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INTERVIEW/021: Die 70er und Gegenwehr - Wie es für mich war ...    Olav Meyer-Sievers im Gespräch (SB)


"Diffuses Licht" - Lebensaufgabe Emanzipation

Lesung am 19. März 2015 in Hamburg-St. Pauli


Aufwachsen in der Bundesrepublik der 70er Jahre - was die heute 50- bis 70jährigen damals zwischen euphorischer und schmerzerfüllter Intensität bewegte, taugt in seiner massenmedialen Verwertung gerade noch zur gefälligen Reinszenierung für Produktwerbung und Pophistorie. Auf die Erzählung von einer Gesellschaft, die durch die Jugendrevolte der 60er Jahre von dumpfen Moralvorstellungen und überkommener Sittenstrenge befreit wurde, eingedampft nähren kulturgeschichtliche Gemeinplätze den Mythos einer Liberalität, die keinen Handlungsbedarf mehr hervorbringt, weil die wesentlichen Kämpfe vermeintlich erfolgreich geführt wurden.

Um der Tücke einer vergleichenden Betrachtung auf die Spur zu kommen, die die Brüche des Rückzugs in die Bescheidenheit neofeudaler Ordnung nicht wahrnimmt, weil die Zurichtung des Menschen zum neoliberalen Marktsubjekt mit der Libertinage überwundener Verbote verwechselt wird, können Berichte von Zeitzeugen hilfreich sein. Insbesondere eine literarische Verarbeitung, die dem Geschichtspositivismus einer kontinuierlichen Vorwärtsentwicklung die Aktualität subjektiven Erlebens gegenüberstellt, kann einen Beitrag zur Korrektur beschönigender Bilanzierungen leisten. Letztlich steht jede heranwachsende Generation auf der Höhe ihrer Zeit inmitten widriger Bedingungen und mißliebiger Zwänge, die zu konfrontieren und überwinden nicht dadurch leichter wird, daß sie auf bereits erobertem Terrain agiert.


Bei der Lesung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Olav Meyer-Sievers
Foto: © 2015 by Schattenblick

"Diffuses Licht" [1] - der Titel des ersten Romans von Olav Meyer-Sievers stapelt tief, denn konturlos wirken die Ereignisse, auf die er in seiner semibiografischen Erzählung zurückblickt, keineswegs. Die in der mittelständischen Bürgerlichkeit der BRD der 70er Jahre angesiedelte Geschichte seines Protagonisten Tom verrät, daß das heute längst nicht mehr selbstverständliche Privileg eines von materieller Not weitgehend entlasteten Daseins dennoch so konfliktträchtig war, wie es für eine Gesellschaft mit rigider Moral und patriarchalischer Werteordnung zu erwarten ist. In einer Zeit, in der der Paragraph 175 gerade erst so weit reformiert worden war, daß Homosexualität unter Erwachsenen nicht mehr nach dem Wortlaut des NS-Strafrechts verfolgt wurde, konnte ein schwuler Schüler nicht mit der ungeteilten Unterstützung des Lehrpersonals oder auch nur der Schülerinnen und Schüler rechnen.

Sich auf dem Schulhof Hand in Hand mit seinem Freund zu zeigen war mithin ein mutiger, an einen Eklat grenzender Akt der Emanzipation. Was der Autor selbst in den frühen 70er Jahren an einem Hamburger Gymnasium praktizierte, wurde von seiner alleinerziehenden Mutter aus ganzem Herzen unterstützt. Die passionierte Journalistin, die mit unpopulären Themen über besonders verletzliche Minderheiten immer wieder aneckte und an ihrem Eintreten für Schwache auch beruflich Schaden nahm, wählte vor 40 Jahren den Weg in den Freitod.

Der Tragik dieses in dem Roman verarbeiteten Ereignisses gegenüber erfüllen Geschichten über jugendlichen Cannabiskonsum, wiewohl damals auch im geringfügigen Fall noch strafbar, vor allem die Aufgabe, mit der minutiösen Schilderung aus dem Takt geratener und der Zeit enthobener Erlebnisse zu unterhalten. Das gilt auch für die damals noch verbreitete Mutmaßung, nach dem Durchschreiten der "Pforten der Wahrnehmung" auf etwas ganz anderes zu treffen als das, was einem bis zum Überdruß bekannt und vertraut ist. Heute, da der Konsum leichter Drogen so verbreitet zu sein scheint wie das alltägliche Bier am Abend und virtuelle CGI-Welten den Platz psychedelischer Erfahrungen eingenommen haben, kann ein solcher Anachronismus fast schon wieder neugierig machen.


