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INTERVIEW/092: Linke Buchtage Berlin - Befangenheit und Verzicht ...    Andreas Hechler im Gespräch (SB)


Andreas Hechler macht Bildungsarbeit zu verschiedenen Themen und publiziert unter anderem zu den Themen NS-"Euthanasie", Intergeschlechtlichkeit und extreme Rechte. Auf den Linken Buchtagen in Berlin-Kreuzberg wurde am 1. Juni 2018 das Buch Sisters in Arms. Militanter Feminismus in Westdeutschland seit 1968 von der Autorin Katharina Karcher vorgestellt. In der anschließenden Diskussion erinnerte Hechler daran, daß die dabei im Mittelpunkt stehende militante Frauengruppe Rote Zora nicht nur für internationale Frauensolidarität eingetreten ist, wie am Beispiel der Unterstützung streikender Arbeiterinnen in der südkoreanischen Niederlassung eines deutschen Textilunternehmens ausgeführt. Kritik und Aktionen der Roten Zora entzündeten sich auch und insbesondere an Institutionen und Unternehmen, die im Bereich der Gen- und Reproduktionstechnologien frauen- und behindertenfeindliche Formen sozialeugenischer Bevölkerungspolitik vorantrieben.

Der Schattenblick nutzte die Gelegenheit, anschließend mit Andreas Hechler ein Gespräch über die Brüche und Diskontinuitäten einer linken Wissenschafts- und Medizinkritik zu führen, die einst den frauen-, behinderten- und menschenfeindlichen Impetus humangenetischer und reproduktionsmedizinischer Interventionen offenlegte.


Schattenblick (SB): Wie erklärst du dir, dass die Kritik an der Biomedizin und den sogenannten Lebenswissenschaften, soweit sie Krankheit und Gesundheit des Menschen betreffen, heute in der Linken fast unsichtbar geworden ist?

Andreas Hechler (AH): Das finde ich auch eine spannende Frage, die zugleich sehr groß ist. Vermutlich gibt es keine einfache Erklärung dafür. Im Folgenden mein verkürzter Versuch. Es gibt Gründe jenseits linker Bewegungen und -Diskussionen, die einen erheblichen gesamtgesellschaftlichen Einfluss haben. Generell sind gesellschaftliche Normierungsprozesse weiter fortgeschritten und die Biomacht - mit Foucault gesprochen - ist noch umfassender geworden. Krankenkassen übernehmen die Kosten für pränataldiagnostische Routineuntersuchungen und im Grunde genommen nutzt jeder schwangere Mensch ein gewisses Spektrum pränataldiagnostischer Angebote. Es wird einer_m auch aufgedrückt, wie ich immer wieder höre, und dadurch ist das so normalisiert, dass die Kritik vor größeren Schwierigkeiten steht. Dazu kommt, dass Testverfahren wie der neue pränataldiagnostische Bluttest weniger invasiv und deutlich billiger geworden sind; es wird gerade diskutiert, ob die Tests eine Leistung der Krankenkassen werden sollen.

Dazu ein Vergleich zur Nutzung von Technik: In den 80er, 90er Jahren hat es auch sehr viel linke Kritik an der Computerisierung gegeben, was heute kaum noch vorstellbar erscheint. So normal und alltäglich die Nutzung von Computern geworden ist, scheint Kritik daran kaum mehr möglich und individuell nicht mehr auszuhalten zu sein. Die massenhafte Nutzung dieser Techniken ist viel leichter und normalisierter geworden, und das bereitet eben auch einer grundsätzlichen Kritik an ihnen mehr Schwierigkeiten. Das soll nicht technikstürmerisch klingen - dass es Technik gibt ist positiv. Mir geht es in erster Linie um die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich bestimmte Techniken entwickeln (oder eben auch nicht), wo Gelder hinfließen, welche Ziele verfolgt werden und wo was für wen eingesetzt wird.

Diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen haben aber auch Rückwirkungen auf linke Entwicklungen und Diskussionen. So haben u.a. queere Kontexte und ihre Bezüge zur Reproduktionsmedizin eine Rolle für innerfeministische Diskussionen gespielt. Viele Feministinnen haben in den 80er- und 90er-Jahren Gen- und Reproduktionstechnologien radikal kritisiert und bekämpft. Das wurde später abgelöst von lesbischen, später auch schwulen Familienkonstellationen, die Wünsche an die Reproduktionsmedizin formuliert haben und diese in Anspruch nahmen/nehmen, was eine eindeutige Positionsfindung innerhalb feministischer Kontexte erschwert (hat) und eine radikale Ablehnung weitestgehend verunmöglicht.

