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REZENSION/042: Lutz Seiler - Stern 111 (SB)


Lutz Seiler

Stern 111

von Christiane Baumann


"Die letzte Zukunft war vorbei" - Freiheit und Revolution. Eine Annäherung an Lutz Seilers Roman Stern 111.

Ein Telegramm beordert Carl Bischoff aus Halle zu seinen Eltern nach Gera-Langenberg. Der Zug, der ihn zunächst nach Leipzig bringt, stoppt vor dem Bahnhof, "als hätte das Herz seiner Fahrt kurz vor dem Ziel plötzlich aufgehört zu schlagen." (9) Das Einstiegsszenario des Romans Stern 111 signalisiert eine lebensbedrohliche Situation. Carl erlebt den Ansturm auf einen D-Zug nach Berlin, wird mitgerissen, stürzt. Das Bild nimmt seinen Absturz im allgemeinen "Umsturz" (25) vorweg. Es ist der 11. November 1989, und was Carls Eltern ihm nach seiner Ankunft in Gera eröffnen, stellt sein bisheriges Leben in Frage. Inge und Walter Bischoff wollen am nächsten Morgen die Chance der offenen Grenze nutzen und die DDR verlassen. Carl empfindet Verrat. Er sieht die Familie "zwischen all den Attrappen ihres plötzlich ausgedienten, abgepfiffenen Lebens" (18). Hatte er nach einem Selbstmordversuch, von dem die Eltern nichts wissen, auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes gehofft, so steht er nun vor den Trümmern seiner Familie. Deren Zerstörung korrespondiert mit dem gesellschaftlichen Niedergang, für den Carl seinen Eltern eine Mitschuld zuweist: "Sie erschienen nicht mehr auf ihrer Arbeit, sie verließen ihren Platz und rüsteten zur Flucht" (25). Er versucht, den elterlichen Auftrag zu erfüllen und in ihrer Wohnung "die Stellung" (32) zu halten. Seine Situation erinnert an das lyrische Ich in Volker Brauns berühmt gewordenem Gedicht Das Eigentum (1990): "Das bin ich noch: mein Land geht in den Westen. / KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN."

Carl erlebt, wie "die alte Ordnung" (39) sich mehr und mehr aufzulösen beginnt. Verunsichert, seiner Herkunft und Identität beraubt, stürzt er in eine Krise. Diese ähnelt der des Protagonisten in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, denen das Motto zu Seilers Roman entnommen ist: "Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen". Für Carl, Mitte zwanzig, gilt Maltes Satz: "Ich sitze hier und bin nichts." Rilkes Text grundiert Seilers Roman wie eine literarische Folie. Auch Malte steht nach dem Verlust der Eltern und seines Erbes vor der Tatsache, "niemandes Sohn mehr zu sein". Auf der Suche nach einem "eigenen Leben" versichert er sich im Erzählen seiner Herkunft. Paris wird zum Fluchtpunkt. Einsam streift er durch die Großstadt, sieht Armut und Elend, lernt überhaupt erst zu "sehen". Carl tritt das Erbe der Eltern nicht an und bricht Anfang Dezember 1989 mit väterlichem Werkzeug und Shiguli nach Berlin auf. Dort wird er, der von einer Dichter-Existenz träumt, als "fahrender Arbeiter" (70) Teil des "klugen Rudels" (112) am Prenzlauer Berg, das sich um Hoffi, den "Hirten", schart. In dieser Gemeinschaft findet er als Maurer seinen Platz und arbeitet mit am Aufbau der Assel, einem "Unterstand der Arbeiterklasse" (418), einem "Ponton zwischen Eiszeit und Kommune" (276). Hier erlebt er 1989/90 jene Zeit des Übergangs, in der die Gesetze der alten Ordnung ihre Wirkungsmacht verloren und das neue politische System noch nicht etabliert war. In diesem Machtvakuum, einer Zeit der Anarchie, schien für einen kurzen Moment eine "Freie Republik Utopia" (150) möglich, eine Gemeinschaft der Solidarität und Brüderlichkeit, die Hoffi propagiert.

