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SPANIEN/004: Die PSOE und die Krise der spanischen Demokratie (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Die PSOE und die Krise der spanischen Demokratie

von Michael Ehrke
September 2014



Inhalt

1. Führungswechsel in der PSOE
2. Ursachen eines Niedergangs: Austeritätspolitik
3. Ursachen eines Niedergangs: Veränderung des Parteiensystems
4. Ursachen eines Niedergangs: Die Krise des Paradigmas der transición
5. Hat die PSOE eine Antwort auf die Krise der spanischen Demokratie?


• Nach der verheerenden Wahlniederlage in den Europawahlen 2014 sucht die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) mit ihrem neuen Generalsekretär Pedro Sánchez einen Weg aus der Krise. Der außerordentliche Kongress am 26. und 27. Juli wählte neben Sánchez eine neue Parteipräsidentin, einen neuen Parteivorstand und ein neues Bundeskomitee.

• Die neue Führungsriege will die PSOE nicht nur reformieren, sondern eine Neugründung (refundación) angehen. Wichtige Akzente sind hierbei die verstärkte Partizipation von Mitgliedern und Sympathisanten der Partei, sowie die Suche nach einem neuen Wirtschaftsmodell für Spanien.

• Die schon von der Regierung Zapatero verfolgte Austeritätspolitik hat die PSOE massiv Unterstützung gekostet. Doch die Krise der PSOE hat ihren Ursprung auch in der Krise der spanischen Demokratie. Der über Jahrzehnte stabile Konsens der transición und des darauf fußenden demokratischen Modells ist brüchig geworden. Um einen Weg aus ihrer eigenen Krise zu finden, muss die PSOE einen glaubwürdigen Weg aus den nationalen Krisen aufzeigen.

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1. Führungswechsel in der PSOE

Auf dem außerordentlichen Kongress der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) am 26. und 27. Juli wurde Pedro Sánchez, 42, Ökonom und bis dahin eher unauffälliger Abgeordneter des spanischen Parlaments, mit 86 Prozent der Stimmen zum Generalsekretär der Partei gewählt. Der Kongress bestätigte damit das Ergebnis einer innerparteilichen Mitgliederbefragung, die am 13. Juli abgehalten worden war. Sánchez musste sich hier gegen zwei Gegenkandidaten durchsetzen, Eduardo Madina, 32, ebenfalls Parlamentsabgeordneter, Generalsekretär der sozialistischen Fraktion und Mitglied des Parteivorstands; und José Antonio Pérez Tapia, 59, ein Mitglied des einzigen anerkannten Parteiflügels der PSOE, der »Sozialistischen Linken«.

Die Mitgliederbefragung wurde in mehrfacher Hinsicht als Erfolg bewertet. Zum einen war es das erste Mal, dass auf nationaler Ebene der Inhaber eines höchsten Parteiamtes direkt von den Mitgliedern gewählt wurde; die PSOE konnte sich damit als eine Kraft direkter Demokratie und Partizipation profilieren. Zweitens war die Beteiligung mit 67 Prozent hoch genug, um die Mitgliederbefragung mit Legitimität zu versehen. Und drittens konnte Sánchez mit 48,7 Prozent der Stimmen einen Vorsprung vor seinen Konkurrenten erzielen (Medina: 36,2 Prozent, Pérez Tapia: 15,1 Prozent), der groß genug war, um auf dem Kongress als einziger Anwärter auf das höchste Parteiamt auftreten zu können.

Der außerordentliche Kongress wählte nicht nur einen neuen Generalsekretär, sondern auch eine neue Parteipräsidentin (ein eher protokollarischer Posten), die Andalusierin Micaela Navarro, das 111köpfige Bundeskomitee sowie den 38köpfigen Parteivorstand. Mit 86 Prozent Zustimmung bestätigte der Kongress die von Sánchez zusammengestellte Vorstandsliste, auf der unter anderen Patxi López, ehemaliger Generalsekretär des baskischen Sozialisten, und Carme Chacón, in der Regierung Zapatero Ministerin für Wohnungsbau und für Verteidigung, herausragen. Allerdings fiel auch ein kleiner Schatten auf die Liste: Die Konkurrenten Sánchez' in der Mitgliederbefragung, Madina und Pérez Tapia, wurden nicht in den Vorstand aufgenommen.