Eine weitere Entwicklung, die ebenfalls feministische Diskurse und Praxis diesbezüglich verändert hat, war das Aufkommen von Trans*bewegungen in den letzten Jahrzehnten. Zugespitzt formuliert: Die Rote Zora hat die Firmen angegriffen, die die Hormone produzieren, die (einige) Trans*menschen heute für sich einfordern. Das Interessante ist, dass beides im Namen von Emanzipation und Selbstbestimmung geschieht. Dieser Vergleich haut allerdings auf mehreren Ebenen nicht hin, weil es zum einen historisch versetzt ist und nacheinander kommt, zum zweiten weil auch Trans*-Organisationen deutliche Kritiken am medizinischen Komplex formulieren und bestimmt keine Fans von Bayer und Schering sind und zum dritten weil beispielsweise die Hormone in der Pille für Cisfrauen [1] ganz andere sind als die in Reinpräparaten für Trans*menschen. Und all das lässt sich eben nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sehen, beispielsweise einer allgemeinen größeren Techniknutzung.

Es gibt sicherlich weitere Gründe, aber die beschriebenen Entwicklungen haben vermutlich mit dazu beigetragen, dass es eine Verschiebung in der Themenwahl gegeben hat und eine feministische Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologien marginaler geworden ist. Wer heute feministisch sozialisiert wird, kennt viele feministisch-medizinkritische Positionen in aller Regel nicht mehr. Ich habe den Eindruck, dass bei Menschen Mitte 30 und jünger dieses Wissen nicht mehr oder nur rudimentär vorhanden ist, gerade auch die ganzen Probleme, die es nach wie vor mit der Reproduktionsmedizin und der ihr inhärenten Sexismen gibt. In den 80er und 90er Jahren war das eines der zentralen Themen innerhalb von Frauen- und feministischen Bewegungen, so zum Beispiel bei FINRRAGE (Feminist International Network of Resistance to Reproductive and Genetic Engineering) auf internationaler Ebene oder dem Gen-ethischen Netzwerk im deutschen Kontext, das ja auch einmal viel größer war. Das sind neben BioSkop und dem Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik die letzten mir bekannten Überbleibsel, die es heute noch gibt und wo eine emanzipatorische Kritik an PND (Pränataldiagnostik) und PID (Präimplantationsdiagnostik) geübt wird. Schlussendlich war die autonome Krüppel_innen-Bewegung in den 80er- und 90er-Jahren in (West-)Deutschland deutlich präsenter als heute, und deren Impulse hatten einen gewissen Einfluss auf linke und feministische Kontexte.

SB: Die Linke hat früher aus vielen guten Gründen Medizinkritik geübt. Unter anderem ging es gegen Medizin als eine Form patriarchaler Verfügungsgewalt, gegen den technischen Zugriff auf den weiblichen Körper, gegen die Normierungsgewalt der Medizin bis hin zur Bezichtigung von Menschen, an ihrer körperlichen Misere selbst schuld zu sein, anstatt auf deren soziale und gesellschaftliche Gründe abzuheben.

AH: Das kann ich nur unterschreiben. Ich würde für mich auch sagen, ein Teil meiner Politisierung ist Medizinkritik, allerdings habe ich immer den Eindruck, das erklären zu müssen, weil viele gar nicht mehr wissen, dass das überhaupt ein Thema sein könnte. Ich habe mehrere Zugänge dazu. So wurde meine Urgroßmutter im Rahmen des T4-Programms umgebracht, das spielt familiär bei mir eine große Rolle. Ich bin damit groß geworden, dass jemand in meiner Familie von den Nazis, aber eben auch von Ärzten - ich verwende absichtlich die männliche Form - umgebracht wurde. Ich würde rückblickend sagen, das ist - damals unbewusst, heute bewusst - ein zentrales Thema für meine Politisierung.

