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FRANKREICH/006: Die französische Parti socialiste - "Wir müssen die Linke nicht wiederaufrichten, wir müssen sie transformieren" (spw)


spw - Ausgabe 4/2017 - Heft 221
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die französische Parti socialiste (PS): Wir müssen die Linke nicht wiederaufrichten, wir müssen sie transformieren

von Laura Slimani(1)


Kein ehrlicher Sozialist und keine ehrliche Sozialistin würde behaupten, es sei alles in bester Ordnung. Tatsächlich ist schon lange nichts mehr in Ordnung. Ja, von Zeit zu Zeit erlaubt uns ein kleiner Hoffnungsschimmer, daran zu glauben, dass vielleicht bald wieder "alles beim Alten" ist. Im Frankreich des Jahres 2012 schien es, als hätten die Sozialisten nach zehn Jahren in der Opposition endgültig zurück zu alter Stärke gefunden. Aber fünf Jahre später ist der Nachgeschmack stark und bitter: Die Sozialistische Partei Frankreichs scheint am absoluten Tiefpunkt angekommen zu sein. Ich werde in diesem Beitrag argumentieren, dass das, was derzeit mit den französischen Sozialisten passiert, keine vorübergehende Schwächephase ist. Es handelt sich um eine strukturelle Schwächung, die impliziert, dass man sich entweder anpassen muss oder in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird.


Was in den letzten fünf Jahren passiert ist

Ich werde nie die triumphale Ankunft der französischen Delegation beim Sommercamp der Young European Socialists (YES)(2) im Jahr 2012 vergessen. Nach zehn Jahren konservativer Politik und vier Jahre nach dem Beginn der Sparpolitik in Europa, wurde Hollande als große Hoffnung ausgemacht, um aus der Sackgasse der Austerität, in der wir uns befanden, zu entkommen. Es bestand die riesige Chance auf eine Wiedergeburt der Linken in Europa, wenn wir es schafften, Millionen junger EuropäerInnen neue Perspektiven zu eröffnen. Leider wurden wir schon bald enttäuscht: Hollande entschied, den Europäischen Fiskalpakt zu ratifizieren. Dies markierte den Beginn einer fünf Jahre andauernden Periode der langsamen Zersetzung der Sozialistischen Partei.

Ich werde nicht auf alle Maßnahmen eingehen, die beschlossen - oder nicht beschlossen - wurden und die das Gefühl des Verrats unter traditionell linksorientierten WählerInnen in Frankreich veranschaulichen, aber ein paar dieser Maßnahmen sind symptomatisch.

Die Regierung von Hollande verfolgte eine sozialliberale Wirtschaftspolitik: Sozialistische Abgeordnete verabschiedeten die größte Senkung der Sozialbeiträge der Arbeitgeber aller Zeiten und sie verantworteten die größten Kürzungen öffentlicher Ausgaben in der Geschichte des Landes. Sozialistische WählerInnen waren zudem schwer enttäuscht über den Mangel an progressiven Sozialreformen der Regierung. Während im Bereich der Bildung sowie bei LGBT- und Frauenrechten bedeutende Fortschritte erzielt wurden, wurde nichts unternommen, um gegen Rassismus und Diskriminierung vorzugehen - obwohl das eines von Hollandes Wahlversprechen war. Eine noch größere Ernüchterung war es mitanzusehen, wie die neue Mehrheit das Vorhaben fallen ließ, ausländischen BürgerInnen die Stimmabgabe bei Kommunalwahlen zu ermöglichen - ein Versprechen, das zuerst von François Mitterrand gemacht wurde, im Jahr 1981. Manuel Valls' Ernennung zum Premierminister wurde als weiteres klares Zeichen gewertet, dass es selbst im Bereich der Menschenrechte keine Bereitschaft gab, die bestehende Situation zu ändern - ganz im Gegenteil, wie die Debatte über den Entzug von Staatsbürgerschaften in Folge des Anschlags auf das Bataclan auf traurige Weise veranschaulichte(3).

Natürlich spalteten diese kontroversen Entscheidungen die Linke. Schnell begann eine Gruppe Abgeordneter, sich öffentlich gegen diese Maßnahmen auszusprechen und im Parlament dagegen zu stimmen. Ein solches Ausmaß an innerparteilicher Opposition hatte es seit der Wiedervereinigung der Sozialistischen Partei im Jahr 1971 nicht gegeben. Ein Teil der Regierung trat zurück nachdem Hollande seine Absicht bekräftigte, die Austeritätspolitik fortzusetzen. Die desaströsen Ergebnisse der Sozialisten bei sämtlichen Wahlen, die zwischen 2012 und 2017 stattfanden, bestätigten, dass sich unsere WählerInnen ob dieser politischen Kehrtwende betrogen fühlten.