Auffällig - und leicht erklärbar - ist das Gewicht der andalusischen Sozialisten in den Gremien. Andalusien ist - neben Asturien - die einzig verbliebene Hochburg der PSOE. Hier konnte sich die Partei sowohl in den Parlamentswahlen 2011 als auch in den Europawahlen 2014 gegen die konservative Volkspartei (PP) behaupten; sie stellt zusammen mit der Vereinigten Linken (IU) die Regierung dieser Autonomen Region, und die sozialistische Regierungspräsidentin Susana Díaz gilt als die informelle Nummer Eins der Partei. Bei der Mitgliederbefragung war Susana Díaz zur Kandidatur gedrängt worden, sie hatte diese jedoch mit dem Argument abgelehnt, der Posten der Generalsekretärin der PSOE sei mit dem der Regierungspräsidentin Andalusiens nicht zu vereinen - wobei sie offensichtlich dem zweiten Job ein höheres Gewicht zumaß. Pedro Sánchez konnte nicht zuletzt deshalb erfolgreich für den Posten des Generalsekretärs kandidieren, weil die wichtigste Anwärterin auf dieses Amt freiwillig ausgeschieden war. In gewisser Weise wurde Sánchez zum Substitut einer andalusischen Kandidatur - und entsprechend auch aus Andalusien unterstützt.

Die Neuwahl des Generalsekretärs und der Führungsgremien sind die Antwort der PSOE auf zwei verheerende Wahlniederlagen. In den Parlamentswahlen des Jahres 2011 kamen die Sozialisten auf 28,8 Prozent der Stimmen - das schlechteste Ergebnis seit Felipe González' erstem großen Wahlsieg 1982. Und es gelang ihnen, dieses Rekordtief in den Europawahlen 2014 mit 23 Prozent noch zu unterbieten. Unmittelbar nach den Europawahlen übernahm Generalsekretär Alfredo Rubalcaba, 62, die Verantwortung für beide Niederlagen und kündigte seinen Rücktritt an. Dabei war Rubalcaba, der seit 1982 die Politik der PSOE an führender Stelle mitprägt, als Generalsekretär und Spitzenkandidat 2011 selber eher eine Übergangs- oder Verlegenheitslösung gewesen: Es musste die Lücke füllen, die der Rückzug José Luis Zapateros aus den Ämtern des Spitzenkandidaten und Generalsekretärs hinterlassen hatte. Indirekt war die Niederlage der PSOE von 2011 (und von 2014) eher Zapatero als Rubalcaba anzulasten.


