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DILJA/035: Europa gestalten, Armut verwalten ... (SB)


Hungern in der EU

Soziale Unruhen können militärisch niedergeschlagen werden



Die Einteilung der Staaten der Welt anhand der Grobkategorien sogenannter Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer scheint bis heute eine nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeit zu sein. Auch die Begriffe Erste, Zweite, Dritte oder Vierte Welt gelten als unumstößliche Parameter, so als ob sie treffsicher und zweifelsfrei die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten in der auf diese Weise hierarchisch gegliederten Weltordnung auch nur abzubilden in der Lage wären. Daß es sich bei den Staaten der "Ersten Welt" um die sich selbst gern auch als "internationale Staatengemeinschaft" titulierende Riege westlicher Länder handelt, die ein gemeinsames Interesse an der Aufrechterhaltung und Absicherung einer weltweiten Raubstruktur eint, die ihr eine wirtschaftlich wie militärisch uneinholbar anmutende Vormachtstellung ermöglicht, versteht sich von selbst, sagt jedoch noch nicht viel über die Lebensbedingungen ihrer eigenen Bevölkerungen aus.

Bereits im Jahr 2008 mußten in den USA, dem einzigen, heute noch als Supermacht geltenden Staat, knapp 50 Millionen Menschen, unter ihnen 16 Millionen Kinder, zeitweilig hungern, was laut einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums eine Zunahme gegenüber dem Vorjahr um drei Prozent darstellte. Allein in der Metropole New York verfügten nach Angaben einer ortsansässigen Hilfsorganisation (City Coalition Against Hunger) in den Jahren 2010 bis 2012 jedes fünfte Kind und jeder sechste Erwachsene nicht über genügend Lebensmittel. Verantwortlich für diese extreme Ausweitung sogenannter Dritte-Welt-Verhältnisse inmitten des Zentrums der westlichen Hemisphäre wurden die Kürzungen der für staatliche Sozialprogramme aufgewendeten Finanzmittel gemacht. Bis heute sind in den USA der amtlichen Statistik zufolge 146 Millionen Menschen, somit fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung, arm oder leben an der Armutsgrenze, was aufgrund der unzureichenden Sozialprogramme für Millionen von ihnen, insbesondere auch Kinder, bedeutet, daß sie hungern müssen.

Die USA sind jedoch keineswegs eine kritikwürdige Ausnahmeerscheinung einer im übrigen das Versprechen sozialer Absicherung einhaltenden westlichen kapitalistischen Staatenwelt. Innerhalb der Europäischen Union herrscht, was dieses Thema betrifft, eine so massive Ignoranz vor, daß eine systematische Ausblendung dieser sozialen Realität oder vielmehr Dauerkatastrophe, über die zu berichten bestenfalls den einschlägigen Hilfsorganisationen vorbehalten bleibt, zu vermuten steht. Deren Warnungen, Mahnungen und dringende Appelle verhallen in Politik, Öffentlichkeit und Medien so weitgehend ungehört und unkommentiert, daß ein übereinstimmendes Interesse, die Bevölkerungen der EU-Staaten über das Ausmaß dieser Misere im Unklaren zu belassen, angenommen werden kann. Diese Zurückhaltung ist aus Sicht der nationalen Regierungen und mehr noch der Brüsseler EU-Administration umso begründeter, da zwischen dem 22. und 25. Mai dieses Jahres mit den Wahlen zum Europäischen Parlament, dem einzigen EU-Organ, das alle fünf Jahre direkt gewählt wird, eine der wenigen Möglichkeiten für die Bevölkerungen der EU-Staaten besteht, ihrer Unzufriedenheit per Urnengang Ausdruck zu verleihen.

Wer annehmen würde, daß in den westlichen Ländern relativen Wohlstands, als welche neben den USA die EU-Staaten sowie Japan gelten, die Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner mit Nahrungsmitteln gewährleistet sein müßte, so daß kein Mensch hungern würde, wäre gut beraten, sich mit den Lebensbedingungen zu konfrontieren, denen in Europa - und zwar keineswegs nur in den als Krisenländern geltenden Staaten - heute schon Millionen Menschen ausgesetzt sind. In Großbritannien beispielsweise schlug das Rote Kreuz im vergangenen Herbst Alarm. Da immer mehr Menschen auf die Hilfe Dritter zum Überleben angewiesen sind, hatte das Rote Kreuz, wie der "Independent" berichtete, für diesen Winter zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg beschlossen, im eigenen Land Lebensmittel zu sammeln und zu verteilen. [1]

Das Problem scheint insgesamt bereits sehr viel größer und weiter verbreitet zu sein, als gemeinhin angenommen wird. Einem am 10. Oktober 2013 in Rom veröffentlichten Report der Internationalen Föderation von Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) zufolge ist die Zahl der Menschen in Europa, die von in ihren Ländern tätigen Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln versorgt werden müssen, innerhalb von drei Jahren um 75 Prozent gestiegen. Datenerhebungen von 42 Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften aus den Jahren 2009 bis 2012 hatten ergeben, daß in 22 europäischen Ländern die Zahl der von Hilfsorganisationen mit Nahrungsmitteln versorgten Menschen von zwei auf dreieinhalb Millionen Menschen angestiegen ist. Insgesamt betrage die Zahl der Menschen, die sich nicht genug Lebensmittel leisten können und deshalb auf Suppenküchen und Spenden angewiesen sind, 43 Millionen. Das Rote Kreuz spricht von der "schlimmsten humanitären Krise seit sechs Jahrzehnten" [2] auf dem europäischen Kontinent.

