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INTERVIEW/087: 21. Linke Literaturmesse - Strafökonomie ...    Michael Schiffmann im Gespräch (SB)


Leonard Peltier - In den Fängen des US-Gefängnissystems

Interview am 5. November 2016 in Nürnberg


Der 1944 geborene Aktivist des American Indian Movement (AIM) Leonard Peltier wurde wegen Beihilfe zum Mord zweifach zu lebenslanger Haft verurteilt. 1975 war er im Auftrag des AIM wegen innerindianischer Konflikte in der Pine Ridge Reservation unterwegs. Dort kam es zur Ermordung zweier FBI-Agenten nach einer Schießerei mit einem weiteren Toten. Peltier wurde nach seiner Flucht nach Kanada in einem komplexen und umstrittenen Verfahren ausgeliefert und für schuldig befunden, verurteilt und inhaftiert. Die amerikanische Justiz hat den Schuldspruch mehrfach bestätigt. 2009 fand eine Anhörung der United States Parole Commission statt, wo eine Begnadigung abgelehnt wurde. Die nächste mögliche Anhörung zu einer vorzeitigen Freilassung ist für 2024 vorgesehen, das Haftentlassungsdatum für den 11. Oktober 2040.

Das AIM, Incomindios Schweiz und die Gesellschaft für bedrohte Völker sehen ihn als Prisoner of conscience bzw. politischen Häftling. Amnesty International teilt diese Einstufung nicht, sieht aber Zweifel am Verfahren wie auch politische Einflußfaktoren und hat sich wie andere Menschenrechtsorganisationen für seine Freilassung eingesetzt. Die derzeit laufende weltweite Kampagne zu einer Begnadigung des seit mehr als 40 Jahren inhaftierten Peltier durch den scheidenden Präsidenten Barack Obama ist seine wahrscheinlich letzte Chance auf Freiheit.

Im Rahmen der 21. Linken Literaturmesse stellte der Linguist und Anglist Dr. Michael Schiffmann sein aktuelles Buch "Ein Leben für die Freiheit. Leonard Peltier und der indianische Widerstand" [1] wie auch die Ergebnisse des Symposiums "Free Leonard Peltier!" [2] und die derzeit laufende Kampagne zur Freilassung vor. Im Anschluß an die Veranstaltung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Unterstützung politischer Gefangener, zum Wellenschlag dieser Bewegung in Deutschland und zum Gefängnissystem in den USA.


Mit T-Shirt 'Free Leonard Peltier' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Michael Schiffmann
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Was hat dich lebensgeschichtlich dazu bewogen, politische Gefangene in den USA zu einem Schwerpunkt deiner Forschung und deines Engagements zu machen?

Michael Schiffmann (MS): Ich bin 1999 selbst noch als Student an der Universität in einem Seminar über Bürgerrechte auf die Geschichte der Black Panther Party gestoßen, von der ich vorher schon etwas gehört hatte, aber nicht allzu viel wußte. Die Dozentin dachte zwar, ich wüßte alles darüber, aber das war nicht der Fall. Als ich das Thema dann im Seminar präsentiert habe, kristallisierte sich heraus, was ich vorhin in meinem Vortrag zum Buch über Leonard Peltier als "die dunkle Erbschaft" bezeichnet habe: Viele Leute, die damals an der Black Panther Party beteiligt waren, sitzen noch immer im Knast. Ein Beispiel von vielen ist Mutulu Shakur, der jetzt seit mehr als 35 Jahren in Haft gehalten wird, und dies unter schrecklichen Bedingungen. Einige Trakte liegen unterhalb der Erdoberfläche, so daß die Gefangenen nie das Tageslicht sehen. Ein anderer dieser Gefangenen, den ich vorhin nur am Rande erwähnt habe, ist Mumia Abu-Jamal. Kurze Zeit, nachdem ich meine Recherchen im Seminar vorgestellt hatte, wurde Mumias zweiter Hinrichtungsbefehl unterzeichnet. Daraufhin beschloß ich, etwas zu unternehmen. Die Jahre 1999 und 2000 waren zugleich für die erste Kampagne zur Begnadigung Leonard Peltiers sehr wichtig, weil sich die zweite Amtszeit von Präsident Clinton ihrem Ende näherte. Seit dieser Zeit habe ich auch den Fall von Leonard Peltier auf dem Schirm und mehr oder weniger parallel dazu eine Reihe weiterer Fälle, so gut ich konnte, weiterverfolgt. Deswegen hatte ich vor meinem aktuellen Buch schon eines über Mumia Abu-Jamal geschrieben. Und in meinem Hinterkopf geistert immer noch ein Buch über diese finstere Hinterlassenschaft herum, in dem ich die verschiedenen Fälle aufarbeiten möchte. Aber die prominentesten Fälle sind zweifellos die von Leonard Peltier und Mumia Abu-Jamal.

