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INNEN/394: EU-Verfassung - Alter Brief, neuer Umschlag (guernica)


guernica Nr. 4/2007, August/September 2007
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

EU-Reformvertrag = EU-Verfassung I
"Alter Brief in neuem Umschlag"

Von Gerald Oberansmayr


Ein erster Entwurf des EU-Reformvertrages, der anstelle der gescheiterten EU-Verfassung treten soll, liegt auf dem Tisch. Um das Ergebnis der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wegzuwischen, wurde bloß "der gleiche Brief in einen neuen Umschlag" gesteckt.


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"Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" (Bert Brecht) Nach der Ablehnung der EU-Verfassung bei den Volksabstimmungen hat sich die Bevölkerung das Vertrauen der Machthaber gründlich verscherzt. Da die Auflösung des Volkes nicht so leicht geht, haben sich die EU-Regierungen für dessen Verhöhnung entschieden. Giscard d'Estaing, als EU-Konventspräsident Architekt der EU-Verfassung, macht daraus kein Hehl: Der nun vorliegende "EU-Reformvertrag" weise bloß "kosmetische Änderungen" auf, die nur deshalb vorgenommen worden seien, damit der nicht mehr aussehe wie die Verfassung, um so "leichter zu schlucken" sei und "Referenden zu umgehen" seien. Man habe "nur den Umschlag gewechselt. Der Brief im Innern des Umschlags ist nach wie vor der gleiche" (1). Der frühere italienische Ministerpräsident Amato plaudert aus dem Nähkästchen der Macht: "Der EU-Vertrag wurde unleserlich gemacht, um Volksabstimmungen zu vermeiden." (2) Manchen Herrschaftskreisen kommen mittlerweile sogar Bedenken, ob man mit dieser Arroganz nicht die Rechnung ohne den Wirt, sprich die Bevölkerung, gemacht habe. Das Centrum für Angewandte Politikforschung, maßgeblicher Think-Tank der deutschen Außenpolitik, zum neuen EU-Vertrag: "Ob sich die Bürger in den betreffenden Ländern jedoch über die Tatsache hinwegtäuschen lassen, dass im neuen Vertragswerk ein Großteil des Verfassungsvertrags steckt, ist fraglich. Das neue Primärrecht könnte als Mogelpackung entlarvt werden." (3)


"Mogelpackung"

Der nun vorliegende Textvorschlag ist in der Tat eine Mogelpackung. Fallen gelassen wurden Symbole wie die gemeinsame EU-Fahne und die Hymne. Den EU-Außemninister hat man in "Hoher Beauftragter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik" umbenannt. Ansonsten wurde der Text der EU-Verfassung weitgehend wortident übernommen, so z.B. sämtliche Militarisierungspassagen:

Aufrüstungsverpflichtung ("schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten")
Verankerung der Rüstungsagentur im EU-Primärrecht mit der Aufgabe, diese Aufrüstungsverpflichtung zu kontrollieren, nötigenfalls auch nachzuhelfen
Mandat für den EU-Rat, weltweit Kriege zu führen, nötigenfalls auch ohne UNO-Mandat
Schaffung eines militärischen Kerneuropas ("Ständige Strukturierte Zusammenarbeit") als zukünftiger innerer Führungszirkel der EU
Schaffung eines eigenen EU-Rüstungsbudgets ("Anschubfonds")
Militärische Beistandsverpflichtung - schärfer als bei der NATO.
EU-Schlachtgruppen ("Battle-Groups") für schnelle weltweite EU-Militärinterventionen sollen nun ebenfalls im EU-Primärrecht eingemauert werden.

Auch die neoliberale Grundausrichtung der EU-Verfassung soll erhalten bleiben. Die Verpflichtung zu einer "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" findet sich ebenso wieder wie der Vorrang von Hartwährungs- vor Beschäftigungspolitik. Großes mediales Getue gab es, als die Zielbestimmung "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb" auf Wunsch des französischen Präsidenten Sarkozy entfernt wurde, um den französischen Verfassungsgegnern Wind aus den Segeln zu nehmen. Öffentlich unerwähnt blieb, dass dieselbe Formulierung beim EU-Abschlussgipfel im Juni noch rasch in einem Zusatzprotokoll festgeschrieben wurde. Dort heißt es jetzt, "dass zum Binnenmarkt ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt". Denselben Schmäh verwendeten die EU-Chefs bei einer weiteren viel kritisierten Passage, die den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht festgeschrieben hat (Art. 1-6). Diese Passage wurde fallengelassen, um an ihrer Stelle eine Erklärung zu setzen, die den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht "entsprechend der Rechtsprechung des EuGH" bestätigt. Das Ergebnis ist dasselbe, wenn auch unter unleserlichem Juristendeutsch versteckt. (4)


"... bis es ein kein Zurück mehr gibt."

