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INNEN/401: Macht der EU-Reformvertrag die EU demokratischer? (guernica)


guernica Nr. 1/2008, Januar/Februar 2008
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Macht der EU-Reformvertrag die EU demokratischer?
Eliten gewinnen Gestaltungsmacht, demokratische Bewegungen verlieren Verhinderungsmacht

Von Gerald Oberansmayr


Die Befürworter des EU-Reformvertrags kommen argumentativ immer stärker in Verlegenheit. Die EU-Grundrechtecharta, am Anfang der Propagandarenner, hat sich als heiße Luft entpuppt, da ein Zusatzprotokoll ausdrücklich festhält, dass diese Charta "keine neuen Rechte oder Grundsätze schafft" (Protokoll Nr. 7). Auch den Bänkelsängern der "Friedensmacht EU" hat es ziemlich die Rede verschlagen, seit sich herumspricht, dass der neue EU-Reformvertrag eine - weltweit einzigartige - Aufrüstungsverpflichtung und die Selbstmandatierung zu weltweiten Kriegseinsätzen beinhaltet. Doch ein Argument werden die BefürworterInnen nach wie vor nicht müde zu predigen: der EU-Reformvertrag macht die EU demokratischer. Ist da etwas dran?


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Verlust an Verhinderungsmacht von unten

Begründet wird dieses Mehr an Demokratie damit, dass es zu einer deutlichen Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene kommt (siehe unten), d.h. einzelne Regierungen können Entscheidungen nicht mehr durch ein Veto blockieren, EU-Rat und Europäisches Parlament (EP) entscheiden gemeinsam. Was zunächst tatsächlich nach einer Demokratisierung aussieht, erweist sich bei genauerer Analyse gerade für demokratische, ökologische und neoliberalismuskritische Bewegungen als höchst problematisch, ja als Rückschlag. Denn durch die Abschaffung des Vetoprinzips geht Verhinderungsmacht verloren. Bislang konnten in wesentlichen Bereichen Vorstöße der EU-Kommission (EK) blockiert werden, sobald ein Land sich querlegte. Das hat auch demokratischen Bewegungen von unten die Chance gegeben, Vorlagen der EU-Kommission durch Druck auf die jeweiligen nationalen Regierungen zu verhindern und die Gestaltungsmacht der eigenen Parlamente zu erhalten.

Gewinn an Gestaltungsmacht für Hochbürokratie...

Aber - so könnte man zu Recht einwenden - steigt durch Mehrheitsentscheidungen und EP-Einbindung nicht auch die Gestaltungsmacht für demokratische Politik? Leider nein! Denn das Monopol der Gesetzesinitiative bleibt nach wie vor bei der demokratisch kaum belangbaren EK, also der EU-Hochbürokratie. Die EK kann außerdem eine Gesetzesinitiative, die vom EP oder vom EU-Rat in einer ihr nicht genehmen Weise abgeändert wird, jederzeit zurückziehen. Sie hat selbst also nach wie vor die volle Verhinderungsmacht. Gesetzgebung funktioniert auf EU-Ebene also wie ein Ventil: Es geht immer nur in eine Richtung, in diejenige, die von der EK vorgegeben wird. Mit der Umstellung auf Mehrheitsentscheidungen gewinnt die Kommission an Gestaltungsmacht, weil sie die Verhinderungsmacht einzelner Regierungen aushebeln kann. Fortschrittliche Bewegungen dagegen verlieren dadurch an Verhinderungsmacht, ohne dadurch an Gestaltungsmacht zu gewinnen, weil jede Gesetzesvorlage durch das Nadelöhr der Hochbürokratie muss. Demokratiepolitisch bleibt die EU damit auf dem Entwicklungsniveau des frühen 19. Jahrhunderts (das Recht auf Gesetzesinitiative erhielten Parlamente z.B. in Frankreich im Jahr 1830 oder in Bayern 1848).