Außenansicht der Bar und gemaltes Portrait - Foto: © 2015 by Schattenblick Außenansicht der Bar und gemaltes Portrait - Foto: © 2015 by Schattenblick Außenansicht der Bar und gemaltes Portrait - Foto: © 2015 by Schattenblick

Treffpunkt für viele Gelegenheiten
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Der leicht angestaubte und desto liebenswertere Charme des Toom Peerstall in der Clemens-Schultz-Straße auf St. Pauli bot das angemessene Ambiente, um einen in der Hamburger Schwulenszene angesiedelten Roman dem interessierten Publikum vorzustellen. Wie Wirtin Angelika Fox erklärte, feiert die von Katharina 1980 übernommene und von ihr selbst seit 2006 fortgeführte Bar im Mai ihr 150jähriges Jubiläum und stellt somit ein traditionsreiches Stück des schwindenden Erbes dieses alten, von Gentrifizierung stark betroffenen Quartiers am Hafen dar.

Der Autor nahm das vollbesetzte Haus in einer fast einstündigen Lesung mit auf eine bewegende Reise, die bei anwesenden Freunden aus damaliger Zeit manche verlorengeglaubte Erinnerung wachrief, während das jüngere Publikum die Gelegenheit hatte, im Wechsel von Anrührendem und Erheiterndem festzustellen, daß Menschen nicht so verschieden sind, als Kategorien des Alters und der Identität glauben machen. Im Anschluß an die Lesung beantwortete Olav Meyer-Sievers, der seine berufliche Laufbahn als Fotograf begann, dann Kreativdirektor einer Eventagentur wurde, um heute als freiberuflicher Kommunikationsberater, Trauerredner und Notfallhelfer des Kriseninterventionsteams in Hamburg zu arbeiten, dem Schattenblick einige Fragen zu den Hintergründen seines literarischen Erstlingswerks.


Olav Meyer-Sievers im Interview - Foto: © 2015 by Schattenblick

Persönliche Erinnerungsarbeit literarisch produktiv gemacht
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Olav, wie bist du auf die Idee gekommen, ein semibiografisches Buch zu schreiben, in dem du in der Gestalt des Protagonisten Tom in die Zeit deiner eigenen Jugend zurückkehrst?

Olav Meyer-Sievers (OMS): Im Grunde genommen ist es eine zweigleisige Entwicklung gewesen. Natürlich hatte ich schon lange den Ego-Wunsch gehabt, ein Buch zu schrieben, um es dann in Händen halten und sagen zu können: "Das ist von mir!" Als ich irgendwann für mich anfing, meine eigene Geschichte in einer Art Verarbeitungsprozeß aufzuschreiben, war ich mit ganz anderen literarischen Themen unterwegs. Beides hat sich dann miteinander verknotet. Wie das oft so ist beim Schreibprozeß, habe ich mich von der Geschichte, die ich eigentlich schreiben wollte, mehr und mehr entfernt. Sie ist zwar als roter Faden immer noch im Buch vorhanden und durfte auch ein Eigenleben entwickeln. Aber ich hatte den Eindruck, daß ich als mittlerweile 57jähriger Mensch etwas zu erzählen habe, was andere, die das nicht so bzw. in ähnlicher Form erlebt haben, interessieren könnte.

SB: Als du deine sexuelle Orientierung entdeckt und dich öffentlich zu deinem Freund bekannt hast, seid ihr Hand in Hand über den Schulhof gegangen. Wie bist du damals auf den Gedanken gekommen, dein Coming out auf diese Weise zu gestalten und welche Erfahrungen hast du mit deinen Mitschülerinnen und Mitschülern dabei gemacht?

OMS: Mir und vielen anderen Schwulen war klar, daß das auch ein politischer Kampf um Akzeptanz, Anerkennung und für ein gleichberechtigtes Sein war. Wir haben gegen gesellschaftliche Normen, Engstirnigkeit und Sprüche wie "Unter Adolf hätte es so etwas nicht gegeben" gekämpft. Wir wußten, daß wir dafür streiten mußten. Obwohl ich eher ein Feigling bin und nie Freude am Kämpfen hatte, habe ich begriffen, daß ich mich dem Konflikt nicht entziehen kann. In der Schule habe ich beides erlebt, sowohl Ablehnung, tuschelnde Lehrer, blöde Bemerkungen und Freunde, die sich von mir abgewandt haben, als auch Reaktionen wie "Finde ich cool, daß du damit öffentlich rausgehst und es einfach durchziehst, egal, was passiert".

