an Bord gehabt hätte usw. Es ist mir klar geworden, dass das ein großes Spiel ist und wir befinden uns mittendrin. Die Gesetze in Tunesien sind so: Wenn die Regierung jemanden mit Flüchtlingen erwischt, wird der Kapitän mit 20 Jahren bestraft. In Tunesien bekommt man auch nicht einfach eine Konzession, ein Fischerboot zu betreiben. Fischerboote sind enorm teuer. Wenn man diese Strafen betrachtet, muss man doch sagen, welcher Tunesier ist so verrückt, nimmt einen Flüchtling auf und riskiert damit seine Existenz? Wir haben alles verloren.

"Ich war an Bord mit meinem Vater, es war schwerer Seegang. Ich habe mich abgeseilt, um das Flüchtlingsboot ranzuziehen. Wir haben Erste Hilfe geleistet, die Italiener das Gegenteil." Mohamed Anine Bayoudh


Wurden ihre Familien benachrichtigt und wurde ihnen gesagt, was sie erwartet?

Wir waren 44 Tage im Gefängnis. Unsere Familien gingen davon aus, dass wir auf Lampedusa sind. Die tunesischen Fischer haben früher immer bei schlechtem Wetter auf Lampedusa angelegt, um ihr Leben nicht zu riskieren.

Im Prozess wurden jeden Tag Beamte der italienischen Marine als Zeugen angehört. Einer, der uns für irgendwas verdächtigen wollte, widersprach sich und wusste nicht, welcher Version er jetzt anhängen sollte. Er vertauschte die Schiffe und so weiter, da stimmte etwas nicht. Ich sagte ihnen, dass keiner der Zeugen die Wahrheit gesagt hat, denn glauben Sie mir, ich würde kein Risiko eingehen und meine Schiffslizenz aufs Spiel setzen. Als ich die Menschen gerettet habe, habe ich an gar nichts gedacht, nur daran, dass ich diesen Menschen das Leben retten will. Wir haben als einfache Fischer Menschenleben gerettet und die gesamte Marine hat zugesehen. Das ist sehr beschämend, dass nicht die Marine die Menschen rettet, sondern wir als Fischer. Als wir schließlich freigelassen wurden, konnten wir es kaum glauben.

"Aus Libyen kommen keine Flüchtlinge mehr. Die Leute riskieren mit den 'Nussschalen' ihr Leben, so verzweifelt sind sie. Für 3.000 Dollar kaufen sie ihre "Todestickets", so nennen wir das. Zwischen Lampedusa und Libyen liegen mehr Leichen als Fische." Abdel Basset Zenzeri


Wie ist es Ihnen seither ergangen?

Es ist ein Drama. Es ist sehr schwer für mich, da ich ohne mein Boot nach Tunesien zurückgekehrt bin. Ich habe keine Arbeit und kann meine Kinder nicht ernähren. Ich lebe von Krediten und vom Betteln. Im Augenblick verkaufe ich den Schmuck von meiner Frau und unsere Möbel, damit wir uns etwas zu Essen kaufen können. All das gilt auch für Herrn Bajoudh, er ist in der gleichen schlechten Situation. Als meine Mutter hörte, dass die italienische Staatsanwaltschaft 2,5 Jahre Gefängnis verlangte, hat sie einen Schlaganfall bekommen. Die Mutter von Herrn Bajoudh und die Frau seines Bruders, die Diabetiker sind, haben durch diese Aufregung beinahe ihr Augenlicht verloren. Wir bekommen 2,5 Jahre Gefängnis und dann könnten wir unsere Boote wiederhaben. Aber wir haben Fotos von Journalisten bekommen, welche die Boote zerstört zeigen. Mein Boot war drei Monate alt und das andere Boot ist nicht einmal drei Jahre alt. Also wenn ein Boot so lange in einem Hafen ohne Pflege steht, geht es kaputt.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 4 - 5
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2010