Es handelte sich nicht um das übliche Ausmaß der Enttäuschung, das mit der Übernahme von Regierungsverantwortung häufig verbunden ist. Dieses Mal ging es nicht darum, "wie links" wir noch seien, sondern ob diese Klassifizierung überhaupt noch zutreffe. Es geht hier nicht darum, zu behaupten, nichts sei verbessert worden: Das garantierte Mindesteinkommen wurde angehoben, Sammelklagen wurden eingeführt, der Zugang zur Gesundheitsfürsorge wurde verbessert. Aber diese Maßnahmen trugen nicht dazu bei, die soziale Ungleichheit zu verringern oder Diskriminierung zu bekämpfen, und sie hielten die Löhne gering. Frankreich unterstützte weiterhin die Austeritätspolitik in Europa und führte eine insgesamt repressive Migrationspolitik fort - trotz der erheblichen Zunahme der Flüchtlingszahlen in den letzten Jahren. Das war eine bedeutende Verlagerung weg von der traditionell eher linken Grundhaltung der Sozialistischen Partei im europäischen Vergleich.

Diese neue Ausrichtung machte es den Sozialisten unmöglich, mit anderen progressiven Kräften zu koalieren, was bei früheren Regierungen noch der Fall war.

Die innerparteilichen Vorwahlen sollten die Chance für einen Neuanfang eröffnen - nicht unbedingt, um die Wahlen zu gewinnen, sondern um zu versuchen, die Partei wieder zu einen. Aber der unerwartete Sieg von Benoît Hamon brachte die Pläne des Partei-Establishments durcheinander, das in der Mehrheit auf Manuel Valls gesetzt hatte. Die Parteistrukturen waren im darauffolgenden Wahlkampf keine Hilfe - um es milde auszudrücken.

Das Wahlprogramm, für das Benoît Hamon stand, grenzte sich klar von den Entscheidungen der Regierung Hollandes ab und verschob unsere Ausrichtung von einer klassisch sozialdemokratischen hin zu einer ökosozialistischen. Das veranlasste die Grünen, zum ersten Mal in ihrer Geschichte den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten zu unterstützen.

Aber auch wenn dieses Programm während der Vorwahlen in der Gesellschaft einigen Enthusiasmus entfachte, war damit schon der Höhepunkt des Erfolgs erreicht. Eine Reihe von lokalen und nationalen Parteiführern sowie ehemaligen Ministern begingen Verrat und schlossen sich Emmanuel Macrons Bewegung an. Es gelang uns nicht, die Energie, den hohen Wirkungsgrad und die gegen das Establishment und das System gerichtete Botschaft aus den Vorwahlen auf den Präsidentschaftswahlkampf zu übertragen. Das Wahlergebnis von sechs Prozent war ein Schlag ins Gesicht. Umfragen, die nach den Wahlen durchgeführt wurden, zeigten, dass ein erheblicher Teil der WählerInnen strategisch abgestimmt hatte: WählerInnen, die befürchteten, dass es kein Kandidat der Linken in die zweite Runde schaffen könnte, entschieden sich für Mélenchon. Diejenigen, die Angst hatten, sich am Ende zwischen einem Verbrecher (Fillon) und einer Rassistin (Le Pen) entscheiden zu müssen, wählten Macron.


Die endgültige Abkopplung der Sozialistischen Partei von der Bevölkerung

Obwohl der Präsident in Frankreich erhebliche Machtbefugnisse hat, kann er nicht alleine für die Situation verantwortlich gemacht werden. In der Nationalversammlung gab es Unterstützung für Hollandes Reformen - aus einer Loyalitätslogik heraus, aber auch aufgrund der zunehmenden Bedeutung einer zentristischen Ideologie innerhalb der Sozialistischen Partei.