2. Ursachen eines Niedergangs: Austeritätspolitik

In der letzten Parlamentswahl vor 2011 hatte es die PSOE unter Zapatero auf 43,9 Prozent der Stimmen gebracht. Der dramatische Verlust von 15 Prozentpunkten oder vier Millionen Wählerstimmen innerhalb von nur drei Jahren lässt sich in erster Linie mit der Wirtschaftskrise bzw. der Antwort der Regierung Zapatero auf die Krise erklären, die das Vertrauen der Wähler in die PSOE offensichtlich nachhaltig erschütterte. Vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise konnte Spanien mit (auf den ersten Blick) positiven makroökonomischen Daten aufwarten: Der Staatshaushalt wies einen Überschuss auf und die öffentliche Verschuldung war im europäischen Vergleich niedrig. Auf die Krise, deren Schwere wahrscheinlich erst spät erkannt wurde, reagierte die spanische Regierung - wie die anderen europäischen Regierungen - mit staatlichen Ausgabenprogrammen, die den Zusammenbruch von Produktion und Beschäftigung bremsen sollten, die aber zusammen mit den automatischen Stabilisatoren ein wachsendes staatliches Defizit und zunehmende öffentliche Verschuldung bewirkten. Diese zu erwartende Entwicklung wurde durch drei Faktoren drastisch verschärft: Erstens löste die Griechenland-Krise auf den internationalen Finanzmärkten eine Reihe spekulativer Angriffe auf die Währungen der südeuropäischen Mitglieder der Eurozone aus, die die Kosten der Verschuldung (und damit die Verschuldung selbst) steil in die Höhe trieben. Zweitens kam die Zentralbank Spaniens - das heißt die EZB - unter dem Druck der deutschen Bundesregierung nicht ihrer Pflicht nach, die Währungen der Mitglieder der Eurozone zu schützen; dies erfolgte erst 2012 mit der berühmten Ankündigung Draghis, die EZB werde die Staatsanleihen von Krisenländern aufkaufen; de facto hatte Spanien bis 2012 keine Zentralbank. Und drittens setzte Deutschland über die europäischen Institutionen in Südeuropa eine strikte Austeritätspolitik durch, die aus der Rezession eine schwere Depression machte.

Unter den gegebenen Umständen ließ sich die keynesianische Politik Zapateros nicht aufrechterhalten. Unter dem direkten Druck der EZB und des IWF, vor allem aber unter dem indirekten Druck Deutschlands, vollzog Zapatero 2010 eine 180-Gradwende und leitete, zusammen mit der noch oppositionellen PP, das größte soziale Kürzungsprogramm ein, das Spanien seit dem Ende des Franquismus hatte hinnehmen müssen. Mehr noch: Unter vor allem deutschem Druck (und wieder mit der PP) setzte er eine Verfassungsänderung durch und führte eine durch die Verfassung abgesicherte Schuldenbremse ein. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Verfassung von 1978 als das Dokument demokratischer Reife und des gelungenen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie gilt. Nur einmal seit 1978 war sie geändert worden: Mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Ausländer. Eine sichtbar von außen oktroyierte Verfassungsänderung aber, deren ökonomische Sinnhaftigkeit im besten Fall umstritten ist, musste als demütigender Verzicht auf Souveränität wahrgenommen werden und wurde - wie zu erwarten war - in den nächsten Wahlen drastisch bestraft.

Natürlich verfehlte die Austeritätspolitik in Spanien das ihr offiziell gesetzte Ziel, das staatliche Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bekommen. Die Kürzung der staatlichen Ausgaben (in einer Situation, in der die privaten Haushalte und Unternehmen ebenfalls ihre Ausgaben einschränkten) führte zu einer Nachfragesenkung, die ihrerseits die staatliche Steuerbasis schmälerte, womit die staatlichen Einnahmen zurückgingen, ein Rückgang, der wiederum durch immer neue Ausgabenkürzungen kompensiert werden musste. Diese Spirale nach unten trieb die Kosten der Krise immens in die Höhe und wirkte sozial extrem selektiv: das oberste Zehntel der Einkommenspyramide verlor in der Krise ein Prozent seines Einkommens, das unterste Zehntel mehr als 30 Prozent. Dieser soziale Selektionseffekt ist möglicherweise das eigentliche Motiv dieser Politik. Die ab 2011 regierende PP jedenfalls nutzte die Austeritätspolitik, um die spanische Gesellschaft um mehrere Jahrzehnte zurück zu katapultieren. Spanien wurde (nach Lettland) zum EU-Land mit der höchsten Einkommensungleichheit.