Bekele Geleta, Generalsekretär des IFRC, machte deutlich, was von offiziellen Stellen in der EU erst recht nicht gern gehört werden wird, nämlich daß, so die Auffassung der Hilfsorganisationen, vor allem der drastische Sparkurs vieler Staaten für den Notstand verantwortlich zu machen ist. Der Trend zu Hunger und Armut sei in ganz Europa zu spüren und keineswegs nur in den als Krisenländern geltenden Staaten, so der IFCR-Generalsekretär. "Wir verstehen zwar, dass die Regierungen sparen müssen, aber wir raten dringend von willkürlichen Einschnitten in die Gesundheits- und Sozialsysteme ab", erklärte Geleta. [1] An dieser Schnittstelle offenbart sich die Janusköpfigkeit solcher Organisationen, die im ersten Schritt dem nicht ohne Grund mit einem Tabu behafteten Massenhunger in der EU aufklärerisch entgegentreten und keineswegs verschweigen, daß der massive Abbau sozialer wie gesundheitlicher Sicherungssysteme als mitursächlich anzusehen ist, um dann im zweiten Schritt Appelle an die politisch Verantwortlichen zu richten, so als wüßten diese nicht, was sie tun.

In besagter Rotkreuz-Studie wird davor gewarnt, daß Europas Reaktion auf die Wirtschaftskrise den Kontinent in den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg führen werde. Die Direktorin der Europäischen Zone der IFRC, Annita Underlin, erklärte in einem Interview, daß die langfristigen Folgen der Sparpolitik selbst dann, wenn sich die Wirtschaft erholen würde, bestehen blieben. Zu diesen Folgen gehöre, daß die Armen immer ärmer und immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen, was in vielen Staaten längst auch für mittlere Einkommensschichten gelte. Underlin zufolge könnten der sinkende Lebensstandard in Europa und die anwachsende persönliche Unsicherheit zu sozialen Unruhen und Extremismus führen. Auf die Frage, wann in dieser Entwicklung "ein Punkt ohne Wiederkehr erreicht sei", erklärte die Direktorin [3]:

Wir glauben, dass noch Zeit ist, wenn wir uns jetzt die Hände reichen und die Regierungen verstehen, wie ernst die Situation ist. Wir sehen zwei Kategorien von Menschen: Zum Einen sind da die Menschen, die wir die "stillen Verzweifelten" nennen. Sie sitzen zuhause und schämen sich, dass sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Ein Teil dieser Gruppe taucht in den steigenden Selbstmordraten auf, die wir beobachten. Eine andere Gruppe, hauptsächlich junge Leute, geht auf die Straße, um sich Gehör zu verschaffen. Wenn 60 Prozent der jungen Leute weder in einer schulischen Ausbildung sind, noch einen Arbeitsplatz haben, ist es klar, dass auch diese Gruppe verzweifelt ist. Deswegen möchten wir die Regierungen dazu bewegen, ernsthafte Maßnahmen einzuleiten. Sonst bekommen wir die langfristigen Auswirkungen zu spüren.

Den neuen EU-Mitgliedstaaten Osteuropas konnte das neoliberale Korsett sozialer Kürzungen und wirtschaftlicher Liberalisierungen im Interesse der Unternehmen und Investoren schon mit dem EU-Beitritt verordnet werden, so daß hier noch früher erkennbar wurde, welche Realität sozialer Verelendung damit nicht etwa nur in Kauf genommen, sondern bezweckt wurde. Der österreichische Historiker Hannes Hofbauer hatte bereits in seinem 2003 erschienenen Buch "Osterweiterung - Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration" die sozialen Folgen des EU-Beitritts dieser Länder und das Beispiel einer Hungerrevolte verzweifelter slowakischer Roma angesichts des neoliberalen Sparprogramms der damaligen Regierung geschildert und einen Gewerkschaftsführer mit den Worten zitiert: "Wir sind Opfer des Dritten Weltkrieges, der ein ökonomischer Krieg ist." [4]

Die politisch Verantwortlichen in den Institutionen der EU sowie den Regierungen ihrer führenden Mitgliedstaaten scheinen sich der aus ihrer Sicht als Gefahr zu bewertenden, keineswegs unwahrscheinlichen Möglichkeit weiterer und womöglich flächendeckender Hunger- und Armutsrevolten sehr wohl bewußt zu sein. In den Lissabon-Vertrag wurde die politisch bis heute umstrittene sogenannte Solidaritätsklausel aufgenommen, mit der sich die EU keineswegs, wie vielleicht vermutet werden könnte, zur Solidarität mit hungernden und von Armut betroffenen EU-Bürgerinnen und -Bürgern verpflichtet. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein, enthält doch der in dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" vom 1. Dezember 2009 in dem dem auswärtigen Handeln der Union gewidmeten fünften Teil mit Art. 222 die genannte Klausel, die unter bestimmten oder vielmehr recht unbestimmten Voraussetzungen ein militärisches Eingreifen der EU innerhalb der Union ermöglicht.