Ein anderes Thema, mit dem ich mich viel und auch schon lange beschäftige, ist das Thema Intergeschlechtlichkeit. Intergeschlechtlichkeit hat auf vielen Ebenen mit einer aufgezwungenen Form von Medizin zu tun. Historisch hat sich die Medizin das Thema angeeignet, und diesen Kampf hat sie gewonnen. Im Grunde genommen müsste es darum gehen, das Thema der Medizin zu entreißen: Intergeschlechtlichkeit ist nicht primär ein medizinisches Thema und fällt von daher außerhalb ihres Kompetenzbereichs. Es geht bei Intergeschlechtlichkeit um ganz andere gesellschaftliche Fragen; im Kern geht es um geschlechtliche Selbstbestimmung. Von daher muss es darum gehen, ganz real Ärzt_innen und Mediziner_innen diesbezüglich zu entmachten. Das verbindende Glied zwischen beiden Themen - NS-'Euthanasie' und Ableismus/Behindertenfeindlichkeit auf der einen Seite, Intergeschlechtlichkeit und medizinische Gewalt auf der anderen Seite - ist für mich Medizinkritik. Und von der Medizinkritik her kommend gibt es gerade beim Thema Intergeschlechtlichkeit eine häufige Leerstelle, wenn das Thema überhaupt mal verhandelt wird, was selten genug passiert.

Fast nirgendwo wird thematisiert, dass mit Hilfe pränataldiagnostischer Praxis intergeschlechtliche Föten abgetrieben werden, insbesondere solche, die chromosomal nicht XX oder XY sind (sondern z.B. XYY oder XXX). Im Rahmen meiner Bildungsarbeit frage ich gerne, wenn ich über das Thema rede: "Sagt mir ganz spontan eure Assoziation: Abtreibung aufgrund von Geschlecht, wo findet das statt?" Dann sagen alle "Indien", manchmal auch "China". Das Problem wird immer ausgelagert, maßgeblich durch mediale Diskurse. Wenn ich es zugespitzt formuliere, handelt es sich neben dem, dass es real stattfindet und das ein Problem ist, auch um eine rassistische Projektion. Aber Abtreibung aufgrund von Geschlecht findet auch vor der eigenen Haustür statt; in Deutschland werden Föten abgetrieben, weil sie intergeschlechtlich sind. Nein, Korrektur: Nicht weil sie intergeschlechtlich sind, sondern weil es Interdiskriminierung gibt, das ist der eigentliche Grund!

SB: Dieser Konflikt betrifft auch das Selbstbestimmungsrecht von Frauen. Angenommen, eine Frau wollte eine Abtreibung vollziehen, weil sie ihrem Kind die gesellschaftlichen Probleme ersparen möchte, die damit einhergehen, behindert zu werden oder mit nicht eindeutig bestimmbarem Geschlecht auf die Welt zu kommen. Hältst du das für akzeptabel?

AH: Ich halte den "Grund", einem Kind mögliche Probleme ersparen zu wollen, für eine Verkehrung des realen Vorgangs: Ein Kind gar nicht erst auf die Welt kommen zu lassen, verlagert die Diskriminierung zeitlich nach vorne. Der Präventivgedanke entpuppt sich hier de facto als verschärfte Normierung und sieht von der eigentlichen Motivation ab, nämlich beispielsweise Befürchtungen der werdenden Eltern, die auf das werdende Kind projiziert werden. Ich habe allerdings immer ein Problem damit, das individualisiert zu diskutieren und einer schwangeren Person einen Vorwurf zu machen. Gesellschaftlich muss es möglich sein - das berührt das Thema Ableismus - als beeinträchtigter Mensch ein gutes Leben leben zu können. Das ist ja ganz real zurzeit ein Problem, weil Familien, und oft sind es die Frauen* in den Familien, viel zu wenig Unterstützung erhalten. Deswegen finde ich es falsch, einer individuellen Person oder einem Paar einen Vorwurf zu machen. Ich möchte diese Fragen eher gesellschaftlich im Kontext von Normierung diskutieren. Im Übrigen: Jedes Geschlecht ist eindeutig! "Nicht eindeutige" Geschlechter kann es nur im Rahmen einer zweigeschlechtlichen Logik geben.