3. Ursachen eines Niedergangs: Veränderung des Parteiensystems

In den Europawahlen musste die PSOE eine noch herbere Niederlage einstecken als in den Parlamentswahlen 2011, und dies trotz der drei Regierungsjahre der PP mit ihrer brutalen Austeritätspolitik. Die PSOE verdankt dieses schlechte Ergebnis allerdings nicht der Popularität der PP, die im Vergleich zu 2011 ebenfalls einen starken Stimmenverlust zu verkraften hatte, sondern der wachsenden Konkurrenz auf der linken Seite des politischen Spektrums. Zum einen konnte die von der Kommunistischen Partei dominierte IU ihren Anteil an den Wählerstimmen zwischen 2011 und 2014 mehr als verdoppeln. Zum andern kam die neue Partei Podemos in den Europawahlen aus dem Stand auf acht Prozent der Stimmen. Heute, im August 2014, sind Umfragen zufolge Podemos und IU zusammen stärker als die PSOE. Drittens drohen die Sozialisten Kataloniens, die PSC, zwischen Anhängern und Gegnern der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zerrieben zu werden: In den Europawahlen kamen sie auf gerade einmal 14 Prozent. Wahlsieger war hier die linksnationalistische Republikanische Linke (ERC), die dritte Kraft, die auf der Linken mit den Sozialisten konkurriert (hinzukommen die baskische Linke und die noch kleine Grüne Partei).

Die Sozialisten sind aber nicht nur mit erstarkenden linken Parteien konfrontiert, sondern auch damit, dass ein wachsender Teil ihrer potentiellen Wähler aus dem etablierten spanischen Parteien- und Politiksystem, das auf nationaler Ebene durch die Rivalität zwischen PSOE und PP bestimmt wurde, ausschert (insofern ist auch die PP Opfer der Entwicklungen, sie hat es sich nur noch nicht eingestanden). Anders gesagt: Der PSOE sind nicht nur innerhalb des gegebenen politischen Referenzsystems neue Konkurrenten entstanden, vielmehr befindet sich dieses Referenzsystem selbst in Auflösung.

Dies zeigt sich erstens an der IU, in der sich die Kommunisten mit einem bunten Mantel lokaler, regionaler und grün-alternativer Kleinparteien umgeben haben, der das traditionelle Bild der Kommunisten verdeckt. Dies zeigt sich - zweitens - deutlicher noch an Podemos, einer Partei, die sich selbst in der Nachfolge der Indignados, der »empörten« jungen Protestierer sieht, die im Sommer 2011 auf den Hauptplätzen der großen Städte kampiert hatten. Der wichtigsten Führungsfigur von Podemos zufolge hat der Gegensatz zwischen rechts und links keine Bedeutung mehr, sondern ist dem Gegensatz zwischen Elite und Bevölkerung gewichen. Diese linkspopulistische Haltung, der zufolge die beiden großen, auf nationaler Ebene agierenden Parteien nur eine »Kaste« sind, die »PPSOE«, ist in den politisierten Teilen der Jugend weit verbreitet. Dieser Sicht zufolge ist Podemos eine Anti-System-Partei, eine Partei, die sowohl die PP als auch die PSOE als Gegner definiert. Und drittens sind die katalanischen (und zum Teil auch baskischen) Linksnationalisten per definitionem Anti-System-Parteien, da sie den spanischen Staat nicht als ihr Gemeinwesen anerkennen und beide große spanische Parteien grundsätzlich ablehnen.

Die Auflösung des einst stabilen Zweiparteiensystems trifft die PSOE härter als die PP, da letztere bislang die Kraft aufbrachte, die Rechte, das heißt die moderaten, franquistischen und post-franquistischen Kräfte, eisern zusammenzuhalten. Demgegenüber war die PSOE von Anfang an mit den Kommunisten konfrontiert, die aber lange Zeit zu schwach waren, um die Logik des Zweitparteiensystems durcheinanderzubringen. Heute ist die Linke insgesamt numerisch stärker als das konservative Lager, es ist aber offen, ob diese Linke kooperationsfähig ist. Die Koalition zwischen PSOE und IU in Andalusien funktioniert zwar (wenn auch manchmal mit Schwierigkeiten), eine Koalition aus PSOE und Podemos ist aus heutiger Sicht fast und eine Koalition der PSOE mit den linksnationalistischen katalanischen Kräften per definitionem ausgeschlossen. Die linke Koalition aus PSC und ERC, die von 2003 bis 2011 Katalonien regierte, würde heute nicht mehr zustande kommen.