SB: Wie hast du die Entwicklung der Bewegung hier in Deutschland erlebt? Bei Mumia Abu-Jamal nahm sie ja die Gestalt einer Welle an, deren Berg ein tiefes Tal folgte. Woran lag das deiner Meinung nach?

MS: Ich glaube, daß die Bewegung in Deutschland ihren Höhepunkt vor sehr langer Zeit erreicht hat, nämlich 1995, als die Leute hier und in den USA wirklich in Panik gerieten, er könnte hingerichtet werden. Das wäre sowohl 1995 als auch 1999 rechtlich nicht so einfach möglich gewesen wie es die Unterstützer befürchtet haben. Rückblickend denke ich heute, daß die Situation damals nicht so gefährlich war, wie viele dachten. Andererseits muß man natürlich auch sagen, you never know. Denn es passiert oft auch umgekehrt, daß man denkt, das können die nicht machen, und dann machen sie es doch. Deswegen übe ich an der damals verbreiteten Einschätzung auch gar keine Kritik, zumal sie die Bewegung wirklich galvanisiert hat. 1995 habe ich das nur am Rand mitbekommen, aber 1999 und 2000 dann doch sehr stark. Ein wichtiger Effekt war meines Erachtens, daß das vielen Leuten die Augen geöffnet hat, was in diesem Justizapparat alles passieren kann, und daß man selber nicht sagen muß, das ist ja entsetzlich, ich habe jetzt Alpträume, sondern daß es möglich ist, etwas dagegen zu unternehmen. Bewegungen haben natürlich ihre Auf- und Abschwünge, das sieht man sowohl bei Leonard Peltier als auch Mumia Abu-Jamal. Zugleich sind das aber auch Beispiele für Bewegungen, die sich über mehrere Jahrzehnte gehalten haben, was für sich schon fast ein Wunder ist.

SB: Wie ist die Bewegung hier in Deutschland beschaffen und in sich strukturiert? Sind es eher interessierte Einzelpersonen oder vielmehr Gruppen, die dauerhaft zusammenarbeiten?

MS: Die Bewegung setzte sich vor allem in den USA geraume Zeit aus vielen verschieden Gruppen zusammen. Wie ich das in meinem Buch über Mumia zu skizzieren versucht habe, war sie am stärksten und erfolgreichsten, als sie wie ein bunter Mix daherkam. Das schloß die Bruderhof Community ein, aus der sogar sein geistlicher Beistand kam, der ihn unbeschränkt im Gefängnis besuchen durfte und somit seine Verbindung nach außen war. Mit dabei waren katholische Nonnen, die gegen die Todesstrafe demonstriert haben, doch ebenso irgendwelche maoistischen, trotzkistischen, stalinistischen und anarchistischen Organisationen, denen es gelungen ist, sich auf einer minimalen Plattform zu einigen. Meiner persönlichen Meinung nach war die beste Herangehensweise zu dieser Zeit, nicht zu sagen, Mumia ist unschuldig oder Freiheit für Mumia, sondern für einen neuen fairen Prozeß einzutreten, was er damals auch selbst gesagt hat. Er hat nicht mehr verlangt als das. Das bindet all diese Fälle zusammen, von denen ich gesprochen habe, Leute, die seit Jahrzehnten im Knast sitzen. Weil einige von ihnen aus dem bewaffneten Untergrund kommen, gehe ich realistischerweise von der Vermutung aus, daß manche von ihnen das gemacht haben, was ihnen vorgeworfen wird. Ihnen wurde jedoch verwehrt, was jedem Bürger nicht nur in den USA per Verfassung, sondern auf der ganzen Welt zusteht, sie hatten keinen fairen Prozeß. Sie sind, wie die Amerikaner sagen, geframed worden, es war gezinkt und wurde ihnen in die Schuhe geschoben. Bei ihnen kommt natürlich mittlerweile noch hinzu, daß meines Erachtens niemand 40 Jahre im Knast sitzen sollte.

