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BERICHT/041: Leipzig, das Buch und die Messe - alte Animositäten ... (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Ein Rundumgang


"Wer liest, nicht schießt", prangte es auf einem T-Shirt der zahllosen Besucherinnen und Besucher, die sich am Tag 1 durch die Gänge der Leipziger Buchmesse (LBM) schoben und nur in den seltensten Fällen wie hier den Blick des Entgegenkommenden einzufangen vermochten. Umrahmt vom Symbol der Friedenstaube, war die knappe T-Shirt-Botschaft eindeutig: Wer Bücher liest, ist ein Mensch, der nicht zugleich schießen kann, ergo der ein friedlicher Mensch ist.

Sicherlich ließe sich solch eine doch sehr verkürzte Schlußfolgerung leichter Hand mit Verweis auf die umfangreiche kriegsverharmlosende oder gar -verherrlichende Literatur widerlegen, aber zumindest regte diese simple Botschaft dazu an, einen Moment innezuhalten und den ereignisreichen ersten Messetag Revue passieren zu lassen. Trotz des Menschenauflaufs von Tausenden von Besuchern, die unterschiedlichste Interessen verfolgten und einander dabei notgedrungen in die Quere kamen, war auf der gesamten Leipziger Buchmesse nicht ein lautes Wort zwischen Streitenden zu hören, nicht eine Pöbelei zu schlichten oder gar eine Rangelei zu beenden. Das ist gewiß nicht mehr als ein subjektiver Eindruck, aber eben auch nicht weniger. Die Stimmung blieb auch in den nächsten Tagen spannungsgeladen hinsichtlich der Veranstaltungen, aber völlig entspannt hinsichtlich des Miteinanders, sogar in Krisensituationen wie jener, die sich in Halle 4 an der Kreuzung C200/C107 zutrug: "Du, ich glaube, wir haben uns verlaufen", kam es verzweifelt aus einer Traube von Menschen. "Nein, nein", lautete die lachende Antwort von irgendwoher, "wir sind nur falsch abgebogen ...".


Eingangsbereich mit Willkommensplakat - Foto: © 2016 by Schattenblick Mit Glas überdachter Durchgang zwischen den Messehallen und der zentralen Glashalle - Foto: © 2016 by Schattenblick

links: Die Leipziger Buchmesse öffnet ihre Tore
rechts: Am "Stahlkappenschuhsamstag" ...
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Es ist Samstag, der Tag, an dem man auf der Buchmesse am besten "Schuhe mit Stahlkappen" trägt, wie den Besuchern des einstündigen Schnellkurses "Buchmesse für Einsteiger" schelmisch angeraten wurde. Dort erhielt man jedoch nicht nur nützliche Tips aus dem Munde des erfahrenen Messesafariführers, sondern auch Hintergrundinformationen wie die, daß der Buchdruck in Leipzig bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, Bücher früher in Gewicht gemessen wurden, die Buchmesse in Leipzig lange Zeit größer als die in Frankfurt war und zu DDR-Zeiten in der Leipziger Messe eine "Blindbandshow" veranstaltet wurde, das heißt, man regalweise nur Buchrücken ohne Inhalt präsentiert hat.

Die "Leipziger Buchmesse fördert und fordert das offene Wort für eine offene Gesellschaft", heißt es in einer Presseerklärung vom Vortag der Messeeröffnung. Sieht man einmal davon ab, daß es wohl kaum die günstigsten Voraussetzungen für die Erfüllung eben dieser Aussage sein können, wenn man ein "offenes" Wort von wem auch immer "fordert", greifen wir an dieser Stelle gern den unterstützenswerten Anspruch auf ...

Was bei jenem augenzwinkernden Hinweis auf die "Blindbandshow" nicht erwähnt wurde: Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre war die Einstellung der westdeutschen Verlage zur Leipziger Buchmesse eine Art Lackmustest für die deutsch-deutschen Beziehungen - und mit denen sah es überhaupt nicht gut aus. Kalter Krieg an allen Fronten, auch im Kulturbetrieb. Aus politischen Gründen hatten Westverlage wiederholt ihre Teilnahme an der Leipziger Messe abgesagt, teilweise auch kurzfristig, so daß die Veranstalter eigene und andere Verlage bitten mußten, die Lücken zu füllen. Zu jener Zeit erwies sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in eine ost- und eine westdeutsche Fraktion gespalten hatte, als besonders konfrontativ, wohingegen der westdeutsche Verleger Ernst Rowohlt mit dem Besuch der Leipziger Messe im Jahr 1958 dem Gespräch und nicht dem Gezanke den Vorzug gab.