SB: Hast du als jugendlicher Schwuler regelrechte Diskriminierung erfahren?

OMS: Ja klar. Wir haben beispielsweise in der Fußgängerzone Demonstrationen durchgeführt oder Büchertische aufgestellt und sind bei diesen Aktionen öffentlich als Schwule aufgetreten. Dabei bekamen wir dann Sprüche zu hören wie "Man sollte euch vergasen", wir wurden bespuckt und so was. Das ist alles passiert. Ich habe auch miterleben müssen, wie ich aus dem Zimmer meines ersten Freundes von seinem Vater und der Polizei herausgeholt worden bin, und zwar recht brachial, indem die Tür mit der Axt eingeschlagen wurde. Das war nicht nur eine theoretische Auseinandersetzung.

SB: Du hast in deinem Buch auch den Suizid deiner Mutter mit verarbeitet. Aus welchen Gründen hat sie damals den Schritt in den Freitod gewählt?

OMS: Die Frage kann ich eigentlich bis heute nicht beantworten. Wir waren damals alle so drauf, daß wir nicht wirklich darüber geredet haben. Was meine Mutter gequält hat, warum sie so verzweifelt war, ist ungeklärt geblieben. Ich habe später noch einmal etwas ähnliches erlebt, als sich mein Freund, meine große Liebe, das Leben genommen hat. Das war nochmal sehr tragisch für mich, barg aber die Chance in sich, daß ich damit anders umging, indem ich darüber gesprochen und mir Gedanken gemacht habe, was da passiert ist. In den 70er Jahren wurde einfach ein Deckel draufgepackt. Den Begriff Traumatisierung gab es seinerzeit noch nicht, jedenfalls nicht für psychische Belastungen. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber keine Antwort darauf geben, warum meine Mutter sich dazu entschlossen hat, sich das Leben zu nehmen.

SB: In der Einleitung zur Lesung hat Joachim Bartholomae vom Männerschwarm-Verlag daran erinnert, wie populär das Thema Schwule und ihre Mütter damals wie heute ist. Du hast mit deiner alleinerziehenden Mutter zusammengelebt, was in den frühen 70ern noch nicht so selbstverständlich war wie heute. Wie wirkt es sich deiner Erfahrung nach auf die Entwicklung eines Kindes aus, wenn die Rolle des Vaters im Alltagsleben unbesetzt bleibt?

OMS: Ich glaube nicht, daß man schematisch sagen kann, wenn man als Kind mit Mutter und Vater aufwächst, hat das die und die Auswirkung, wenn ein Teil davon fehlt, bedeutet es automatisch das und das. Ich denke, das hängt von den jeweiligen Persönlichkeiten des Elternteils oder der Elternteile ab, mit denen man als Kind groß wird. Bei meiner Mutter habe ich das Glück gehabt, daß sie ein sehr politischer und kritischer Mensch war und sich bei gesellschaftlichen Mißständen stark engagiert hat. Sie hat auch das Thema Schwulsein positiv aufgegriffen und war dadurch für mich eine große Unterstützung. Ich sollte also nicht umoperiert oder stereotaktisch behandelt werden oder sonst etwas, sondern sie hat es voll akzeptiert. Sie war bemüht, mir einerseits den Weg möglichst leicht zu machen und hat sich andererseits generell für das Thema eingesetzt.


Olav Meyer-Sievers mit einem der beiden Leiter des Verlags Männerschwarm - Foto: © 2015 by Schattenblick

"Schwule und ihre Mütter sind ein großes Thema" - Joachim Bartholomae führt in die Lesung ein
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Wie würdest du deine Erfahrungen von damals aus heutiger Sicht bewerten, wo Gleichstellung keine Frage mehr zu sein scheint, oder hat man es heute eher mit einer verdeckten Form der Homophobie zu tun?

