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LAIRE/055: Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - cui bono? (SB)


EU-Kommissar bemängelt Verschwendung menschlicher Ressourcen

Jeder vierte EU-Arbeitnehmer leidet an Rückenbeschwerden


Zweifellos können Arbeitnehmer persönlich einen großen Nutzen daraus ziehen, wenn ihre Arbeitsumgebung so eingerichtet und ihre Arbeitsweise so ausgelegt ist, daß spezifische Überbelastungen einzelner Körperteile reduziert werden. Auf der anderen Seite ermöglicht allerdings ein funktionierender Arbeitnehmer ein höheres Maß an Ausbeutbarkeit ...

Am heutigen Dienstag hat die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) neun Preisträger des European Good Practice Award, die im Rahmen der Initiative "Pack's leichter an!" Konzepte zum vorbeugenden Schutz gegen Muskel- und Skeletterkrankungen erarbeitet hatten, bekanntgegeben. Bei dieser Gelegenheit wurde ein neuer Bericht mit den aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu diesem Problem vorgestellt.

In europäischen Betrieben herrscht unübersehbar ein extremer körperlicher Verschleiß, der vor allem auf repetitive Arbeiten zurückgeht. Dem Bericht zufolge leiden mehr als 25 Prozent aller Arbeitnehmer in der EU unter Rückenproblemen, mehr als 23 Prozent unter Muskelschmerzen. EU-Kommissar Vladimír Spidla sieht darin vor allem ein volkswirtschaftliches Problem:

"Muskel- und Skeletterkrankungen sind die häufigsten arbeitsbedingten Erkrankungen in Europa. Sie betreffen Millionen Arbeitnehmer und belasten die Volkswirtschaft mit Kosten in Höhe von bis zu 1,6 % des BIP. Europa kann sich diesen verschwenderischen Umgang mit seinen Ressourcen nicht länger leisten."
(http://ew2007.osha.europa.eu/goodpracticeawards/gp-winners)

Gesundheits- und Arbeitsschutz sind also nicht darauf ausgelegt, die Belastungen des einzelnen innerhalb der arbeitsteiligen Gesellschaft immer weiter zu minimieren, sondern die volkswirtschaftlichen Belastungen zu verringern. Wer wollte bezweifeln, daß dies ein signifikanter Unterschied ist?

Früher hatte einmal die Hoffnung bestanden, daß der technologische Fortschritt den Menschen zugutekommt. In Utopien wurden menschliche Gesellschaften entworfen, in denen die meiste Arbeit von Robotern erledigt wurde. Mögen solche Vorstellungen heute auch naiv anmuten, so hat die Automatisierung der Arbeitswelt durchaus Kräfte freigesetzt, die jedoch aufgrund der systemischen Bedingungen der auf Ausbeutungszuwachs zielenden Produktionsweisen nicht zum Wohle aller genutzt, sondern ausgegrenzt und vernichtet werden.

Die Menschheit befindet sich gegenwärtig in einer Phase, in der die Belastungen der Arbeitnehmer wieder laufend erhöht wird, gleichzeitig viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, und Arbeitslose geächtet werden. Politik und Wirtschaft erzwingen, daß die Wochenarbeitszeit verlängert wird, Samstagsarbeit zur Gewohnheit verkommt und das Rentenalter hinaufgesetzt wird. Zudem werden die Arbeitsabläufe laufend weiter verdichtet, nicht selten wird in Sekunden bemessen, wie lange ein Arbeiter oder Angestellter für seine Tätigkeit benötigt.

Bis 2010 will die Europäische Union zum führenden Wirtschaftsraum der Welt werden. Wenn nun die unverzichtbare bioorganische Komponente namens Mensch innerhalb der Produktionskette allzu sehr verschleißt - laut Spidla eine Verschwendung von Ressourcen -, sind Arbeitsmediziner gefragt, die Belastungen so umzuverteilen, daß der Mensch zeit seiner produktiven Ausbeutungsphase möglichst reibungslos funktioniert. (Anschließend würde ein frühes Abtreten des verbrauchten Arbeitnehmers die Renten- und Gesundheitssysteme entlasten.) Sollte es trotz arbeitsmedizinischer Expertisen weiterhin zu Leistungsausfällen kommen, hat der Arbeitnehmer selbst daran schuld, denn wie der EU-Kommissar als Resultat von "Pack's leichter an!" feststellte:

"Diese Kampagne hat dazu beigetragen, ein Bewusstsein für dieses große Problem zu schaffen, und die guten Lösungen werden uns von nun an helfen, Erkrankungen zu vermeiden."

Wenn aber doch Rücken- oder Muskelschmerzen auftreten, kann das jetzt nicht mehr an der Politik mit ihren "guten Lösungen" liegen, dann muß der Arbeitnehmer etwas falsch gemacht haben, wäre Spidlas Erklärung folgerichtig zu ergänzen. Wahlweise hätte der Arbeitnehmer nicht genügend Sport oder zu viel Sport getrieben, er hätte zu viele Vitamine zu sich genommen oder auch zu wenige, er hätte zu wenig geschlafen oder aber seine zur Regeneration freigehaltene Nicht-Arbeitszeit verschlafen, er hätte geraucht oder sich der pharmakologischen Vergiftung seines Körpers verweigert und was der Bezichtigungen mehr sind.

Die Ausbeutbarkeit und damit die Belastung des einzelnen hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht ab-, sondern zugenommen. Das kann schon nicht mehr als Kehrseite des technologischen Fortschritts, sondern sollte als dessen eigentliche Funktion angesehen werden.

26. Februar 2008