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INNEN/420: Václav Klaus äußert Zweifel an fortschreitender europäischer Integration (EP)


Europäisches Parlament - Pressemitteilung vom 19.02.2009

Václav Klaus äußert Zweifel an fortschreitender europäischer Integration

Der Präsident der tschechischen Republik, Václav Klaus, sprach am 19. Februar zu den Abgeordneten des EP


Der Lissaboner Vertrag würde das "demokratische Defizit" der EU verschlimmern und die Kluft zwischen den Bürgern und der EU vergrößern, so der tschechische Präsident Václav Klaus vor dem Europäischen Parlament. Er stellte auch die Rolle des EP selbst in Frage. In seiner Reaktion machte EP-Präsident Hans-Gert Pöttering deutlich, die Ansichten von Klaus seien "Ausdruck der Meinungsvielfalt und Demokratie in Europa. In einem Parlament der Vergangenheit hätten Sie diese Rede nicht halten können".

"Ihr Land, Herr Präsident, lag im Laufe der Geschichte stets im Herzen Europas und hat erheblich zur Mitgestaltung der Europäischen Geschichte beigetragen", so der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert PÖTTERING vor Beginn der Rede Klaus'. Er bezeichnete Tschechien als "starkes Herz europäischen Denkens und Handelns" und verwies auf die bedeutende Rolle, die das Land heute in der EU einnehme.

Die Tschechische Republik trage "eine große Verantwortung für die Europäische Union". Pöttering gratulierte dem Abgeordnetenhaus des tschechischen Parlaments zur Ratifizierung des Lissabonner-Vertrages. Der Vertrag sei "ausschlaggebend" für die Bewältigung der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. "Wir sind davon überzeugt, dass sich auch der tschechische Senat seiner Verantwortung für Ihr Land und für die gesamte Europäische Union bewusst sein wird!"

Pöttering: "Gemeinsam sind wir stärker"

Pöttering verwies auf ein altes böhmisches Sprichwort, das besagt: "Es ist besser, zwei Jahre lang zu verhandeln als zwei Wochen einen Krieg zu führen." "Wie wir alle verstehen auch Sie und die Menschen Ihres Landes den Stellenwert des Dialogs, des Kompromisses und der Zusammenarbeit, wie diese seit mehr als ein halbes Jahrhundert in der Europäischen Union erfolgreich entwickelt wurden".

Heute leben wir in einem wiedervereinigten Kontinent, so Pöttering weiter. "Wir leben Demokratie und Freiheit, wir leben tagtäglich Einheit in Vielfalt. Wir leben unsere Vielfalt an Nationen und Kulturen, und wir leben im Bewusstsein, dass wir gemeinsam stärker sind, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen". Er begrüßte in diesem Zusammenhang den Aufruf von Präsident Klaus, zahlreich an den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Juni teilzunehmen.

Rede von Václav Klaus

Der tschechische Präsident bezeichnete das Europäische Parlament als "eine der wichtigsten Institutionen der Union". Die gewählten Vertreter der 27 Länder mit ihrem breiten Spektrum an politischen Meinungen und Einstellungen stellten ein "ganz besonderes Auditorium dar".

Im Gegensatz zum tschechischen Ministerpräsident Mirek Topolánek wolle er nicht über die Prioritäten der Präsidentschaft sprechen, sondern über "allgemeine Dinge, die auf den ersten Blick nicht so dramatisch scheinen", die er jedoch für die Entwicklung des europäischen Integrationsprojektes für von Bedeutung halte.

Mitverantwortung für die Entwicklung der EU

Die tschechische Republik werde bald den 5. Jahrestag ihres Beitritts zur Europäischen Union feiern. Man teile eine "Mitverantwortung für die Entwicklung der EU" und gehe auch mit diesem Bewusstsein an den EU-Ratsvorsitz heran. "Ich bin überzeugt, dass die ersten sechs Wochen unseres Vorsitzes unseren verantwortlichen Ansatz in überzeugender Weise demonstriert haben", so Klaus.

Tschechien will keine "andere Integrationsgruppierung"

Es habe für die tschechische Republik "nie eine Alternative zum EU-Beitritt" gegeben und es existiere keine politische Kraft, die diese Aussage in Frage stellen könnte oder wollte. Deshalb sei man über die in letzter Zeit häufiger werdenden Angriffe besorgt, die "auf der Annahme beruhen, dass die Tschechen eine andere Integrationsgruppierung suchen." Dies sei nicht der Fall, sagte Klaus.

"Es gibt mehr Entscheidungen auf Brüsseler Ebene, als es optimal wäre"

Die wichtigsten Absichten der EU seien "die Beseitigung von unnötigen und kontraproduktiven Barrieren", sowie eine gemeinsame Sorge um die öffentlichen Güter. Auch müsse man rational auswählen, was auf der Ebene des gesamten Kontinents zu lösen sei. "Verschiedene Barrieren und Hindernisse bestehen weiter und es gibt mehr Entscheidungen auf Brüsseler Ebene, als es optimal wäre", sagte Klaus. Er wolle hier die "eher rhetorische Frage" stellen, ob die Abgeordneten sich bei jeder ihrer Abstimmungen sicher seien, dass sie über Sachen entscheiden, die gerade hier und nicht näher am Bürger, also in den Staaten entschieden werden müssen.

"Der Status Quo der EU ist kein Dogma"

"Wenn ich gesagt habe, dass es für uns keine Alternative zur Mitgliedschaft gab und gibt, dann ist das nur die Hälfte von dem, was zu sagen ist", so der tschechische Präsident weiter. Die zweite Hälfte sei die Behauptung, dass es für die Methoden und Formen der europäischen Integration eine Reihe möglicher legitimer Varianten gibt. "Den Status quo, also die gegenwärtig vorhandene institutionelle Anordnung der EU als ein nicht kritisierbares Dogma zu betrachten, ist ein Irrtum", so Klaus. Ebenso sei die "a priori postulierte und nicht kritisierbare Annahme für eine einzige richtige und mögliche Zukunft der EU" ein Irrtum.

