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ITALIEN/008: Die blockierte italienische Politik (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Die blockierte italienische Politik

Von Gregor Fitzi



Nach den Parlaments- und Senatswahlen ist das politische System Italiens in drei gleiche Teile zerfallen. Die Fünf-Sterne-Bewegung des Politiksatirikers Beppe Grillo stellt die stärkste Fraktion. Nur dank einer Bündnisliste erzielt die linke Demokratische Partei (PD) einen kleinen Vorsprung von 120.000 Stimmen gegenüber Berlusconis Koalition mit der Lega Nord. Festzuhalten ist: Die linken Parteien sind nicht in der Lage, das Potenzial der Jungen, Unzufriedenen und ökonomisch Ausgeschlossenen für sich zu gewinnen.


Italien ist heute ein Land, in dem Architekten reihenweise pleitegehen, weil die öffentliche Hand ihre Rechnungen über Jahre nicht bezahlt. Warum sollten dies ihre Privatkunden tun? "Ich hab's nicht". Dies ist ein geflügeltes Wort geworden. Die Wirtschaft bricht zusammen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt über 30%. Geht es also allen Italienern schlecht? Eben nicht! Es gibt eine gutbetuchte Upper-class, circa 10% der Familien, die 45% des Landesreichtums besitzen. Sie leben oft von sogenannten Standortvorteilen (rendite di posizione), die sie gegen alle Gesetze der Marktwirtschaft durch Kartellbildung, Steuerhinterziehung und politische Patronage erfolgreich verteidigen. Um den Status quo dieser Privilegien beizubehalten, hat der soziale Block, der sich um Berlusconi 1994 bildete, das Land seit 2001 (mit einer Unterbrechung durch Prodis zweijähriges Kabinett) regiert.

So gibt es trotz industriellen Untergangs keine Industriepolitik, damit "konsolidierte Interessen" nicht angetastet werden. Man hat sich gerne mit Berlusconi arrangiert und über jede Peinlichkeit hinweggesehen. Er schützt seine illegale Medienkonzentration, so schützt er auch unsere Interessen und Vorrechte - hat man gedacht. Nur als auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise 2011 klar wurde, dass es extrem teuer wird, an frisches Geld (für den Staat, aber auch für die Unternehmen) zu kommen, hat man Berlusconi fallen lassen. Montis Regierung hat einen Hauch frischer Luft in das System gebracht. Ein nüchterner und international anerkannter Wirtschaftsexperte nach so vielen Jahren Bunga-Bunga. Sein Programm war die Konsolidierung der Staatsverschuldung und die Wiederherstellung von Italiens Kreditwürdigkeit. Er hat versucht, minimale Legalitätsstandards in Fragen der Steuerhinterziehung durchzusetzen. Er musste aber auch auf wirkungsvolle Mittel zurückgreifen, um schnell Kasse zu machen. So hat er die von Berlusconi abgeschaffte Hauseigentumssteuer wieder eingeführt. Darunter mussten vor allem die kleinen Leute leiden, die es ihm übel genommen haben. Wachstumsimpulse konnte Monti nicht setzen.

Laut Umfragen schien Ende 2012 das Mitte-Links-Bündnis mit einer satten Mehrheit auf die für den Spätfrühling 2013 geplanten Parlamentswahlen zuzusteuern. Dies reichte aus, um Berlusconi in Panik zu versetzen. Eine Reihe seiner Strafverfahren sind bereits abgeschlossen, andere werden es bald sein; verliert er die parlamentarische Immunität, wandert er ins Gefängnis. Und eine Mitte-Links-Mehrheit könnte sie ihm entziehen. Die Wahlen sollten vorgezogen und die Wahlkampagne zur Guerilla werden. Dazu ist es gekommen. Berlusconi hat der Regierung Monti die Unterstützung kurzerhand gekündigt und sich in seinen Wahlversprechen maßlos überboten. Die in 2012 gezahlte Hauseigentumssteuer in Höhe von satten vier Milliarden Euro sollte gänzlich zurückgezahlt werden. So begannen die Werte des Mitte-Links-Bündnisses abzurutschen und die der Berlusconi Partei zu steigen. Die Strategie schien wie im Jahr 2008 aufzugehen. Doch etwas hat nicht funktioniert. Montis Eintritt in den politischen Wettbewerb mit einer eigenen Liste hat Berlusconis Pläne durchkreuzt. Und zusätzlich gab es das Ungewisse um die Protestpartei des ehemaligen Politiksatirikers Beppe Grillo.


Neuwahlen hätten nur mit einem neuen Wahlgesetz Sinn

Am Morgen des 26. Februar ist Italien in einer neuen Wirklichkeit aufgewacht. Grillos Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) stellt mit 25,5% der Stimmen die stärkste Fraktion. Nur dank der Koalition mit dem linken Bündnis SEL erzielt die Demokratische Partei (PD) einen hauchdünnen Vorsprung von 120.000 Stimmen (29,5%) gegenüber Berlusconis Koalition mit der Lega Nord (29,1%). So verfügt Mitte-Links über die Koalitionsprämie, die laut Berlusconis Wahlgesetz von 2005 der stärksten Koalition im Abgeordnetenhaus eine absolute Mehrheit zusichert. Im Senat, der nach dem Direktmandatsprinzip gewählt wird, verfügt niemand über eine Mehrheit. Das politische System ist blockiert. Nur mit einem anderen Wahlgesetz würden Neuwahlen Sinn ergeben. Niemand kann jedoch voraussehen, was in den nächsten Monaten passiert - ob zum Beispiel eine Übergangsregierung mit externer Unterstützung des M5S so lange durchhalten kann, bis ein neues Wahlgesetz verabschiedet wird.