SB: Man könnte also einen Grundkonsens der Humanität und Rechtsstaatlichkeit geltend machen, egal, welcher Auffassung man darüber hinaus ist?

MS: Ja, genau der Meinung bin ich in solchen Fällen.

SB: Welche Erfahrungen hast du mit Amnesty International gemacht? Hat sich das Verhalten dieser Organisation über die Jahre verändert?

MS: Amnesty International hat sich für Mumia teilweise sehr stark eingesetzt. Sie haben im Februar 2000 in den USA einen ausgezeichneten Bericht über ihn herausgebracht. Ich kenne den Verfasser und weiß, daß er sehr gewissenhaft recherchiert hat. Diesen Bericht verkaufen wir immer noch. Wir haben auch in Deutschland von Amnesty International viel Unterstützung bekommen, doch die Übersetzungen und Publikationen dieses Berichts mußten wir dann trotzdem selbst besorgen. Es ist eben mit so großen und teilweise bürokratischen Organisationen oft nicht einfach. Dennoch würde ich sagen, daß die Bilanz von Amnesty International gerade in diesen Fällen insgesamt sehr positiv ist. In den Fällen der Angola Three hat sich kaum jemand so sehr für die Gefangenen eingesetzt wie Amnesty, auch was Albert Woodfox betrifft, der zuletzt freigekommen ist. Als ich eines Tages von Heidelberg über Ludwigshafen nach Worms zur Arbeit gefahren bin, habe ich morgens, noch völlig verschlafen, auf dem Umsteigebahnhof als erstes ein 15 Quadratmeter großes Plakat mit der Aufschrift "Freiheit für Albert Woodfox" gesehen. Das ist natürlich genau das, was eine Menschenrechtsorganisation machen sollte.

SB: Finden bestimmte politische Gefangene eine breitere Akzeptanz als andere? Gibt es Berührungsängste bei der Unterstützung?

MS: Definitiv. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, was ihnen vorgeworfen wird und was sie vielleicht wirklich getan haben. Bei Mumia war die Konstellation so, daß es die Black Panther Party längst nicht mehr gab, als es zu dieser Konfrontation zwischen seinem Bruder und dem Polizisten kam, bei der letzterer gestorben ist. Wir sagen heute, daß man Mumia den Mord in die Schuhe geschoben hat, da gar keine direkte Verbindung zu einer militanten Bewegung bestand. Der Staatsanwalt hat im Prozeß auf verfassungswidrige Weise versucht, eine solche Verbindung zu konstruieren. In anderen Fällen geht es beispielsweise um eine Abspaltung von der Black Panther Party in Gestalt der Black Liberation Army. Diese Leute sind in den bewaffneten Untergrund gegangen, und Teil ihrer Strategie waren eben auch bewaffnete Angriffe auf Polizisten. Und Polizisten sind in diesem Zusammenhang gestorben. Es ist also klar, daß es irgendwer war. Vielleicht nicht die Leute, die angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, aber irgendwer war es. Denen gegenüber ist die gesellschaftliche Akzeptanz doch sehr gering - zu Unrecht, wie ich finde. Denn auch bei diesen Leuten ist sehr, sehr klar, daß sie vor Gericht nicht fair behandelt worden sind. Sie haben unabhängig von der Frage, ob sie das gewesen sind oder nicht, Strafen bekommen, die zur damaligen Zeit - heute vielleicht nicht mehr, wo die Strafen sowieso drakonisch sind - exorbitant waren. Teilweise hat bei Leuten, deren Strafe längst abgelaufen ist und sogar eine richterliche Anordnung vorlag, sie freizulassen, die Staatsanwaltschaft Widerspruch eingelegt. Einer jener Gefangenen, die meines Erachtens die Tat nicht verübt haben, für die sie verurteilt wurden, ist Veronza Bowers. Er hätte eigentlich im Jahr 2005 entlassen werden müssen, sitzt aber immer noch. Das ist grotesk und hat mit irgendeiner Form von Gerechtigkeit gar nichts zu tun.