Was bei den Erläuterungen für "Messe-Einsteiger" ebenfalls nicht erwähnt wurde: Als es jenen ostdeutschen Staat noch gab, haben nicht wenige Besucher aus dem Westen "rüberjemacht", um dort wissenschaftliche Bücher zu unglaublich niedrigen Preisen zu erwerben. Zudem wurden hochwertige ostdeutsche Bücher im Westen nachgedruckt und billig vertrieben. Würde jemand behaupten, die ostdeutsche Buchkultur sei mit "Blindbandshow" auch nur im entferntesten treffend charakterisiert, müßte er sich konsequenterweise fragen, wieso dem Frankfurter Börsenverein - aus Anlaß des Mauerbaus von 1961 - so sehr daran gelegen war, jenes politische Ereignis in klingende Münze umzuwandeln und bei dieser Gelegenheit die "'Abwehr östlicher Unterwanderung durch billige Bücher' vor allem im Lehr- und Fachbuchbereich zu verstärken", wie es Patricia F. Zeckert in einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) schreibt. Darin heißt es über den Frankfurter Börsenverein:

"Wie groß die Angst vor Unterwanderung und Infiltration unter den Verbandsakteuren war, zeigte ein rigider, streng vertraulicher Maßnahmenkatalog, der auf den Überlegungen dieser Sitzung des Interzonenhandelsausschusses basierte und die Abschottung gen Osten vorantrieb: keine Koproduktion mit ostdeutschen Verlagen außer bei theologischer, geisteswissenschaftlicher und streng wissenschaftlicher Literatur, keine Rezensionen, kein Vertrieb ostdeutscher Verlagserzeugnisse, keine Belegexemplare an die Deutsche Bücherei in Leipzig, keine Lizenzverträge und - keine Beteiligung an der Leipziger Messe." [1]

So könnte man sich nach jener Einführung, die auch als eine Art Einstimmung fungierte, fragen, ob denn die Leipziger Buchmesse im Jahr 2016 nicht mehr aufzubieten hat, als über ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung Reflexen zu folgen wie, auf keinen Fall säumig zu sein, sich dem Chor der ewig gleichen höhnischen Stimmen anzuschließen. Würde sie sich damit nicht dem Verdacht aussetzen, es nach wie vor nötig zu haben, auf eine dergestalt ab- und ausgrenzende Weise eigenes Profil erstreiten zu müssen?


Messestand mit Fototapete, auf der reihenweise aufgeschlagenene Bücher abgebildet sind - Foto: © 2016 by Schattenblick

Blindbandshow am Schweizer Messestand?
Foto: © 2016 by Schattenblick

Neben der Frankfurter Buchmesse, die hauptsächlich aufs Fachpublikum und den Verkauf ausgerichtet ist, hat sich die Leipziger Buchmesse als Publikumsbuchmesse etabliert. Man könnte treffender von einem stadtweiten Festival sprechen, denn unter dem jährlich wiederkehrenden Motto "Leipzig liest", dessen Wurzeln im Literaturfestival am Beginn der neunziger Jahre liegen, das auch als "Alternative Leipziger Buchmesse" bezeichnet wurde, wurden und werden auf mehreren hundert Bühnen in der Stadt Lese- und Diskussionsveranstaltungen angeboten.