"Wer über Alternativen nachdenkt, wird als Gegner der Integration gesehen"

Das heutige System des Entscheidens in der Europäischen Union sei etwas anderes, als das von der Geschichte geprüfte und erprobte System der klassischen parlamentarischen Demokratie. "In einem normalen parlamentarischen System gibt es einen Teil der Abgeordneten, der die Regierung unterstützt und einen oppositionellen Teil", so der tschechische Präsident weiter. Dies sei jedoch im Europäischen Parlament nicht der Fall: "Hier wird nur eine Alternative durchgesetzt und wer über andere Alternativen nachdenkt, wird als Gegner der Europäischen Integration angesehen." Es müsse mehr politische Alternativen geben, forderte Klaus: man habe "in unseren Teilen Europas" mit solchen politischen Systemen, in denen keine Alternative zulässig war, die "bittere Erfahrung gemacht, dass dort wo es keine Opposition gibt, die Freiheit verkommt."

"Entscheidung nicht durch Gewählte, sondern durch Auserwählte"

Klaus fuhr fort: Die Beziehung zwischen den Bürgern eines Mitgliedslandes und den Repräsentanten der EU sei "keine normale Beziehung". Es existiere eine große Kluft, man könne diese als "Demokratiedefizit, Entscheidung nicht durch Gewählte, sondern durch Auserwählte, Bürokratisierung der Entscheidungsprozesse und so weiter" bezeichnen. Die Änderungen des heutigen Zustands im Vertrag von Lissabon würden "diesen Defekt" gar noch vergrößern.

"Stärkung des EP keine Lösung" - Zahlreiche Abgeordnete verlassen den Saal

"Mit Bezug auf die Nichtexistenz eines europäischen Demos- eines europäischen Volkes" so Klaus, stelle auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments keine Lösung für diesen "Defekt" dar, im Gegenteil, ein solcher würde das Problem nur verstärken und zu einem "noch größeren Gefühl der Entfremdung der EU-Bürger von den Institutionen führen".

An dieser Stelle verließen zahlreiche Parlamentarier aus Protest den Plenarsaal.

Er befürchte, so Klaus, dass die Versuche, die Integration immer weiter über den Kopf der Bevölkerung hinweg zu bescheunigen, alles Positive gefährden könnte, was in den letzten 50 Jahren in Europa erreicht worden ist. "Lassen wir nicht zu, dass eine Situation eintritt, in der die Bürger der Mitgliedsstaaten mit dem Gefühl der Resignation leben müssen".

"Die politische Manipulation des Marktes ist die Ursache der Finanzkrise"

Dies hänge auch eng mit der Prosperität zusammen. Der Präsident bezeichnete das wirtschaftliche System der EU als "ein System des unterdrückten Marktes und der kontinuierlichen Stärkung der zentralen Lenkung der Wirtschaft". Zu dieser Entwicklung trage auch die "falsche Interpretation der Ursachen der gegenwärtigen Finanzkrise" bei, "als ob diese der Markt verursacht hat, während die wahre Ursache das Gegenteil ist: nämlich die politische Manipulation des Marktes" so Václav Klaus.

"Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft die einzige Lösung"

Er erinnerte immer wieder an die "historischen Lehren und Erkenntnisse", die gezeigt hätten, dass "dieser Weg nicht in die richtige Richtung führt". Die notwendigen Folgen seien "Wirtschaftliche Rückständigkeit und Verlangsamung, wenn nicht sogar der Stillstand des Wirtschaftswachstums Europas." "Die Lösung besteht einzig und allein in der Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft" betonte Klaus.

Er sage all dies "aus einem Gefühl der Verantwortung für die demokratische und prosperierende Zukunft Europas" heraus. "ich bin davon überzeugt, dass sich die Bürger der einzelnen EU-Länder Freiheit, Demokratie und Prosperität wünschen".

Die freie Diskussion über "diese Dinge" solle nicht für einen Angriff auf den Gedanken der europäischen Integration gehalten werden. "Wir waren immer der Meinung, dass die Möglichkeit, diskutieren zu dürfen und gehört zu werden, eben jene Demokratie ist, die uns über Jahrzehnte hinweg verwehrt worden war". Der freie Austausch von Meinungen und Ideen sei die Grundvoraussetzung für eine gesunde Demokratie.

Reaktion von Präsident Pöttering: "Gott sei Dank leben wir in einer Demokratie"

"In einem Parlament der Vergangenheit hätten sie diese Rede nicht halten können. Gott sei Dank leben wir in einer europäischen Demokratie, in der jeder seine Meinung äußern kann", so EP-Präsident Pöttering in seiner Reaktion auf die Rede von Klaus. Man sei eine europäische Familie, und wie in jeder Familie gebe es auch hier unterschiedliche Meinungen. Der Besuch des tschechischen Präsidenten sei "Ausdruck der Meinungsvielfalt und Demokratie in Europa".

Er dankte Václav Klaus für die Erkenntnis, dass "dieses Parlament eine wichtige Institution" ist. "Wären wir nicht der Mitgesetzgeber, dann wäre es so, dass die Bürokratie entscheiden würde, aber in der Europäischen Union und vor allem auch nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages entscheidet das Europäische Parlament."

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Quelle:
Pressemitteilung vom 19.02.2009 - REF : 20090218IPR49770
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2009