Ja, Hollande gehörte dem eher "wirtschaftsliberalen" Flügel der Partei an, aber es trifft auf die gesamte Partei-Elite zu, dass sie nach und nach den Kontakt zu den historischen Wurzeln des Sozialismus verloren hat. Sie ist zunehmend dem Glauben an das Primat der Wirtschaft über soziale Belange verfallen, wonach mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt Arbeitsplätze schafft und Steuersenkungen für Reiche zu einem Trickle-Down-Effekt führen. Man darf nicht vergessen, dass François Hollande und viele seiner MitstreiterInnen in der Partei in den 1980er Jahren Wirtschaftswissenschaften studiert haben - in einer Zeit also, in der die neoliberale Schule an den Universitäten wie auch an der ENA(4) alles beherrschte. Das spielte wahrscheinlich ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass Hollande und viele seiner Regierungsmitglieder der Wirtschaftselite des Landes nahestanden, weil diese dieselben Bildungsinstitutionen besucht haben - hauptsächlich die ENA und die Sciences Po, aber zum Teil sogar dieselben Kindergärten! Den Kreislauf der sozialen Reproduktion zu durchbrechen ist in Frankreich gleichermaßen ein soziales wie demokratierelevantes Anliegen, wenn man bedenkt, zu welchem Grad Macht (wirtschaftlich, politisch, medial) von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Die Professionalisierung der Partei(5) - im Rahmen derer Macht von den Aktivisten an der Basis auf die örtlich gewählten Abgeordneten und ihre Mitarbeiterstäbe übertragen wurde - hat dazu geführt, dass es in Debatten eher darum ging, wie Mandate abgesichert werden könnten als um die Frage, was wir erreichen wollen, wenn wir an der Macht sind. Die Professionalisierung vollendete die Abkopplung der Partei von der Gesellschaft.

Sie verstärkte den Eindruck, dass die Partei nicht länger an der Seite der GeringverdienerInnen stand, sondern das System genauso aufrechtzuerhalten suchte wie die Konservativen. Dieses wachsende Gefühl verstärkte die Rhetorik des Front National, der sich als einzige Alternative darstellte. Die Sozialistische Partei verstand zudem nicht, dass das wachsende Gefühl der "kulturellen Unsicherheit" eine klare Antwort erforderte. Diese hätte daraus bestehen müssen, die soziale Ungleichheit zu verringern und mit Hilfe eines eigenen Narrativs der Inklusion die Rechten an der Spaltung der Gesellschaft zu hindern. Stattdessen spielte die Regierung Hollandes den Rechten in die Karten: mit einer repressiven Migrationspolitik, unklaren migrationspolitischen Botschaften und fehlenden sozialpolitischen Lösungen. Ihr Kurs bekräftigte die Argumente der Rechten und versäumte es, wirtschaftliche Verbesserungen zu erzielen.

Das Erreichen des zweiten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen von Marine Le Pen ist viel schwerwiegender als das von Jean-Marie Le Pen im Jahr 2002. Für ihn stimmten im Jahr 2002 4,8 Millionen Franzosen und Französinnen. Für Marine Le Pen stimmten 2017 im ersten Wahlgang 7,8 und im zweiten 10,6 Millionen Menschen. Ein Sieg von Marine Le Pen in einer französischen Präsidentschaftswahl ist nicht länger unvorstellbar. Das sollte für die Linke genug Ansporn sein, aufzuwachen.


Strukturelle Probleme erfordern strukturelle Antworten

Viele argumentieren, es brauche nicht viel, um die Sozialisten wieder zum Erfolg zu führen. Meiner Meinung nach ist es naiv zu glauben, die Situation, in der sich die Sozialistische Partei derzeit befindet, sei lediglich einer Aneinanderreihung unglücklicher Umstände geschuldet und kleine Anpassungen reichten aus, um "zur Normalität zurückzukehren". In der Politik gibt es keine Normalität. Es gibt nur das, was politische und gesellschaftliche Kräfte sowie die jeweiligen Umstände schaffen. Parteien werden geboren, sie wachsen und sterben, neue Parteien entstehen - die Kräftebalance ist niemals ein für alle Mal fix. Wir stehen einem strukturellen Problem gegenüber, das strukturelle Antworten erfordert.