4. Ursachen eines Niedergangs: Die Krise des Paradigmas der transición

Die Auflösung des spanischen Zweitparteiensystems ist nur eins von mehreren Phänomenen, die zusammen genommen eine Krise des spanischen Paradigmas der transición - des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie - anzeigen. Die transición wurde bis vor wenigen Jahren nicht nur als ein erfolgreicher Prozess bewertet, als politischer Systemwechsel ohne Gewalt, der auch anderen, noch nicht demokratisierten Länder als Modell anempfohlen werden konnte. Auch die Stabilität und Fortentwicklung der spanischen Demokratie sowie ein beeindruckender wirtschaftlicher Aufholprozess wurden der erfolgreichen transición zugeschrieben. Die transición, die sich streng genommen ja auf die Jahre 1975 (Tod Francos) und 1978 (Verabschiedung der neuen Verfassung) beschränkt, ist zum Gründungsmythos des demokratischen Spanien geworden, der noch Jahrzehnte nach dem Übergangsprozess selbst legitimatorisch wirkte.

Hintergrund des spanischen Übergangs-Modells sind die mit dem Bürgerkrieg verbundenen und über Jahrzehnte und Generationen hinweg tradierten Erfahrungen. Die Demokratisierung - so das Axiom nach dem Tode Francos - darf nicht in einen zweiten Bürgerkrieg münden. Um dies zu vermeiden, mussten die verfeindeten Lager von damals einen unausgesprochenen Pakt schließen: Die Rechte, das heißt die ehemaligen oder Noch-Franquisten, mussten die Wiederherstellung der Demokratie und damit des Gemeinwesens, dass sie in den dreißiger Jahren zerstört hatten, akzeptieren. Dafür wurden sie als gleichberechtigter Teilhaber an der Demokratie anerkannt. Krieg, Terror und Diktatur, für die die Rechte verantwortlich war, wurden aus der politischen (und erst recht juristischen) Auseinandersetzung ausgeklammert. Die Linke dagegen verzichtete darauf, »alte Rechnungen« aufzumachen (was moralisch überaus legitim gewesen wäre), erhielt aber mit der Demokratie die Staatsform, für deren Erhalt sie in den dreißiger Jahren gekämpft hatte.(1) Damit konnte - so meinten jedenfalls die wichtigsten Akteure beider Seiten - vermieden werden, dass die Demokratisierung von einer unlösbaren Debatte über in der Vergangenheit begangene Schuld und deren Sühne überschattet wurde, mit dem möglichen Ergebnis eines zweiten Scheiterns der Demokratie. Für beide Seiten bedeutete der Pakt einen »Verrat« - so jedenfalls Javier Cercas -, aber einen Verrat an der Vergangenheit, der notwendig war, wenn die demokratische Zukunft nicht verraten werden sollte.

Paradoxerweise führte der Pakt, der einen zweiten Bürgerkrieg verhindern sollte, dazu, dass der Bürgerkrieg - nun mit demokratischen Mitteln - fortgeführt wurde; das stabile Zweiparteiensystem konservierte im Grunde die Fronten des Bürgerkriegs und der Diktatur, brachte aber auch eine Verkehrung hervor: Seit 1982 hatten die Sozialisten einen deutlich höheren Anteil an der Führung des Landes. Sie regierten insgesamt 21 Jahre, gegenüber den bis jetzt elf Regierungsjahren der PP. Man kann also sagen, dass die PSOE einen sehr hohen Anteil an der Gestaltung der spanischen Demokratie hatte; dies gilt insbesondere für die 14 Regierungsjahre Felipe González', die Zeit also, in der sich die transición konsolidierte und die Demokratie irreversibel wurde. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Sozialisten von der Krise des transición-Paradigas stärker getroffen wurden als die Rechte, die ihrerseits dank des informellen Paktes davon entlastet wurde, sich mit ihrer Verantwortung für Krieg und Diktatur auseinanderzusetzen.