Die Assel-Gemeinschaft wird Carls Asyl (419). Sie versteht sich als "antikapitalistische Untergrundkolchose" (71), als "Arbeiter-Guerilla" oder "Aguerilla" (124), die das Volkseigentum verteidigt. Sie besetzt die Häuser nicht, sondern nimmt sie für deren legitime Eigentümer, die Arbeiter, in Obhut: "Häuser und Arbeiter, das Recht auf Wohnung und Arbeit, Häuser, selbst gewählt und gestaltet, die Emanzipation des Proletariats" (124) - das ist Hoffis Ideal, das er in der Assel als eines der "Nester der Revolution" (149) umzusetzen strebt. Doch die Arbeiter bleiben aus und sukzessive greift ein "anderes Gesetz. Privateigentum heißt die neue heilige Kuh" (302). Im Zuge der Kapitalisierung des gesamten Lebens wird aus dem "Unterstand der Arbeiterklasse" eine "Kellerschänke, ein Café, ein 'Nuttenloch', eine Wärmestube" und ein "billiger Imbiss" (418). Sie wird als "Szenekneipe" zum musealen Ort, zur Touristenattraktion, und nach Sanierung und Einverleibung in den kapitalistischen Immobilienmarkt "eine Art Aquarium" ohne Menschen, "nur ein Kasten aus Glas und Stein, in dem ein paar Möbel treiben." (522) Hoffis Entwurf einer Gemeinschaft, in dem soziale Gleichheit sowohl Voraussetzung als auch Bedingung der Freiheit ist, scheitert. Der Hirte steht nicht persé für Anarchie und Chaos. Er übernimmt in der "Schlacht um Berlin und seine preisgegebenen Häuser" vielmehr "Verantwortung" (124), denn die Macht, ohne die es seine Freiheit nicht gibt, muss erkämpft werden. Das begreift Carl erst Jahre später, wie man aus dem Epilog erfährt, der zeitlich bis in die Gegenwart reicht und einer einseitigen Lesart von Stern 111 als "Nachwenderoman" entgegensteht.

Einer solchen Lesart widerspricht auch der parallel zu Carls Geschichte verlaufende zweite Erzählstrang, der in Kritiken meist vernachlässigt wurde. Er rankt sich um die "Auswanderung" (91) der Eltern und rechnet schonungslos mit bundesdeutscher Wirklichkeit ab. Der Weg von Inge und Walter erschließt sich vor allem aus Briefen der Mutter, deren Schilderungen Carl fremd und distanziert gegenübersteht. Durch seine Kommentare und den Wechsel der Erzählperspektive entsteht ein differenzierter Blick auf die Erlebnisse der Eltern. Hatten sie aus Carls Sicht den Westen "wie eine ihrer Wandertouren" (30) in Angriff genommen, so entwickelt sich ihre Flucht in die "Freiheit" zu einer Irrfahrt, die nicht zufällig an das Grab von James Joyce führt, der mit seinem Ulysses eine moderne Odyssee des 20. Jahrhunderts schrieb. Ihre "Wanderschaft" und das Wandern, das sich als Motivkette über den Roman zieht, nehmen teils groteske Züge an. Waren in früheren Jahrhunderten die Gesellen-Wanderschaft oder die so genannte Kavalierstour eine Zeit der Welterfahrung und des geistigen Wachsens, die die spätere Arbeit und Existenz fundierte, so sind Inge und Walter im Westen Deutschlands dem System kapitalistischer Ausbeutung als moderne Arbeitssklaven (337) ausgeliefert. Mit der Abgabe ihres DDR-Personalausweises im Aufnahmelager Gießen beginnt die Abwertung ihrer Biographie und ihrer Lebensleistung. Sie erleben die Demütigung der "Zwischenlager, Durchgangslager und Übergangswohnheime" (157), in denen "drei oder vier Ostler pro Verschlag" (162) untergebracht sind. Das Lager-Leben und dessen Vokabular offenbaren die menschenunwürdige Existenz und strafen das offiziell strapazierte Bild der "Landsleute" (157) Lügen. Carl erkennt in einem der Lager das KZ Westhofen aus Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz. Der Leser weiß, dass dort für den Kommunisten Georg Heisler die Flucht aus dem Lager Rettung bedeutete und zum Symbol wurde für den Sieg der Humanität über die Nazi-Barbarei. Inge und Walter, gezeichnet vom "Stigma ihrer östlichen Herkunft" (101), erleben ihren Weg als "Wendeschleife" (338), die sich bereits in Seilers Roman Kruso als verhängnisvoll erwies. Ihre Wanderung führt sie bis nach Amerika und zur Erkenntnis, dass sich innere Leere nicht durch Bewegung kompensieren lässt. Damit ist die Rückkehr nach Gera möglich, wo sie "ihre eigene Wohnung gekauft" (516) haben.