In Europa gibt es einen klaren Trend zum Niedergang sozialistischer Parteien. In manchen Ländern sind sie praktisch verschwunden: Es gibt keine Sozialisten im polnischen Parlament, es gibt sie kaum noch in Griechenland, sie stehen vor den Wahlen in Tschechien in Umfragen bei weniger als fünf Prozent. Überall wird die Sozialdemokratie von neuen linken Kräften herausgefordert, die eine sehr viel klarere Agenda vorweisen, nicht mit einer Vergangenheit des Verrats zu kämpfen haben und neue Gesichter präsentieren. In Frankreich wurde dieses Phänomen 2017 von der Wahlkampagne Mélenchons verkörpert, die viele junge Menschen überzeugte, wählen zu gehen und 17 Abgeordneten den Einzug in die Nationalversammlung ermöglichte. Obwohl die Sozialistische Partei mehr Abgeordnete stellt, ist Mélenchons Partei "La France Insoumise" bisher die einzig vernehmbare Stimme auf Seiten der Linken, die sich der Regierung Macrons entschieden entgegenstellt - denn im Gegensatz zu den Sozialisten hat sie eine klare Haltung.

Diese Situation können wir nicht ohne eine radikale und umfassende Transformation überwinden.

Wichtig ist vor allem: Wir brauchen zuerst eine Botschaft und dann eine Kommunikationsstrategie - nicht andersherum. Ich glaube, dass Jeremy Corbyns Kampagne rund um den Slogan "For the many, not the few" ("Für die Vielen, nicht die Wenigen") in dieser Hinsicht sehr erfolgreich war: Die gradlinige, im Stil der "einfachen Leute" gehaltene Kommunikation basierte auf der Bereitschaft, für die Mehrheit der britischen Bevölkerung einzustehen, die unter den Reformen leidet, von denen nur eine kleine, glückliche Minderheit profitiert. Mir ist nicht entgangen, dass er die Wahl am Ende verloren hat. Aber der Aufstieg der Labour-Partei in den letzten Wochen des Wahlkampfes war beispiellos. Das Wahlergebnis der Partei war viel besser als vorhergesagt und machte Theresa Mays Pläne zunichte, ihre Position zu stärken. Labour gewann sogar in Schottland Mandate zurück. Das war nicht nur einer guten Kommunikationsstrategie zu verdanken: Eine klare Botschaft, die ausdrückt, wer wir sind, für wen wir uns einsetzen und gegen wen, ist entscheidend, um Herzen und Köpfe zu gewinnen.

Während des Präsidentschaftswahlkampfes von Benoît Hamon gelang es uns, mutige Vorschläge zu machen und ein Wahlprogramm zu präsentieren, das wirklich neu war - gleichzeitig der Geschichte und den Werten der Linken treu und dem 21. Jahrhundert angemessen. Kernanliegen dieses Wahlprogramms war das bedingungslose Grundeinkommen, welches die Grundlagen des Kapitalismus in Frage stellt. Der erklärte Wille, eine nachhaltigere, maßvollere und bescheidenere Gesellschaft zu formen markierte das erste Mal, dass sich die Sozialisten von ihrer Tradition des "Produktivismus" lösten und von dem Glauben abrückten, dass das Leben der Menschen nur durch den Zugang zu immer mehr Konsum verbessert werden könnte. In gewisser Weise war unser Projekt auch eine Rückkehr zu den Wurzeln des Sozialismus: Es stand für die Umverteilung des Reichtums und den Kampf gegen die Ungleichheit - nur eben in einer Welt, in der wir uns der "Grenzen des Planeten", der gesundheitlichen Auswirkungen der Umweltzerstörung und der absoluten Notwendigkeit, den Planeten zu retten, um zukünftiges menschliches Leben zu ermöglichen, bewusst sind. Aus unserer Botschaft sollte klar hervorgehen, dass die Kombination aus einer ökologischen und sozialen Transformation der Weg zu einer faireren, besseren, stärkeren Gesellschaft ist.

Was Corbyn auch gelang war, der Partei ein neues Gesicht zu verleihen. Es wurde nicht das gesamte Partei-Establishment ausgetauscht, aber es traten einige sehr interessante neue Figuren verschiedenster ethnischer und sozialer Herkunft in den Vordergrund. Im britischen Parlament sind viel mehr Abgeordnete der Arbeiterklasse, People of Colour und Menschen mit Behinderung vertreten als im französischen. Ich glaube, dass das auch ein Grund ist, warum Macrons KandidatInnen bei der Wahl so erfolgreich waren. Sie wurden von einer Welle des Erfolges getragen, profitierten aber auch davon, dass sie nicht so aussahen, als seien sie Teil des Establishments. Mehr Frauen und People of Colour als jemals zuvor zogen in die Nationalversammlung ein. Das soll jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass viele dieser Abgeordneten - auch wenn sie nicht dem politischen Establishment angehören - sehr wohl Teil des wirtschaftlichen Establishments sind. Die meisten von ihnen stammen aus wohlhabenden Verhältnissen, sind hochqualifiziert und haben entsprechende Berufe. Dasselbe trifft allerdings auf die sozialistischen Abgeordneten im Parlament zu. Authentizität und neue Gesichter sind daher der Schlüssel zu einer Rückgewinnung des öffentlichen Vertrauens.