Inzwischen rätselt man über die Frage, wie es überhaupt zum Wahlergebnis kommen konnte. Das M5S war bislang durch die gebrüllten Monologe von Beppe Grillo aufgefallen. Die gesamte "politische Kaste" sollte endlich nach Hause geschickt werden. Hinzu kamen die "Vaffanculo-Days" (Du-kannst-mich-mal Tage), während derer jeder seine Wut, egal auf wen, herauslassen konnte. Nebst der populistischen Kakophonie, zu der ausländer-, staats- und eurofeindliche Töne gehören, gibt es aber auch mehr. Liest man das Wahlprogramm des M5S, stößt man auf eine Mischung von linkem und grünem Gedankengut. Dazu gehört: Sofortiges Arbeitslosengeld für alle, Schutz der Arbeiterrechte, Abschaffung der Monopole in den Medien, der Energieindustrie sowie bei Bahn und Autobahnen. Vor allem aber tritt die M5S für die Energiewende, die massive Abschaffung der Vorrechte der politischen Klasse, für die "digitale Staatsbürgerschaft" und den kostenlosen Zugang zum Internet für jeden Bürger ein. Und dort hat die Bewegung ihr Herz. Ohne festen Sitz und Organisationsstruktur ist sie aus einem Internetblog hervorgegangen. Über Soziale Netzwerke haben dort Tausende von gut qualifizierten, von der Berufswelt jedoch ausgeschlossenen jungen Leuten zusammengefunden. Es gab endlich ein Forum, in dem sie Probleme und Erwartungen thematisieren konnten, die anderswo kein Gehör fanden. Die Wut über die italienische Elite, die politisch nur im Eigeninteresse handelt, ist zum Katalysator für die Aggregation der Ausgeschlossenen geworden. Ob sie nun beim aktiven politischen Gestalten zusammenhalten, ist fraglich.

Die brennendste Frage ist jedoch eine andere.Die Parteien des linken politischen Spektrums haben immerhin 29,5% der Stimmen bekommen. Und trotzdem sind 16% der Wähler der PD zum M5S abgewandert. Unter den Wählern des M5S stammen 20% aus den Reihen der Nichtwähler, und 16% sind junge Erstwähler. Wie kommt es dann dazu, dass die linken Parteien nicht in der Lage sind, dieses Potenzial für sich zu gewinnen? Die beste Antwort auf diese Frage geben diejenigen Wähler, die sich ein letztes Mal überwunden haben, für Mitte-Links statt für M5S zu wählen. Seit 20 Jahren dieselben Gesichter! Zu viele Kompromisse mit dem Machtblock um Berlusconi! Mitte-Links hat die Erwartungen der linken Wählerschaft tief enttäuscht. Als Akademiker, Berufspolitiker oder Universitätsprofessoren gehören die Vertreter von Mitte-Links soziologisch betrachtet zu den gesicherten Schichten der Gesellschaft. Es fehlt ihnen das Einfühlungsvermögen, um zu verstehen, unter welchen prekären Umständen die Mehrheit der Italiener lebt. Sie werden von den Wählern am Lebensstil gemessen und nicht an dem, was sie sagen.

Hinzu kommt die Altersfrage. Mit den jungen Generationen, die sich zwischen Verzweiflung und Internet bewegen, haben herkömmliche Politiker keinen Kontakt. So findet die Jugend keine anderen Mittel, um ihre Revolte zu artikulieren. Es gibt einen einzigen Politiker im Mitte-Links-Lager, der dies verstanden hat. Matteo Renzi, der Bürgermeister von Florenz, der bei den Vorwahlen der PD den zweiten Platz hinter Pier Luigi Bersani belegte. Er ist sehr umtriebig in den Sozialen Netzwerken und ein guter Kommunikator mit einem Hang zum demagogischen Populismus. Von ihm stammt die Idee einer Abwrackprämie für Politiker, die sich dann Grillo lautstark auf die Fahnen geschrieben hat. Renzi gehört der christlich-sozialen Fraktion innerhalb der PD an und kann in der konservativen Wählerschaft punkten. Viele denken bereits, dass Mitte-Links ihn das nächste Mal ins Rennen schicken sollte, da er sich in einem demagogischen Dreieck mit Berlusconi und Grillo besser durchsetzen kann als die ehemaligen KPI-Kader mit ihrem ewigen Appell an die Vernunft, der niemanden mehr in Italien anzusprechen scheint.


Gregor Fitzi (*1963) ist Senior researcher am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. Bei Presses de l'Université de Montréal erschien zuletzt (mit Denis Thouard) Réciprocités sociales. Lectures de Simmel. Sonderausgabe der Zeitschrift Sociologie et Société

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 8-10
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
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Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2013