SB: In welchem Maße ist es von Bedeutung, zu Veranstaltungen in Deutschland auch Betroffene im weitesten Sinne oder Anwälte aus den USA einzuladen, die davon berichten können?

MS: Ich finde das sehr wichtig. Wir haben kürzlich einen Kongreß zu Leonard Peltier veranstaltet, und die persönliche Erfahrung derjenigen, die das Ambiente, die entsprechende Behandlung und auch die Vergewaltigung ihres eigenen Lebensmilieus und ihrer Community am eigenen Leib kennen, ist durch nichts zu ersetzen. Obwohl es einen beträchtlichen ökologischen Footprint hinterläßt, denke ich, daß Flugreisen in einem solchen Fall durchaus vertretbar sind. Das muß nicht immer sein, zumal es manche Leute mit dieser Reisetätigkeit übertreiben. Aber ich glaube, daß der persönliche Austausch und die persönliche Information face to face etwas ist, das sich nicht durch Skype oder Facebook ersetzen läßt.

SB: Mitunter gelingt es, das Interesse einer jüngeren Generation, die bestimmte Entwicklungen nicht selber miterlebt hat, neu zu wecken. Hast du ein derartiges Phänomen auch mit Blick auf deine Thematik erlebt?

MS: Ja, und zwar vor allem während meiner Tätigkeit an der Universität, wo ich früher mehr gemacht habe als heute. Dort habe ich unter anderem Seminare zum Thema "Frame up" über politische Prozesse in den USA angeboten. Ein langes Blockseminar "Life on Death Row" über verschiedene Todesstrafenfälle, das im Grunde drei Seminare in einem zusammenfaßte, behandelte in der Schlußveranstaltung Fälle, die sehr aktuell waren. Zum einen betraf das Troy Davis, der als Paradefall galt, weil wir dachten, alles sei so klar, daß wir so gut wie gewonnen hätten. Ein paar Jahre später wurde er hingerichtet. Zum anderen ging es um Kevin Cooper, der zur selben Zeit wie Mumia wegen eines schrecklichen Vierfachmordes verurteilt wurde, an dem er, wie ich meine, definitiv nicht einmal beteiligt war. Er sitzt in Kalifornien immer noch im Knast. In diesem Bundesstaat werden zusätzlich zur Präsidentschaftswahl regelmäßig Volksabstimmungen durchgeführt. Derzeit stehen zwei an, zum einen die Ersetzung der Todesstrafe durch Life without possibility of parole - das heißt niemals rauskommen. Cooper lehnt das übrigens ab, weil er es für ungerecht erachtet. Bei der zweiten Abstimmung geht es darum, an der Todesstrafe etwas herumzubasteln, sie aber für immer zu behalten. Ein bestehendes Moratorium zur Todesstrafe in Kalifornien ist dieses Jahr abgelaufen. Coopers Name steht ganz oben auf der Liste. Der Gouverneur war früher gegen die Todesstrafe und könnte ihn begnadigen, hängt aber womöglich wie üblich sein Fähnchen in den Wind. Im Falle Coopers hat das höchste Gericht unterhalb des US-Supreme Courts, der 9th Circuit Court of Appeals, entweder mit 15:12 oder 14:13 - man weiß nicht genau, wie es ausgegangen ist - für die Hinrichtung votiert. Ein Vertreter der Minderheitsposition schrieb in seiner Expertise: Wir laufen Gefahr, einen Unschuldigen hinzurichten.