Neben dem Parteiensystem sind zumindest zwei weitere Säulen des spanischen Staates von der Krise des transición-Paradigmas betroffen: Die Monarchie und das Territorialregime, das heißt das Verhältnis des spanischen Zentralstaats zu den autonomen Regionen. Die Monarchie war ein Teil des Paktes zwischen den demokratischen und den noch- oder postfranquistischen Kräften. Mit der Einführung der Monarchie wurde verhindert, dass die Demokratisierung gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der »Zweiten Republik« (1931-1939) war - eine Konstruktion, die es der Rechten erleichterte, die Demokratie zu akzeptieren. Für die Linke dagegen war die Monarchie akzeptabel, da sie streng als »parlamentarische Monarchie« verfasst war. Die Abdankung des Königs Juan Carlos im Juni 2014 warf den Streit zwischen Republikanern und Monarchisten aber aufs Neue auf. Es wurde diskutiert, ob Spanien zur Sicherung seiner Demokratie noch der Monarchie bedürfe, ob die Kosten der Monarchie nicht deren Nutzen überwögen. Und zumindest in einer Hinsicht scheint die Monarchie keine Rolle mehr zu spielen: Der König wirkt nicht mehr als die Figur, die die unterschiedlichen Regionen des Landes eint, im Gegenteil: Die Mehrheit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung ist strikt republikanisch.

Dies führt zur Frage des spanischen Territorialregimes: Im Rahmen des transición-Paktes schien ein Kompromiss gefunden worden zu sein, mit dem sich die Ambitionen der autonomen Regionen - insbesondere der »historischen« Regionen Katalonien, Baskenland und Galizien - mit denen des spanischen Zentralstaats in Übereinstimmung bringen lassen konnten. Auf der einen Seite erhielten die Regionen recht weitgehende Kompetenzen, die über die deutscher Bundesländer hinausgehen können; auf der anderen Seite aber gilt die Autonomie nach wie vor als Konzession des Zentralstaats, die theoretisch auch wieder zurückgenommen werden kann. Dieser Kompromiss ist, wie die Radikalisierung und Ausweitung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zeigt, heute nicht mehr wirksam.

Das Paradigma der transición ist vielleicht am stärksten durch ein soziales Phänomen bestimmt: Die Zeit zwischen dem Übergang zur Demokratie und der Krise 2007/2008 wurde von der großen Mehrheit der Spanier als eine Zeit einer kontinuierlichen wirtschaftlichen Besserstellung erfahren - und, parallel, einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Emanzipation -, und zwar sowohl im Rahmen der jeweils individuellen Biographien als auch in der Kontinuität zwischen den Generationen. Diese doppelte Kontinuität ist mit der Krise zerbrochen. Die ärmeren Spanier haben drastische und irreversible Einbußen hinsichtlich ihrer Einkommen und der ihnen zustehenden Sozialleistungen hinnehmen müssen; drastische Rückschritte in der politisch-sozialen Entwicklung kommen hinzu, von der Einschränkung der Demonstrationsfreiheit und des Streikrechts bis hin zu einer neuen und extrem restriktiven Gesetzgebung zur Abtreibung. Vor allem aber ist angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent klar absehbar, dass die Lebensverhältnisse der heute jungen Generation deutlich schlechter sein werden als die ihrer Eltern. Diesem Sachverhalt vermag die zum Mythos gewordene transición nichts entgegenzusetzen.