SB: Im Gesetzesentwurf des Bundesinnenministers Seehofer zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Intergeschlechtlichkeit und der dadurch aufgehobenen Verpflichtung, sich im Personenstandsregister als entweder "männlich" oder "weiblich" einzutragen, ist ein ärztliches Attest, mithin eine medizinische Untersuchung, vorgesehen, um diesen Liberalisierungsschritt überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Könntest du diesen gesetzgeberischen Schritt einmal kommentieren?

AH: Ja, ich mache es über einen kurzen Umweg. Ich arbeite auch zum Thema extreme Rechte. Wenn man sich die Texte der extremen Rechten durchliest, etwa des europaweiten klandestinen Netzwerks "Agenda Europe", das sich primär aus klerikalfaschistischen Organisationen und Einzelpersonen rekrutiert, können wir in deren programmatischen Manifest "Restoring the Natural Order" eine interessante Theoretisierung von Inter* vs. Trans* feststellen. Sie schreiben, dass intersexuelle Menschen bedauernswerte Individuen seien, die zwar keine Rechte haben sollen, aber irgendwie einen Ort in der Gesellschaft erhalten sollen. Diese Ausführung ist eine dreiviertel Seite lang. Danach folgen drei Seiten zum Thema trans, in denen ausgeführt wird, dass Transgender das "trojanische Pferd" (sic!) seien, mit dem "die Gender-Ideologie" verbreitet würde.

Von dieser Verschwörungsideologie, die wie all diese Fantasmen in der extremen Rechten immer am prononciertesten vertreten wird, ist das Innenministerium in dieser Frage meiner Ansicht nach nicht weit entfernt. Sie formulieren es anders, aber verfügen im Grunde genommen über ein ähnliches Mindset: Zweigeschlechtlichkeit wird an die Biologie gekoppelt, traditionelles Rollenverhalten wird essenzialisiert und jede drohende Grenzverwischung zur Zweigeschlechtlichkeit wird mit allen Mitteln abgewehrt. Das Ergebnis ist eine cisnormative [2] Politik, die sich in erster Linie gegen transgeschlechtliche Menschen richtet und in zweiter Linie gegen alle anderen Menschen, die den Normvorgaben "richtiger Zweigeschlechtlichkeit" nicht entsprechen wollen oder können. Zugleich ist es eine Politik, die einer ganz bestimmten Gruppe von intergeschlechtlichen Menschen das Recht gewährt, sich außerhalb der binären Logik männlich-weiblich rechtlich registrieren zu lassen, wenn sie sich der Medizin und ihren Logiken unterwirft. Dies stärkt, wie weiter oben bereits ausgeführt, die Macht der Medizin mit ihrer Diagnose- und Normierungsmacht, also einer Instanz, die sich zur Hüterin der Zweigeschlechtlichkeit aufzwingt und diese brachial durchsetzt. Der Zwang zu medizinischen Gutachten steht geschlechtlicher Selbstbestimmung diametral entgegen und geht nicht nur komplett an den Bedürfnissen transgeschlechtlicher Menschen vorbei, sondern führt auch bei Inter*-Organisationen zu Entsetzen, weil hier nicht nur das Verhältnis zu Medizin und Diagnosen ein spannungsreiches ist, sondern auch das zur Zweigeschlechtlichkeit und deren totalitärer Durchsetzung.

Dazu kommt, und das kann man nicht oft genug betonen: Die Kernforderung von Inter*-Organisationen ist das Selbstbestimmungsrecht von intergeschlechtlichen Menschen und unmittelbar daraus abgeleitet ein Verbot von geschlechtsverändernden kosmetischen Eingriffen bei nicht-einwilligungsfähigen Kindern und Jugendlichen. Die bisherige Diskussion um das sogenannte "Dritte Geschlecht" verfehlt häufig diesen aus Inter*-Sicht absolut zentralen Aspekt. Zu all dem kommt, dass die Pathologisierung von Inter* auf internationaler Ebene fröhliche Urständ feiert, wie gerade am von der WHO veröffentlichten ICD (International Classification of Diseases) 11 ablesbar ist. Der Entwurf des Innenministeriums ist vor den genannten Hintergründen von daher aus meiner Sicht als Verbündeter von Inter*-Anliegen eine Kampfansage.