Ich habe den Studenten die Fälle vorgelegt, ihnen aber nicht vorgeschrieben, wie sie zu verfahren hätten. Sie mußten recherchieren, sich zusammensetzen und ihre eigenen Schlußfolgerungen ziehen. Es gab beispielsweise eine Studentin, die der festen Überzeugung war, daß die Todesstrafe vollstreckt werden müsse, wenn jemand schuldig sei. Das führte natürlich zu intensiven Diskussionen. Einige Studenten kamen zur Sprechstunde in mein Büro und sagten, Herr Schiffmann, ich verstehe nicht, warum Sie in diesem und jenem Fall nicht für die Strafe sind. Wir verblieben so, daß wir geteilter Meinung sind, doch einige Zeit später sagten sie mir, sie hätten es sich gründlich überlegt und seien nun derselben Auffassung wie ich. Viele dieser Studenten waren zutiefst beeindruckt, und obwohl seither etliche Jahre vergangen sind, habe ich immer noch mit einigen von ihnen Email-Verkehr darüber.

SB: Glaubst du, daß die Leute hierzulande überhaupt einen Begriff oder ein Bewußtsein davon haben, wie viele Menschen in den USA im Knast sitzen?

MS: Nein, weil man sich das nicht vorstellen kann. Die meisten Menschen kommen hier mit dieser Sphäre von Styx und Hades nicht in Berührung, die der Knast nun einmal ist. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie erschrocken ich war, als ich selber das erste Mal unverhofft festgenommen wurde. Das ist so ähnlich wie in den ersten Seiten von "Archipel Gulag", wo Solschenizyn schreibt: Aber ich doch nicht, ich habe doch mit all diesen Sachen nichts zu tun! Die Dimensionen des Gefängnissystems in den USA sind aus deutscher Sicht schwer vorstellbar. Dort gibt es ganze Wohnviertel mit Hunderttausenden Menschen, wo es gewissermaßen der Initiationsritus in der Pubertät ist, daß man einfährt oder etwas für einen anderen auf die eigene Kappe nimmt. Die Hälfte der Leute war im Knast, ist vorbestraft und den weiteren damit verbundenen Konsequenzen unterworfen. Das können sich hier, glaube ich, nur wenige Leute vorstellen.

SB: Isolationshaft war in der Vergangenheit auch in Deutschland ein höchst kontrovers abgehandeltes Thema. In den USA ist es heutzutage gang und gäbe, daß sehr viele Gefangene nicht selten über Jahre in Isolationshaft gehalten werden.

MS: Ja. Wobei man als positive Entwicklung ausweisen könnte, daß die Isolationshaft in letzter Zeit stark unter Beschuß geraten ist, und das auch über den Kreis der Angehörigen von Betroffenen hinaus. In den USA sitzen nahezu 2,5 Millionen Menschen im Gefängnis, wobei die Statistiken häufig geschönt sind. Bis 2008 oder 2009 konnte man auf der Website der Bundesregierung fast alles nachlesen, wobei selbst die Zahl der Gefangenen in den County Jails aufgeführt wurde. Diese wurde irgendwann gestrichen, so daß es plötzlich einige hunderttausend Häftlinge weniger waren, über deren Verbleib man nichts wußte. Hinzu kommen die Jugendlichen in den Bootcamps, die auch nicht viel besser als Gefängnisse oder Lager sind. Lange Rede kurzer Sinn: Es sind alles in allem immer noch knapp 2,5 Millionen Gefangene. Das entspricht einem Prozent der erwachsenen Bevölkerung, und da über 90 Prozent der einsitzenden Leute Männer sind, kann man davon ausgehen, daß etwa zwei Prozent der erwachsenen Männer im Gefängnis sitzen. Berücksichtigt man zudem die überproportionale Betroffenheit bestimmter Communities, hat man Verhältnisse, die für Außenstehende kaum noch nachvollziehbar sind, auch für mich nicht.

SB: Die Gefängnisindustrie hat aus kommerziellen Gründen großes Interesse am Erhalt und Ausbau ihres Gewerbes. Aber ist das aus deiner Sicht der einzige oder entscheidende Grund für die extremen Ausmaße des Gefängnissystems in den USA?