Dabei stehen die weitläufigen Messehallen wenngleich nicht geographisch, so doch von der Zahl der Veranstaltungen und der Besucher her im Mittelpunkt des Geschehens. 2250 Aussteller aus 42 Ländern boten den rund 260.000 Gästen ein durchaus schmackhaftes "Leipziger Allerlei" mit der für sie typischen Osteuropa-Orientierung, dem aktuellen Themenschwerpunkt "Flucht, Migration und Integration", dem Lesefest, den "bücher.machern", der Hörbuch-Abteilung, der Antiquariatsmesse sowie zahlreichen Ehrungen wie dem Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik (Gewinner 2016: Guntram Vesper mit "Frohburg"), Sachbuch/Essayistik (Jürgen Goldstein: "Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt") und Übersetzung (Brigitte Döbert übersetzte aus dem Serbischen: "Die Tutoren von Bora Cosic"), dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (Heinrich August Winkler) und, und, und ...

... und nicht zu vergessen dem Manga-Comic-Con, der eine der fünf riesigen Hallen füllte und die Messe zu jenem farbenfrohen Fest machte, für das sie inzwischen das dritte Jahr in Folge bekannt ist. "Auf den ersten Blick scheinen Manga und Comics wenig mit der klassischen Buchbranche zu tun zu haben", sagt Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse. "Bei näherem Hinsehen ist jedoch eine sehr leidenschaftliche Begeisterung für Literatur zu erkennen."

Tatsächlich mischte sich das typische Manga-Comic-Con-Publikum auch unter das der LBM, und so konnte es geschehen, daß man beim Flanieren durch die Reihen der traditionellen Verlage plötzlich einem grimmig dreinblickenden Zwerg begegnete, der eine knorrige Rüstung ausfüllte und eine beeindruckend wuchtige Streitaxt an der Seite trug; und der jedoch, ebenso wie seine elfenartige, den Langbogen lässig geschulterte und arrogant aus hellblauen Augen über alle Köpfe hinwegblickende Begleitung, die direkt einer Verfilmung des Tolkin-Buchs "Der Herr der Ringe" entsprungen schien, höflichst zur Seite trat, um einer jungen Mutter mit Kinderwagen Platz zu machen. Cosplay, das Verkleiden in perfekten Kostümen von Film-, Comic- oder Fantasyfiguren, und das spielerische Nachahmen figurentypischer Gestik und Mimik, nennt sich dieses karnevaleske Vergnügen für jung, noch jünger und niemals zu alt.


Drei rundum verkleidete und mit wuchtigen Waffen ausgestattete Fantasy-Streiter in Kampfpositur - Foto: © 2016 by Schattenblick

Leipzig lockt - Besuch aus einer anderen Dimension ...
Foto: © 2016 by Schattenblick

Nicht nur am Sonntag, der eigens als Familientag ausgewiesen war, was mit einem kinderkunterbunten Programm gewürdigt wurde, fanden sich auf der Messe an den entsprechend ausgestatteten Plätzen zahlreiche Bälche, die ihre Schnarschhagn in Bücher steckten, anderen vorlasen, malten, mit ihren Glubbschoochn einem Jongleur nacheiferten und vieles mehr unternahmen und sich dabei sichtlich ammesiehrten. [2]

Die Leipziger Buchmesse wendet sich explizit auch und gerade an das junge Publikum, an junge Verlage und junge Autoren. Hier werden Wege aufgezeigt, wie ein Buch geschrieben, lektoriert und verlegt werden kann, entweder bei einem traditionellen Verlag oder im Selbstverlag, letzteres unterstützt von einer größer werdenden Zahl von Anbietern auf dem Markt des sogenannten Self-Publishing. Bezeichnungen wie "Karrieretag Buch und Medien" oder Ausstellungsbereiche wie "autoren@leipzig, Angebote für Autoren" lassen keinen Zweifel aufkommen, daß auf der Buchmesse selbstverständlich auch kommerzielle Interessen bedient werden. Man könnte zynisch sagen, die holen sich jetzt alle die, die vielleicht noch mal ins Geschäft möchten, die ganzen "No-names", auf ihre Seite.

Doch das wäre nur eine Seite der Medaille. Wohl nur an wenigen anderen Orten des Verlagsgeschäfts gibt es für Autoren einen leichteren Zugang, mit denen ins Gespräch zu kommen, die bereits in dem Literaturbetrieb stecken, und zu versuchen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, um irgendeine Aufmerksamkeit für das eigene Buchprojekt zu erlangen. Wobei man in Anbetracht der vielen, vielen Mitbewerber auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ein solches Unterfangen durchaus mit der Teilnahme an einer Lotterie vergleichen kann: Die Gewinnchancen sind äußerst gering, doch wer deswegen den Lottoschein erst gar nicht abgibt, hat von vornherein keine Chancen, ins Geschäft zu kommen, oder muß sich eben andere Wege erschließen.