Der Kern der EU-Verfassung bzw. des EU-Reformvertrages ist die Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse in der EU. Der Widerstand Polens hat diese Neugewichtung zwar um einige Jahre verzögert, aber ab 2014 bzw. 2017 soll sich die politische Macht gewaltig zugunsten der Eliten der großen Nationalstaaten verschieben: Deutschlands Stimmgewichte verdoppeln sich, die Frankreichs und Großbritanniens nehmen um 45% zu. Kleinere Staaten wie Griechenland, Schweden, Portugal, Dänemark, Niederlande, Österreich, Slowenien, usw. verlieren zwischen 35 und 65%. (sh. Tabelle unten). Zudem kommt es zur Schaffung bzw. Aufwertung zentraler Funktionen wie EU-Präsident und "Hohem Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik", die wohl ebenfalls zwischen Berlin, Paris und London ausgedealt werden. Festgeschrieben wird die Ausweitung "demokratiefreier Zonen" wie die gesamte Währungs- und Militärpolitik. Denn die diesen zugeordneten EU-Institutionen Europäische Zentralbank und EU-Rüstungsagentur sind von demokratischer Kontrolle weitgehend abgeschottet. Deren Auftrag - Hartwährungspolitik und offene Marktwirtschaft bzw. Aufrüstungsverpflichtung - ist im Grunde der demokratischen Debatte entzogen. Denn was einmal im EU-Primärrecht verankert ist, kann durch Bewegung von unten faktisch nicht mehr geändert werden. Dafür wäre eine gleichzeitige Zustimmung aller nationalen Parlamente, aller nationalen Regierungen, der EU-Kommission und einer Mehrheit des Europäischen Parlaments erforderlich. Härter kann man etwas politisch nicht mehr einzementieren. Die EU funktioniert politisch wie ein Ventil: Es geht immer nur in eine Richtung, jene die von den mächtigsten nationalen Eliten vorgegeben wird. Sobald etwas im Primärrecht festgezurrt wurde, gibt es kein Zurück mehr. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker hat diese Methode auf den Punkt gebracht: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." (Spiegel 52/1999)


"Die Machtfrage ist gestellt."

Freilich geht es insbesondere den Berliner Machteliten mit dieser Methode noch immer zu langsam, weil bockige Regierungschefs oder widerspenstige Bevölkerungen fallweise für "Aufschrei" oder "Aufstände" sorgen. Deshalb soll mit den neuen EU-Verträgen das Tor für einen inneren Führungszirkel weit aufgestoßen werden, der sein Tempo nicht mehr nach den Bockigen und Widerspenstigen ausrichten muss. Dieser Führungszirkel mit dem monströsen Namen "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (SSZ) soll von jenen Staaten gebildet werden, die über "anspruchsvolle militärische Kapazitäten" verfügen. Die Erstaufnahme in diesen erlesenen Klub erfolgt erst nach einem Screening durch die Rüstungsagentur und mit Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit des EU-Rates. D.h. die großen Nationalstaaten sind die Torwärter, die den Eingang kontrollieren. Sobald die SSZ sich auf diese Art und Weise konstituiert hat, entscheiden die Klubmitglieder selbst (wiederum mit qualifizierter Mehrheit), wer noch dazustoßen darf oder wieder vor die Tür gesetzt wird. De facto können Berlin und Paris damit die Peitsche knallen lassen. Der innere Führungszirkel reproduziert sich selbst und gibt in der Sicherheitspolitik das Tempo vor. Werner Weidenfeld, Leiter des Centrums für Angewandte Politikforschung und Berater der deutschen Regierung, spricht Klartext: "Die Machtfrage ist gestellt! Schlagartig wird, der ganze Nebel des europapolitischen Pathos gelüftet. Nackt und brutal konzentriert sich alles auf die Macht. Europa ist endgültig politisch geworden." (Die Welt, 28.09.2003)


In die Hinterzimmer der Macht

Das österreichische Establishment drängt ebenfalls in die SSZ, um dort als Juniorpartner Deutschlands mit den militärischen Schwergewichten an einem Tisch zu sitzen. Bereits 2005 plädiert eine im Verteidigungsministerium entstandene Studie (5) für eine "frühzeitige Beteiligung an der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit", um die "Hintertür zu den informellen Abstimmungszirkeln im Bereich der ESVP" geöffnet zu bekommen. Dafür - so die Studie weiter - sei der Ankauf der Eurofighter sinnvoll und "die Beteiligung an einer EU-Battle-Group als Juniorpartner (Deutschlands, Anm. GO) ebenso opportun wie militärisch und finanziell tragbar." Jetzt wissen wir, warum die Eurofighter durchgeboxt wurden und Darabos um jeden Preis bei den EU-Schlachtgruppen, den Speerspitzen zukünftiger EU-Militäraktionen, an Bord sein will. Die österreichische Regierung scheut offensichtlich weder Kosten noch Menschenleben, um einen Sessel in den "Hinterzimmern" der EU-Macht zu ergattern. Eine Volksabstimmung über die neuen EU-Verträge, die laut österreichischer Verfassung geboten wäre, scheut sie jedoch wie der Teufel das Weihwasser. Es liegt an uns, diesem Herrschaftszynismus entgegenzutreten.


Anmerkungen:

(1) zit. nach NRC-Handelsblatt, 20.07.07 und www.euroactivcom, 18.07.07

(2) Rede vor dem Zentrum für Europäische Reformen, London, 12.07.2007

(3) CAP, Ausweg oder Labyrinth, Analyse und Bewertung des Mandats für die Regierungskonferenz, 05.07.2007

(4) Mandat für die Regierungskonferenz, Brüssel, 21./22.06.2007

(5) Strategische Analysen: Möglichkeiten und Grenzen der EU-Streitkräfteintegration, Wien, Oktober 2005


Veränderung der Stimmgewichte durch den neuen EU-Vertrag (in %)

BRD:
FR:
GB:
It:
Sp:
Pol:
NL:
GL:
Schw:
Port:
Bel:
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Öst:
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FL:
Let:
IRL:
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Mal:
Lux:

























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45
39
7
0
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-37
-39
-39
-40
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Quelle: Vertrag Nizza, EUV


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Quelle:
guernica Nr. 4/2007, August/September 2007, Seite 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2007