... und Kapitallobbys

Die Bereiche, in denen der EU-Reformvertrag die Mehrheitsentscheidung ausweitet (siehe unten), geben Anlass zur Beunruhigung: innere Sicherheit, Überwachungsmaßnahmen, Teile der Rüstungs- und Militärpolitik, öffentliche Dienste, Agenden im Bereich Wirtschafts- und Währungspolitik, Energiepolitik, Grenzkontrollen, Asylpolitik, usw. Die EU-Kommission hat sich schon bisher als Hauptmotor der neoliberalen Umgestaltung Europas sowie der Verschärfung der Maßnahmen zur Überwachung und Bespitzelung der BürgerInnen profiliert. Demokratische Kontrollrechte gegenüber der EU-Kommission sind äußerst spärlich, in erster Linie ist die Kommission Sprachrohr der Machteliten der großen Nationalstaaten - und der Kapitallobbys, die in Brüssel die Politik maßgeblich bestimmen. 70% der geschätzt 15.000 Lobbyisten in Brüssel stehen unmittelbar im Sold großer Konzerne. Zum Vergleich: rd. 1% der Lobbyisten werden den Gewerkschaften zugerechnet. Konzernnetzwerke, wie der "European Round Table", wo die Chefs der 48 größten Industriekonzerne miteinander kungeln, rühmen sich offen, der Kommission die Blaupausen für die beiden neoliberalen Paradeprojekte - Binnenmarkt und Währungsunion - vorgegeben zu haben.


Der EU-Reformvertrag verschärft das machtpolitische Gefälle in der EU auch noch auf anderen Ebenen:

• Die EU-Kommission wird exklusiver:
jeweils ein Drittel der EU-Mitgliedstaaten wird nicht mehr in diesem entscheidenden Machtzentrum vertreten sein. Auch wenn die Rotation rein formal egalitär erfolgt, die Eliten der großen Nationalstaaten werden ihre Gewährsleute wohl immer in der Kommission haben, entweder über den Kommissionspräsidenten oder über ein neues Amt mit enormer Machtfülle: den "Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik", der über einen eigenen diplomatischen Dienst verfügt und Außen- und Kriegsminister in einer Person ist, da auch die Koordination der militärischen EU-Missionen in seine Kompetenz fällt.

• Große gewinnen auf Kosten der Kleinen:
In den EU-Räten wird die Macht der Eliten der großen Nationalstaaten enorm auf Kosten der kleineren und mittleren ausgeweitet: die Stimmgewichte Deutschlands verdoppeln sich, die Frankreichs und Großbritanniens steigen immerhin noch um rd. 45%, die von Ländern wie Tschechien, Finnland, Schweden, Portugal, Dänemark, Finnland, Österreich usw. sinken zwischen 35% und 65%. Gegen den Willen der großen EU-Staaten geht damit gar nichts mehr. Auch das neu geschaffene Amt eines dauerhaften EU-Ratspräsidenten schafft zusätzliche Machtpositionen für Berlin, Paris, und London über die rotierenden Präsidentschaften hinweg.

• Entmachtung der nationalen Parlamente:
Die nationalen Parlamente verlieren in den sensiblen Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit die Mitbestimmung bei internationalen Handelsverträgen, sodass die Kommission noch leichter ihr neoliberales Glaubensbekenntnis auf Ebene von WTO, GATS, usw. durchpeitschen kann. Diese Entmachtung der Parlamente ist höchst real, die von der Regierung immer wieder gepriesene sog. "Subsidiaritätskontrolle" ist jedoch höchst fiktiv, da die Parlamente in der Rolle des Bittstellers gegenüber der Kommission verbleiben.

• Ausweitung demokratiefreier Zonen:
Schon bisher ist in der EU die "Förderung der Schaffung einer mächtigen Atomenergie" (EURATOM-Vertrag) sowie die Geld- und Währungspolitik der demokratischen Debatte und Kontrolle entzogen. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist auf den absoluten Vorrang der Preisstabilität (Art. 127, VAE) sowie einer "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" eingeschworen. Jede Form der politischen Einflussnahme demokratisch gewählter Organe auf die EZB ist per EU-Vertrag untersagt (Art. 130, VAE). Nun soll ein weiterer Bereich der demokratischen Debatte weitgehend entzogen werden: Rüstung und Militär. Denn die EU-Sicherheitspolitik soll in Hinkunft unter dem Hammer der Aufrüstungspflicht des Artikels 42, VAE stehen. Abrüstungsbefürworter stehen dann außerhalb des EU-"Verfassungsbogens". Überwacht wird diese Aufrüstungspflicht durch ein eigenes EU-Rüstungsamt, in dem sich die nationalen "Verteidigungsminister mit Generalität und Rüstungslobby ein permanentes Stelldichein geben. Dort wo es um hartes Geld (EZB) und harte Waffen (Rüstungsagentur) geht, hat in der EU die Demokratie zu schweigen. Als zunehmend demokratiegefährdend erweist sich zudem die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dessen Entscheidungen demokratische und soziale Errungenschaften des letzten Jahrhunderts (offenen Hochschulzugang, Kollektivverträge, Streikrecht) ebenso in Frage stellen wie Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Gesundheit (siehe Transit, Gentechnik).