Der Roman Stern 111 verfügt, wie es Lutz Seiler in einem Essay beschrieb, über eine "authentische Ausgangslage", womit er "'verbürgt' und nicht beliebig" ist. Doch die Genauigkeit seiner historischen und topographischen Wirklichkeit erweist sich als "Attrappe", hinter der sich poetische Räume verbergen, aus denen dem Text eine faszinierende Mehrdeutigkeit erwächst, die es allerdings zu erschließen gilt. So suggeriert der Roman historische Faktizität, die durch Orte, Institutionen, überlieferte Ereignisse bis zum Auftreten authentischer Personen wie Heiner Müller, Jörg Schieke und Thomas Kunst beglaubigt wird. Doch das scheinbar exakt Dokumentierte erfährt eine ästhetische Überformung, die Raum und Zeit unterläuft. Seiler verfremdet Bekanntes, versieht es mit märchenhaft-phantastischen Konnotationen, die die Authentizität aushebeln. So umgibt das Roman-Geschehen eine Aura des Kriegerischen. Da ist "das Hinterland" (32) zu sichern und von einem "verlorenen Krieg" (94) die Rede, ohne dass dieser in den Geschichtsbüchern verzeichnet wäre. Carl, der nie im Krieg war, wird als "Kriegsversehrter" (62) bezeichnet, sein Vater als "Kriegsvertriebener" (29) und "Flüchtling aus dem Osten" (40), was historische Parallelen wachruft und auf die Modellhaftigkeit der Vorgänge zielt. Ragna, ein Mitglied im "Rudel", trägt sommers wie winters eine Fellmütze wie "bei einem Soldaten" (67). Der "Hirte" Hoffi und Sonie, auch So-nie, ein "Rudel"-Kämpfer, sind mitten in Berlin mit einer Hellebarde unterwegs, die an Krieger aus der Vorzeit erinnert, aber auch als Attribut von Aposteln, Märtyrern und Heiligen gilt. Seiler knüpft ein dichtes Netz mythologischer und literarischer Bezüge. Er animalisiert Menschliches, zugleich wird Tierisches vermenschlicht. Die Gemeinschaft um den Hirten erscheint als "Rudel", ein Begriff der in der Verhaltensbiologie eine Gruppe von Tieren umfasst. Hoffis Begleiter ist die Ziege Dodo, die fliegen kann. Sie ist weiß wie Amalthea aus der griechischen Mythologie, jene in eine Ziege verwandelte Nymphe, deren Milch Zeus nährte. Ihr Füllhorn symbolisiert Leben und Fruchtbarkeit. Dodos Milch hat lebensrettende und heilende Wirkungen. Hoffis Solidar-Gemeinschaft erfährt als "Rudel" mit der göttlichen weißen Ziege eine Überhöhung ins Mythische.

Zu dieser ästhetischen Überformung gehört im Roman das Spiel mit Identitäten, so dass aus Figuren Figurationen und Doppelgänger werden. Effi, Carls große Jugendliebe, der er in Berlin wiederbegegnet, heißt eigentlich Ilonka Kalász und hat ungarische Wurzeln. Sie will Malerin und Graphikern werden, was an Judit Kárász erinnert, eine ungarische Fotodokumentaristin, die am Dessauer Bauhaus studierte und die große Liebe des Schriftstellers Hans Henny Jahnn war, der das Schreiben Seilers, insbesondere seinen Roman Kruso, nachhaltig beeinflusste. Ragna, in Stern 111 die "Wildhüterin" (229), gibt es als Figur in Jahnns Roman Perrudja, in dem der Entwurf einer sozial gerechten und friedlichen Welt scheitert. Ilonka ist zugleich eine Schwester der Effi Briest Theodor Fontanes, deren Rolle sie in einer Schulaufführung spielt. Effi wird in Seilers Roman Gegenstand eines Essays. Carl schreibt sie um und erfindet sie neu. Aus der von der Gesellschaft verstoßenen Ehebrecherin ist eine alleinerziehende Mutter geworden, die sich nicht für Carl, sondern für den Vater ihres Kindes entscheidet. Die Opferrolle ist passé, man war "nie füreinander gemacht" (434). Eine ähnliche Perspektive suchte 1974 die Verfilmung der Fontane'schen Ehebruchsgeschichte von Rainer Werner Fassbinder, dessen Werk sich Carl geradezu obsessiv zu Gemüte führt. Immer wieder paraphrasieren im Roman Literatur- und Filmzitate neben Musik und Bildern das Erzählte und erschaffen den literarischen Raum neu.