OMS: Sicher hat sich vieles zum Positiven verändert. Schwule Minister oder Bürgermeister oder lesbische Ministerinnen, all das gibt es inzwischen und es darf auch sein. Aber ich glaube nicht, daß es wirklich kein Thema mehr ist. Ein Beispiel dazu: Durch meine Arbeit beim Kriseninterventionsteam habe ich relativ viel mit der Polizei zu tun. Hier in Hamburg gibt es die Organisation Gay Cops, wo sich die schwulen Polizisten treffen. Wir haben in Hamburg etwa 9000 bis 10.000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte. Das ist eine recht beachtliche Zahl. Wenn man den statistischen Schlüssel anwendet, müßte man also unter ihnen auf etliche Homosexuelle stoßen. Ich bin zu einem Treffen dieser Organisation gegangen, wo mir versichert wurde, daß es bei der Hamburger Polizei überhaupt kein Problem mit Schwulen, Lesben oder anderen sexuellen Orientierungen gäbe. Nun, bei dem Treffen saßen zwei Menschen - zwei von 9000 bis 10.000 Polizistinnen und Polizisten in Hamburg. Das sagt eine ganze Menge.

SB: Das Männerbündische in Institutionen aller Art, aber insbesondere in Gewaltapparaten wie dem Militär ist sicherlich nicht überwunden. Sind Schwule zum Beispiel als Soldaten aus deiner Sicht weniger gewalttätig als Hetero-Männer?

OMS: Ich glaube, daß Schwule genauso gewalttätig sein können wie Hetero-Männer. Anscheinend ist es eher so, daß Frauen nicht ganz so gewalttätig sein können wie Männer oder es nicht wollen. Aber ich glaube, ein sadistischer Schwuler, der andere Menschen foltert oder quält, ist genauso existent wie ein Hetero-Mann, der so etwas macht.

SB: Die Queer-Bewegung grenzt sich von heteronormativen Stereotypen ab. Gibt es für dich überhaupt so etwas wie eine heteronormative Identität, oder hält du es eher für ein konstruiertes Gebilde?

OMS: Ich glaube, normative Identitäten gibt es in allen möglichen Kontexten, ob nun als fleischessender, heterosexueller Camper oder als vegane, Frankreich liebende Lesbe. Es gibt Menschen, die fühlen sich wohler oder sicherer, wenn sie sich mit anderen auf einen normativen Kontext einigen, von denen es ganz viele gibt, da würde ich jetzt nicht straff trennen wollen. Und es gibt Menschen, die sich in diesen normativen Strukturen nicht wohlfühlen. Ich hoffe, daß sie nie ganz verschwinden werden.

SB: In Hamburg gab es früher das Tuc Tuc, in dem eine eher linkslastige Schwulenszene den Ton angab, während etwa im Spundloch eine eher bürgerliche Szene verkehrte. Hast du das seinerzeit als ein Wandern zwischen den Szenen erlebt, und wenn ja, hat sich das heute gegenüber damals stark egalisiert oder gibt es immer noch Differenzen zwischen alternativen und angepaßten Schwulen?

OMS: Um ehrlich zu sein, bin ich heute nur wenig in der Schwulenszene unterwegs. Allerdings habe ich das damals auch so wahrgenommen, daß es eine alternative und eine bürgerliche Schwulenszene gab. Letztere hatte ich immer als eng und verklemmt empfunden. Dort hat man auch gern das Wort homophil benutzt, um nicht von Sexualität sprechen zu müssen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ein Teil der heutigen Schwulenszene einfach eine Zielgruppe ist, der man teure und hübsche Dinge verkaufen kann. Da ist viel kommerzialisiert worden.

SB: Im Kontext deiner gesellschaftlichen Aktivitäten spielt die Frage der geschlechtlichen Orientierung keine Rolle. Mit dem Buch hast du dich hingegen eindeutig exponiert. Wolltest du damit einen Schritt über die Grenzen deiner beruflichen Tätigkeit hinaus tun?

OMS: Was das angeht, habe ich nie gedeckelt. Aber beim Schreiben des Buches habe ich dann doch gemerkt, daß die schwule Identität eine wichtige Rolle spielt, was ich zwischendurch ein bißchen vergessen hatte. Wenn man einen anderen Lebensweg gegangen ist und sich in seiner Jugend intensiver als andere mit der Frage der sexuellen Orientierung beschäftigen mußte, wird der Blick dafür geschärft, nicht allen Normen zu erliegen. Man muß stärker darauf schauen, welche Normen wirklich zu einem passen und mit welchen man nichts zu tun haben möchte, die man geradezu ablehnt, eben weil man anders ist.

SB: Olav, vielen Dank für das Gespräch.


Ankündigung der Buchpräsentation - Grafik: © 2015 by Männerschwarm Verlag

Grafik: © 2015 by Männerschwarm Verlag

30. März 2015


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