Wenn wir ehrlich sind, ist schlussendlich die wichtigste Frage, die wir uns stellen müssen: Ist eine derartige Transformation innerhalb der Sozialistischen Partei möglich? Wenn wir uns das jüngste Aufbranden von Anti-Austeritäts-Bewegungen in Europa anschauen, gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort. In Griechenland ist das nicht gelungen, in Großbritannien oder Portugal hingegen schon.

Ich glaube, dass wir in Frankreich unseren eigenen Weg finden müssen. Die Inspiration dafür können wir aus den in Europa gesammelten Erfahrungen sowie aus unseren eigenen Erfolgen und Misserfolgen ziehen. Das ist die Idee hinter einer Bewegung, die wir, die Unterstützer von Benoît Hamon, Anfang Juli ins Leben gerufen haben. Das Ziel der Bewegung "Mouvement du 1er juillet" (der Tag, an dem Hamon seinen Austritt aus der PS verkündete) ist nicht, die x-te linke Partei zu gründen, sondern einen Raum zu schaffen, in dem sich links orientierte Menschen mit der Frage beschäftigen können, wofür die Linke steht, welche Form sie annehmen und welche Strategie sie verfolgen sollte. Das können Menschen sein, die gleichzeitig anderen Strukturen angehören - seien es sozialistische, grüne oder kommunistische Strukturen oder "La France Insoumise" - oder die gerade erst anfangen, sich politisch zu engagieren. Ein Ort, an dem sich die Menschen so organisieren können, wie sie es möchten, ist mehr als angebracht: sei es das Zusammenkommen in einer Schule, um dort Bildungsfragen zu diskutieren; in einer Stadt, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und über lokale und nationale Angelegenheiten zu debattieren; in einer Universität, um sich für das Wohngeld einzusetzen, das derzeit in Gefahr ist, usw. In den nächsten beiden Jahren werden wir uns so horizontal wie möglich, so breit wie möglich und so offen wie möglich organisieren. Wir werden darlegen, wofür die Linke unserer Meinung nach stehen sollte und Brücken zu allen politischen Kräften bauen, die bereit sind, gemeinsam eine linke Mehrheit im Land zu schaffen.

Am 1. Juli 2017 hat Benoît Hamon angekündigt, die Sozialistische Partei zu verlassen, weil er nicht länger daran glaubt, dass es innerhalb des Parteiapparats jemals zu der erforderlichen Transformation kommen wird. Über viele Generationen war die Sozialistische Partei ein Ort, an dem es aus zwei Gründen - die heute nicht mehr so offensichtlich sind - möglich war, Politik zu gestalten: Die Partei war links UND sie hatte stets gute Chancen, die Regierung zu stellen und so das Leben der Menschen zu verbessern. Aus all den weiter oben genannten Gründen hat jedoch niemand mehr eine klare Vorstellung davon, wofür die Partei steht. Diese Uneindeutigkeit, gepaart mit den Geschehnissen der letzten fünf Jahre, macht es der Partei unmöglich, sich als Alternative zu Macrons Politik zu präsentieren. Die aktuellen Umfragewerte, die Wahlergebnisse der letzten Zeit und die Isolation der Partei innerhalb der Linken entkräften auch den zweiten Grund, aus dem es sich mal gelohnt hat, Kraft und Aufwand in die Sozialistische Partei zu stecken. Beim nächsten Parteitag können wir versuchen, eine Wende einzuleiten. Aber selbst wenn uns das gelingt: Es wird nicht reichen.