Die Solidaritätsklausel eröffnet eine rechtliche Handhabe für die auch militärische Bekämpfung von Hungerprotesten und -revolten, nicht jedoch für die Inangriffnahme des zugrundeliegenden Problems. In Art. 222 heißt es unter anderem, daß die EU im Falle einer "vom Menschen verursachten Katastrophe" [5] alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einschließlich der militärischen mobilisiert, wenn die politischen Organe des von der Katastrophe betroffenen Mitgliedstaats darum ersuchen. Das renommierte "Swedish Institute of International Affairs" ist zu dem Ergebnis gelangt, daß unter einer von Menschen gemachten Katastrophe selbstverständlich auch soziale Unruhen verstanden werden können. Henri Bentégeat vom EU-Militärstab begrüßte die Solidaritätsklausel wegen der daraus erwachsenen Möglichkeit, daß "im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats militärische Mittel eingesetzt werden können" und erklärte im Mai 2011: "Wir müssen sehr bald spezielle Überlegungen über die Umsetzung der Solidaritätsklausel anstellen." [6]

Unterdessen wurde im britischen "Economist" Anfang dieses Jahres eine in vielen, auch europäischen Ländern steigende Wahrscheinlichkeit sozialer Unruhen öffentlich propagiert. Dies betreffe reiche wie arme Staaten und umfasse die Anti-Austeritätsbewegung wie auch mögliche Revolten der Mittelklasse. Spanien beispielsweise, so wußte die Zeitung zu berichten, weise wegen seiner wirtschaftlichen Not ein hohes Risiko für soziale Unruhen auf. Wie Laza Kekic von der Economist Intelligence Unit (EIU) dazu ausführte, führe jedoch wirtschaftliche Not allein, etwa eine hohe Arbeitslosigkeit und geringe Einkünfte, noch nicht zum Ausbruch von Unruhen. Von besonderer Bedeutung bei ihrem Entstehen sei die Erosion des Vertrauens in Regierungen und Institutionen, sprich eine Krise der Demokratie. [7]

Als vertrauensbildende Maßnahmen, die seitens der EU wie auch der nationalen Regierungen angesichts dessen ergriffen werden könnten, wären beispielsweise eine rückhaltlose Aufklärung über Hunger und Armut in Europa sowie eine selbstverständlich auch öffentlich geführte Diskussion und Infragestellung der von vielen Organisationen als problemverschärfend kritisierten Sparpolitik denkbar. Sollte eine "Krise der Demokratie" drohen oder bereits bestehen, läge es im Handlungspektrum der EU-Institutionen, besagtes Vertrauen zurückzugewinnen, indem sie ihre an neoliberalen Vorstellungen ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik insgesamt zur Disposition stellten und diese Frage mit dem aktuellen Wahlkampf verknüpften, um auf diesem Wege ein gewisses Votum der Wählerinnen und Wähler in diesen Kernfragen europäischer Politik zu erlangen.

Selbstverständlich würde dies wegen der ohnehin strapazierten Glaubwürdigkeit die Bereitschaft voraussetzen, im Falle einer mehrheitlich gewünschten Abkehr vom neoliberalen Spardiktat diesbezüglich eine grundlegende Änderung der so mühsam durchgesetzten EU-Verträge vorzunehmen. Dem "Vertrauen in Regierungen und Institutionen" ist zudem eine Solidaritätsklausel abträglich, die die Bevölkerungen der EU-Staaten vermuten lassen muß, daß Hunger und Armut von der Brüsseler Administration in erster Linie als potentielle Sicherheitsprobleme begriffen werden mit der Option, den Mangel zu verwalten, die Hungernden unter Kontrolle zu halten und überall dort, wo dies nicht gelingt, ihre Proteste auch mit den militärischen Mitteln der gesamten Union niederzuschlagen.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/rotes-kreuz-in-grossbritannien-verteilt-lebensmittel-a-927283.html#ref=rss

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/rotes-kreuz-43-millionen-europaeer-koennen-sich-kein-essen-leisten-a-927251.html

[3] http://www.dw.de/underlin-43-millionen-europäer-hungern/a-17153032

[4] Kapitalexpansion. Hannes Hofbauer zieht eine düstere Bilanz der EU-Osterweiterung.
Von Ramona Sinclair, junge Welt, 19.05.2008, S. 15

[5] http://dejure.org/gesetze/AEUV/222.html

[6] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Innere-Sicherheit/eu.html

[7] http://www.economist.com/news/21589143-where-protest-likeliest-break-out-ripe-rebellion


21. Februar 2014