5. Hat die PSOE eine Antwort auf die Krise der spanischen Demokratie?

Der Führungswechsel brachte eine neue Generation an die Spitze der PSOE, es gibt bislang aber nur wenig Hinweise auf einen Wandel des politischen Diskurses. Die öffentliche Debatte der drei Kandidaten für das Führungsamt enthielt keine wirkliche Kontroverse, und auch die Rede Sánchez' auf dem Parteitag brachte auf den ersten Blick wenig Neues. Allerdings sprechen drei Stichworte - Neugründung, Partizipation und wirtschaftliche transición - dafür, dass die neue PSOE-Führung einen Politikwechsel einleiten könnte:

Erstens sind sich Sánchez und der neue Vorstand der dramatischen Lage, in der sich die PSOE befindet, durchaus bewusst. Die neue Führungsgruppe betonte, dass sie nicht aus dem »Apparat« der Partei hervorgehe, also nicht nur mit der Routine der Partei in der Vergangenheit identifiziert werden darf, und Sánchez sprach sich nicht nur für eine Reform, sondern für eine Neugründung (refundación) der PSOE aus.

Hiermit im Zusammenhang steht zweitens der starke Akzent, der auf die Partizipation der Mitglieder - und auch der Nicht-Mitglieder - der Partei gelegt wird. Hierbei handelt es sich allerdings um einen Ansatz, der schon vor dem Führungswechsel verfolgt wurde. Auf einer »politischen Konferenz« im November 2013 wurde das neue Programm der PSOE von hunderten von Mitgliedern und Sympathisanten diskutiert und verabschiedet. Auch soll der sozialistische Spitzenkandidat für die nächsten Parlamentswahlen in Vorwahlen bestimmt werden, an denen sich nicht nur die Mitglieder beteiligen können, sondern alle Bürger, die einen Euro zahlen und ihre Zustimmung zu den Werten der PSOE mit ihrer Unterschrift bekunden. Ursprünglich waren diese offenen Vorwahlen für den November 2014 geplant, sie sollen jetzt verschoben, aber auch auf die Spitzenkandidaten bei den Kommunal- und Autonomiewahlen (im Mai 2015) ausgeweitet werden. Die Vorwahlen für die nächsten Parlamentswahlen, die Ende 2015 oder Anfang 2016 stattfinden werden, sollen nach den Kommunal- und Autonomiewahlen abgehalten werden.

Drittens forderte Pedro Sánchez in seiner den außerordentlichen Kongress abschließenden Rede mehrfach einen »wirtschaftlichen Übergang« (transición económica). Dabei blieb freilich unklar, was dieser Begriff konkret bedeutet. Aber er könnte - wie früher in anderen Ländern das Schlagwort des »Dritten Weges« - eine wirtschaftspolitische Debatte anregen. Jeder denkende Spanier weiß, dass die Wirtschaftsentwicklung in den 15 Jahren vor der Krise - ein auf der Bau- und Immobilienwirtschaft basierender und mit billigen ausländischen Krediten finanzierter Boom - nicht nachhaltig sein konnte. Die transición - so die Folgerung - hatte die Wirtschaft offensichtlich nicht oder nicht ausreichend erfasst. Wie die Ausweitung der transición auf die Wirtschaft erfolgen soll, ob auf dem Wege einer staatlichen Industriepolitik oder dem einer neoliberalen Deregulierungspolitik, bleibt eine offene Frage. Bezeichnend allerdings ist, dass Sánchez auch in diesem Fall auf das transición-Paradigma setzte - ein Hinweis auf dessen nach wie vor vermutete legitimatorische Kraft.

Das entscheidende Problem der PSOE wird es aber sein, die Generation zurückzugewinnen, die sich mit dem transición-Paradigma nicht mehr überzeugen lässt, und die heute Podemos und zum Teil die IU und die katalanischen Nationalisten zu repräsentieren vorgeben. Es handelt sich um eine Generation, die nicht mehr die Perspektive einer kontinuierlichen Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen hat - und es ist diese Perspektive, auf der der Erfolg der Sozialisten in der Vergangenheit basierte.


Literatur

(1) Javier Cercas, Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde. Fischer, Frankfurt am Main 2011, S. 27 ff


Über den Autor

Michael Ehrke ist Leiter des Büros Madrid der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er war Mitarbeiter der Internationalen Politikanalyse in Bonn und vertrat die FES in Tokyo, Budapest und Belgrad.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2014