Viele von uns fühlen sich mit der Geschichte und dem Erbe der Partei eng verbunden und würden es deshalb nicht in Erwägung ziehen, sich anderswo zu engagieren. Hinter dieser Haltung steckt auch die Tatsache, dass es mehr Sicherheit gibt, Teil von einer Organisation zu sein, die etwas bedeutet - auch wenn dieses "etwas" immer weiter zusammenschrumpft -, als zu versuchen, etwas komplett Neues aufzubauen, ohne jede Gewähr, dass es funktioniert. Aber die Geschichte lehrt uns, dass kein politischer Erfolg zustande kommt, ohne dass Menschen Risiken eingehen. Das Wesen der Politik ist unsicher. Vielleicht ist es unsere Generation, die diese Unsicherheit als Chance begreifen sollte.


Die Linke braucht eine gemeinsame europäische Strategie und Organisation

Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die enge Verzahnung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systeme in Europa impliziert, dass wir eine gemeinsame europäische Strategie brauchen, um die Linke zu organisieren. Keine nationale linke Alternative kann alleine bestehen. Alle entstehenden alternativen Kräfte teilen dieselbe Analyse der Situation: Wir brauchen eine massive Umverteilung des Reichtums sowie einen grünen und demokratischen Wandel. In Spanien haben die PSOE und Podemos Gespräche aufgenommen, da beide realisiert haben, dass sie alleine keine Wahl gewinnen können und keine von beiden Interesse daran hat, Spanien den Konservativen zu überlassen. In Portugal wird die sozialistische Regierung - auf Basis einer Grundsatzvereinbarung - von den Kommunisten und der radikalen Linken gestützt. In Griechenland ist Syriza trotz extrem schwieriger Umstände immer noch an der Macht. In Großbritannien hat die LabourPartei einen scharfen Schwenk nach links vollzogen. In Frankreich haben, wie bereits beschrieben, die Grünen, die Kommunisten und Teile der Sozialistischen Partei erkannt, dass sie zusammenarbeiten müssen - hoffentlich bald auch mit "La France Insoumise". In Osteuropa entstehen kleine alternative linke Kräfte und brauchen Unterstützung. In Italien besteht zweifelsohne Raum für eine linke Kraft, die Teile der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD) in sich aufnehmen kann sowie die Enttäuschten, die die Partei in den letzten Jahren verlassen haben. In Deutschland spricht sich ein signifikanter Teil der SPD für eine rot-rot-grüne Koalition aus. Im Europäischen Parlament kommen Abgeordnete der sozialistischen, grünen und GUE(6)-Fraktion regelmäßig zusammen, um sich über ihre derzeitige und zukünftige Kooperation auszutauschen.

Wir müssen uns eine lose, aber kontinuierliche und solidarische Organisation auf der europäischen Ebene vorstellen, die verschiedene Formen und Alternativen der Kooperation und gegenseitigen Unterstützung ermöglicht. Sie würde keine bestehenden Strukturen ersetzen, aber der Linken die Möglichkeit geben, ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln und mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen, in Opposition zu den Entscheidungen der konservativen Mehrheit in Europa. Wichtiger noch: Das wäre die Gelegenheit, eine Dynamik auf der europäischen Ebene zu entfachen und gemeinsame Grundlagen für potenzielle zukünftige Regierungen zu schaffen, um endlich ein anderes, ein demokratisches und soziales Europa aufzubauen.

Wenn wir nicht zu einer bedeutungslosen Mitte-Links-Kraft werden wollen, sondern dazu beitragen möchten, eine Alternative zum derzeitigen System zu schaffen, muss alles auf den Tisch. Wir müssen unsere zentrale Botschaft eindeutig definieren, um eine Verbindung zur Bevölkerung herzustellen, um uns in soziale Kämpfe einzumischen, und unermüdlich an einem Kompromiss mit anderen linken Kräften zu arbeiten. Nur so können wir zu alter Stärke zurückfinden.


Anmerkungen:

(1) Laura Slimani ist Mitglied im Rat der Stadt Rouen, Frankreich. Sie war von 2015 bis 2017 Vorsitzende der Young European Socialists (YES) und von 2013 bis 2015 Vorsitzende der Jugendorganisation der französischen Sozialisten. Heute arbeitet sie in einer französischen NGO, die gegen soziale Ausgrenzung kämpft.

(2) damals noch ECOSY.

(3) Außerdem gab es keine Fortschritte für die Rechte von MigrantInnen, und infolge der Anschläge vom November 2015 wurden Freiheitsrechte eingeschränkt.

(4) École nationale d'administration (Nationale Hochschule für Verwaltung).

(5) Diese begann in den 1980er Jahren und beschleunigte sich in den 2000er Jahren.

(6) Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2017, Heft 221, Seite 18-23
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2017

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