MS: Nein, ich bin nicht dieser Meinung. Das ist zwar ein wichtiger Faktor, und die Gefängnisindustrie wirbt auch offen dafür, möglichst hohe Strafen zu verhängen, weil sie daran verdienen will, und angeblich die Bevölkerung schützt. Ich glaube jedoch nicht, daß das der Hauptgrund ist. Ich sehe einen wesentlicher Grund darin, daß die ökonomische Entwicklung einen Großteil der Bevölkerung vor allem unter den Communities of color überflüssig gemacht hat. Das sind Leute, die man nicht mehr braucht. Wie kann man Leute, die man nicht mehr braucht, unter Kontrolle halten, vielleicht sogar noch einer angeblich nützlichen Betätigung zuführen? Indem man sie in den Knast steckt! Das unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was Marx im ersten Band des "Kapitals" mit den englischen Straftürmen beschreibt, wo Vagabunden eingesperrt wurden. Menschen, für die das System keine Verwendung hat, sollen auf neue Art versklavt werden.

Ein weiterer Grund geht auf die Ursprünge der US-Gesellschaft zurück. Im Gründungsmythos der USA ist von den freiheitsliebenden Leuten auf der Mayflower die Rede. Tatsächlich waren es jedoch religiöse Fanatiker, die 1620 in der Massachusetts Bay gelandet sind und dort ihre Community gegründet haben. Wer das nicht nachvollziehen kann, dem empfehle ich "The Scarlett Letter" von Nathaniel Hawthorne zu lesen, wo es um genau dieses Thema geht. Dieser Zug ist leider in der US-Gesellschaft immer noch sehr lebendig und findet viel Anklang. Wenngleich er sich natürlich teilweise aufgelöst hat, tritt er insbesondere im Heartland hervor, in denen 70 bis 80 Millionen Christen leben, die man eigentlich nur als Fundamentalisten bezeichnen kann. Das sind übrigens größtenteils Israel-Fans, aber nicht, weil sie große Sympathien für die Juden hätten, sondern weil Armageddon vorsieht, daß zuerst alle Juden nach Israel zurückkehren müssen, worauf die große Entscheidung fällt: Wer dann immer noch sagt, ich bin Jude, kommt in die ewige Verdammnis, während alle anderen erlöst werden. Eine Parallele dieses Ultrareligiösen findet man in keiner anderen Industriegesellschaft. Dieser Fundamentalismus ist mit einem enormen Strafbedürfnis verbunden, was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann.

Ich lasse mich tunlichst nicht mehr auf solche Angriffe ein, weil das schlecht für die seelische Gesundheit ist. Doch wann immer ein Artikel über Mumia oder einen anderen kontrovers Verurteilten erscheint, für dessen Freilassung man sich einsetzt, kommt eine ganze Flut von Email-Leserbriefen, in denen es heißt: "Hängt ihn! Schneidet ihn in Streifen!" und so weiter. Ich bin früher darauf eingegangen und habe erklärt, wie der jeweilige Fall beschaffen ist. Dann habe ich jedoch gemerkt, daß das die Leute gar nicht interessiert. Sie wollen nur ihren Haß und ihr Strafbedürfnis loswerden. Zuletzt habe ich geantwortet: Machst du dir nie Sorgen, daß deine Kinder dieses irre Zeug lesen könnten, was du hier schreibst? Ich bin zwar sehr dafür, mit Leuten zu reden, aber da ist ein Punkt, an dem mir manchmal nichts mehr einfällt. Und das hat tatsächlich mit dem Ursprung dieses Landes und seiner unaufgearbeiteten Geschichte zu tun. Das wenige Positive, was ich über die Bundesrepublik sagen kann, ist, daß die Nazivergangenheit tatsächlich weitgehend aufgearbeitet worden ist - nicht immer perfekt, es gibt stets etwas zu verbessern. Aber es ist besser gelaufen als in vielen anderen Gesellschaften, auch was die eigene Kriegsbegeisterung betrifft.

SB: Es gibt allerdings aktuelle Feindbilder in Deutschland, bei denen alte sozialdarwinistische Muster in eine neue Richtung gelenkt werden.

MS: Der Drache ist noch nicht besiegt.

SB: Michael, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Michael Koch, Michael Schiffmann: Ein Leben für die Freiheit. Leonard Peltier und der indianische Widerstand, Tokata - LPSG RheinMain e. V., 2016

[2] https://leonardpeltiersymposium.wordpress.com


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20. Dezember 2016


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