SB: Auch in der Debatte um aktive Sterbehilfe befinden sich auf der Seite der KritikerInnen hauptsächlich Menschen mit religiösem Hintergrund und kaum noch Linke. Das war früher einmal anders. Wie kommt es deiner Ansicht nach zu dieser Entwicklung?

AH: Historisch betrachtet waren die meisten Eugeniker_innen zwar konservativ oder noch weiter rechts, es hat aber auch eine ganze Reihe von sozialistisch eingestellten Eugeniker_innen gegeben, die den "Neuen Menschen" schaffen wollten. Das ist für die Linke von großer historischer Tragik. Die heutige Sterbehilfedebatte in der westlichen Welt wird vor allem von linksliberalen Kreisen mit dem Ziel der Liberalisierung vorangetrieben, und auch Teile des Feminismus, beispielsweise die EMMA mit ihrem Hypen von Euthanasie-Propagandist Peter Singer, haben ihr Scherflein dazu beigetragen. Gerade in den Niederlanden kann man sehen, worauf diese Entwicklung hinausläuft: Die ärztliche Sterbehilfe wird dort auf immer mehr Gruppen der Bevölkerung ausgeweitet. Der Hauptgrund, warum Leute dort sterben "wollen", ist Einsamkeit; es gibt häufig überhaupt keine medizinischen Gründe mehr. Medial aufbereitet wird das hingegen häufig mit sehr dramatisierten Stories über Menschen, die Schmerzen haben und sterben "wollen". Diese Stories sind völlig disparat von der realen Situation, das hat nicht viel miteinander zu tun. Die sogenannten "Lebensschützer" haben das Thema "Euthanasie" vor ein paar Jahren prominent aufgenommen, indem sie zugleich gegen Abtreibung und Sterbehilfe protestiert haben. Das war in meinen Augen ein extrem kluger Move. Ich finde es als jemand, dessen Urgroßmutter im Rahmen der NS-"Euthanasie" umgebracht wurde, eine absolute Frechheit, dass Rechte das Thema für ihre teilweise faschistische, mindestens aber wertkonservative Politik funktionalisieren. Ich bin auch gegen Sterbehilfe, und zwar weil ich für ein gutes Leben im Hier und Jetzt bin. Und dieses ist nicht mit, sondern nur gegen christliche Fundis zu haben!

Und zugleich - das ist die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Situation - bin ich dankbar, dass es überhaupt irgendwelche gesellschaftlichen Kräfte gibt, die gegen die Liberalisierung der Sterbehilfe vorgehen. Sie tun das richtige aus den falschen Gründen. Diese ganze Diskussion ließe sich auch noch mal anders führen, wenn gewährleistet wäre, dass Menschen ein gutes Leben haben können. Solange das aber nicht gewährleistet ist - weil: Kapitalismus, Ableismus etc. - wird es immer die Tendenz geben, die "Überflüssigen" entsorgen zu wollen. Ich habe derzeit wenig Hoffnung, dass sich in der Linken dazu etwas tut, und finde es zugleich aber dringend notwendig, dass sich Linke mit dem Thema Sterben und Tod beschäftigen. Ich würde mir eine Linke wünschen, die das Thema ganz zentral auf die Agenda setzt und eine kluge Position insbesondere um den Begriff der Selbstbestimmung entwickelt. Ich finde, man kann da viel von der Behindertenbewegung lernen, die Begriffe wie Co-Autonomie entwickelt hat und Selbstbestimmung als intersubjektiv hergestellt konzeptionalisiert hat. Das berührt im Übrigen auch die bereits oben angesprochene Abtreibungsfrage, wo mit dem Begriff der Selbstbestimmung über den schwangeren Körper ein Konflikt mit der Krüppel_innenbewegung auftritt, nämlich dann, wenn ganz "selbstbestimmt" und losgelöst von gesellschaftlichen Kontexten behindertes (oder intergeschlechtliches) Leben abgetrieben wird.

SB: Andreas, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Erwachsene Personen, denen bei ihrer Geburt ein weibliches Geschlecht zugewiesen wurde und die eine weibliche Geschlechtsidentität haben.

[2] Normative Struktur, die systematisch all die Menschen bevorteilt, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren = cis, und die Menschen benachteiligt und diskriminiert, die das nicht tun = trans*.


Berichte und Interviews zu den Linken Buchtagen im Schattenblick unter:
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