Messestand novum - Verlag für Neuautoren - Foto: © 2016 by Schattenblick Messestand neobooks, Self-Publishing - Foto: © 2016 by Schattenblick Messestand von amazon - Foto: © 2016 by Schattenblick Hinweisschild 'Manuskripte hier' der Frankfurter Verlagsgruppe - Foto: © 2016 by Schattenblick

Auf der Suche nach der Erzählung ...
Welche Überlebenschancen haben kleine Self-Publishing-Verlage, wenn der Weltkonzern amazon, vom Freihandelsabkommen TTIP zwischen EU und USA gestärkt, auf Schnäppchenjagd geht?
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Die Leipziger Buchmesse wird gern auch von kleineren, linken Verlagen genutzt, die dort auf ziemlich knapp bemessenen Standmetern ihr Verkaufsprogramm vorstellen und noch immer den Idealismus und die Hoffnung ausstrahlen, sich mit ihren engagiert geschriebenen Printprodukten auf dem auch im linken Spektrum umkämpften Buchmarkt über Wasser halten zu können. Daß dann ausgerechnet aus dieser Ecke an allem und jedem gemäkelt wird, sei es die vermeintlich schlechte Luft, das Gedränge in den Gängen, die unprofessionelle (wenngleich sehr menschliche) Antwort einer Verlagsangestellten auf eine überraschende Journalistenfrage oder der aufdringliche Kollege im Presseclub, nur um am Ende dann doch zu bekennen, daß man im nächsten Jahr wiederkommen werde, muß schon wundern. Wenn das alles gewesen wäre, was es auf dieser großen, traditionsreichen Veranstaltung zu entdecken gab, hätte man sich da den Besuch nicht sparen können?

Leipzig liest, Leipzig lauscht, Leipzig hört - fraglos versucht sich hier eine Stadt als Marke zu verkaufen und den urbanen Standort in Konkurrenz zu Frankfurt zu etablieren. Die Leipziger Buchmesse braucht den Vergleich mit der erst seit dem Zweiten Weltkrieg größeren Frankfurter Buchmesse allerdings gar nicht anzutreten. Das ist so, als wollte man Äpfel mit Birnen vergleichen. Beide zählen zum Sammelbegriff "Obst", aber schmecken doch sehr verschieden. Leipzig schmeckt lecker - nicht wegen, sondern trotz der hier beispielhaft erwähnten Animositäten gegenüber einer Buchkultur, deren Vorzüge so wenig versteckt werden müssen wie die anderer Phasen des traditionsreichen Verlagsgeschäfts in dieser sächsischen Stadt.


Zwei gemeinsam lesende Kinder mit elektronisch vernetzten, futuristischen Apparaten vor den Augen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Lesen von morgen in vorproduzierten virtuellen Welten?
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] "Die Leipziger Buchmesse, die Börsenvereine und der Mauerbau", Patricia F. Zeckert, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 20.9.2012.
http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/139889/die-leipziger-buchmesse-die-boersenvereine-und-der-mauerbau?p=all

[2] Kleine Wörterkunde Sächsisch - Deutsch:
Bälche - kleine Kinder
Schnarschhagn (auch: Schnarchagn) - Nasen
Glubbschoochn - große Augen
ammesiehrn - Spaß haben.


Die Berichterstattung des Schattenblick zur Leipziger Buchmesse finden Sie unter INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

INTERVIEW/048: Leipzig, das Buch und die Messe - der rote Faden Lesespaß ...    Kerstin Libuschewski und Julia Lücke im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0048.html

INTERVIEW/049: Leipzig, das Buch und die Messe - zielgeführt und aufgeklärt ...    Christian Linker im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0049.html

INTERVIEW/050: Leipzig, das Buch und die Messe - fast nach zwölf ...    Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0050.html

25. März 2016


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