• Militärisches Kerneuropa:
Zur Synthese finden Hierarchisierung und Militarisierung in der sog. "Ständig Strukturierten Zusammenarbeit" (SSZ), die ein "militärisches Kerneuropa" begründet. Einlass in diesen neuen EU-Führungszirkel finden nur jene Staaten, die über "anspruchsvollere militärische Fähigkeiten" verfügen und zu militärischen Missionen "mit höchsten Anforderungen" bereit sind (Art. 42, VAE). Die Machteliten der großen EU-Staaten sind die "Torwächter" der SSZ. Denn sowohl über Einlass als auch über Rausschmiss wird nach dem Mehrheitsprinzip mit den neuen Stimmgewichten entschieden.

Aber - so werfen BefürworterInnen des EU-Reformvertrags in die Debatte - immerhin wird durch den neuen EU-Vertrag das "direktdemokratische" Instrument der sog. "Europäischen Bürgerinitiative" (EBI) geschaffen. Tatsächlich: Diese EBI sieht vor, dass eine Million Menschen eine Bitte an die Europäische Kommission herantragen dürfen. Was sind die Folgen? Die EK kann damit machen, was sie will: Schublade, Papierkübel, was auch immer. Aber selbst diese unverbindlichen Bitten darf man an die Hochbürokratie nicht zu allen politischen Fragen herantragen: Die Inhalte der EU-Verträge sind davon ausdrücklich ausgenommen: Abkehr von Neoliberalismus, Aufrüstungsgebot und Atomenergieförderung dürfen in der EU nicht einmal erbeten werden.


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Machtverschiebung

In vielen Bereichen werden durch den EU-Reformvertrag Mehrheitsentscheidungen eingeführt, können also einzelne Länder in Zukunft überstimmt werden, zum Beispiel bei:

Wirtschaft, Verkehr, Raumfahrt, Energiepolitik:
Festlegung der Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (öffentliche Dienste).
Verstärkter Koordinierung und Überwachung der Haushaltsdisziplin in den Euro-Ländern
Stellung des Euro im internationalen Währungssystem
Maßnahmen zur Verkehrs-, Energie- und europ. Raumfahrtpolitik.

Grenzkontrollen, Asyl, Polizei, Überwachung
Ausdehnung der Kompetenzen auf die Einführung eines einheitlichen Grenzschutzsystems bezüglich der Außengrenzen.
Erweiterung der Kompetenzen zum Erlass von Maßnahmen zur Einführung einheitlicher Asylregelungen.
Erweiterung der Kompetenz und Änderung des Verfahrens zum Erlass von Maßnahmen zur Festlegung von Straftaten und Strafen im Bereich: z.B. Terrorismus, Menschenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität, organisierte Kriminalität. Die EU kann diese Bereich künftig ausdehnen.
Änderung im Verfahren zum Erlass von Maßnahmen zur nicht operativen polizeilichen Zusammenarbeit, insbesondere zum Einholen, Speichern und Auswerten von Daten, zur Aus- und Weiterbildung des Personals sowie zur Entwicklung gemeinsamer Ermittlungstechniken.

Außen-, Sicherheits-, Rüstungspolitik
Festlegung einer Aktion oder eines Standpunktes zu einem Vorschlag, den der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik auf Ersuchen des Europäischen Rats dem Rat unterbreitet.
Klausel zum Übergang von Einstimmigkeit im Rat zur Mehrheitsentscheidung; kein Veto-Recht der nationalen Parlamente.
Neue Kompetenz zum Erlass eines Beschlusses zur Festlegung von Rechtsstellung, Sitz und Funktionsweise der Europäischen Verteidigungsagentur im besonderen Gesetzgebungsverfahren.
Neue Kompetenz zum Erlass von Maßnahmen zur Begründung einer ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (militärisches Kerneuropa), späteren Aufnahme eines Mitgliedstaates in eine SSZ, Entlassung eines Mitgliedstaats aus einer SSZ.

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Quelle:
guernica Nr. 1/2008, Januar/Februar 2008, Seite 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2008