Das Prinzip der literarischen Projektion, das das Figurenensemble des Romans prägt, gilt gleichermaßen für die Hauptfigur Carl Bischoff. Wie Edgar Bendler im Roman Kruso ist Carl Autor-Fiktion und zugleich Alter-Ego des Autors. Zahlreiche Details weisen auf Seilers Biographie. Dazu gehören Geburtsjahr und -ort, Lehrzeit auf dem Bau, Studienjahre in Halle bis hin zum Lyrik-Debüt und Selbstzitaten, die seinen Gedichtbänden entstammen, ohne dass eine biographische Rekonstruktion zu unterstellen wäre. Carl begegnet Edgar Bendler und Kruso in der Assel. Er erkennt in Edgar seinen "Doppelgänger" (239), was nicht auf Äußerlichkeiten zielt. Beide sind Spiegelungen des Autors. Darüber hinaus ähnelt Edgars Beziehung zu Kruso der Carls zum Hirten. Carls Eintritt in das "Rudel" vom Prenzlauer Berg vollzieht sich in einem Fieberzustand, dem übrigens auch Rilkes Malte verfällt. Er gerät durch eine "graue, stählerne Hintertür" (119) im theater 89 in einen Film, der ihn die Wirklichkeit verfremdet erleben lässt. Sein Eintritt in das Theater lässt sich als "Passage in ein poetisches Dasein" (75), in eine Welt der Kunst, der Märchen und Mythen lesen. Nicht zufällig ist das Kapitel mit "Es war einmal" überschrieben. In diesem Fiebertraum, Ausdruck der Krise und des Identitätskonflikts, erfindet sich Carl wie Edgar ein zweites Ich, ein Wunschbild, den Hirten. Das scheinbar authentische Erzählen kippt ins Phantastische.

Seilers Roman bietet für diese Lesart ein literarisches Vorbild an, das flüchtig erwähnt wird, auffallende inhaltliche Übereinstimmungen aufweist und in einem ähnlichen Vorgang den Helden in eine Traumwelt hinübergleiten lässt: Honoré de Balzacs Das Chagrinleder oder Die tödlichen Wünsche (1831). In diesem philosophisch-literarischen Roman fällt Raphael, 25-jährig wie Carl und ein ebenso erfolgloser Poet, nachdem er seinen Freitod vom Tag auf die kommende Nacht verschoben hat, in einem Antiquitätenladen in einen Fieberzustand. Im "Grenzbereich von Tod und Leben", in dem ihm seine "eigene Existenz fraglich" erscheint, entdeckt er das Chagrinleder, ein Stück Eselshaut, dessen "leuchtende Strahlen" den Eindruck erwecken, als kämen sie "von einem kleinen Kometen". Auch Raphael, durchdrungen vom Wunsch eines Poetendaseins und vom Willen zum Erfolg, hat Mutter, Vater und Besitz verloren. Er teilt Carls Schicksal einer prekären Künstlerexistenz, allerdings im Paris des Jahres 1829/30, einer Zeit der konservativ-monarchistischen Restauration. Frustriert über die gesellschaftlichen Zustände flüchtet er sich in die Arbeit und schreibt eine "Theorie des Willens". Im Fieber erträumt er sich das Chagrinleder, das ihm Erfolg und Reichtum verschafft, ihn aber zugleich seines eigenen Lebens, seiner Freiheit beraubt und Tod bedeutet. Auf Balzac weist auch anderes in Seilers Roman. So nutzt er die Technik der Wiederkehr von Personen in mehreren Werken, die Balzac in seinem vielbändigen Opus Die Menschliche Komödie, zu der Das Chagrinleder gehört, erstmals in die Literatur einbrachte. Damit ist die Tradition des großen realistischen Romans aufgerufen, der ein Panorama der bürgerlichen Gesellschaft entfaltete und diese kritisch untersuchte. Wenn Balzac in seinen Gesellschaftsanalysen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das im Zuge der industriellen Revolution die kapitalistische Produktionsweise zur vollen Entfaltung brachte, das Kapital als die alles beherrschende Macht herausstellte, so lässt sich dieser Befund mühelos auf Seilers Gesellschaftsstudie übertragen, in der die Wiedereinführung des Privateigentums facettenreich nachgezeichnet und die Frage nach den Möglichkeiten des Einzelnen gestellt wird, sich eine sinnerfüllte und schöpferische Existenz in einer Welt der Kommerzialisierung zu bewahren. Carl, fasziniert von Balzacs Theorie des Gehens (1833), entdeckt das Zusammenspiel von Gehen - am besten mit Werkzeug - und Denken, was ihn zu schöpferischer Arbeit führt. Gehen, Gänge und Schritte, die Balzacs Physiognomie des Gehens abgelauscht scheinen, bilden eine prägnante Motivkette im Roman, erinnern aber auch an Immanuel Kants Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in dem dieser formulierte: "Der erste Mensch konnte also stehen und gehen, er konnte sprechen [...], ja reden, d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken". Die Fähigkeit zu denken, versetzte den Menschen nach Kant in den "Stande der Freiheit", seine Lebensweise zu wählen, was künstlerische Arbeit erst möglich machte und zugleich Verantwortung für den Gang der Geschichte bedeutete.

Die Fäden in Seilers Roman, von denen hier einige aufgenommen wurden, laufen immer wieder auf die Themen "Arbeit" und "Freiheit" zu. "Freiheit macht Arbeit" erklärt der Hirte seiner Gemeinschaft, worauf eine "Kriegerin" erwidert: "Freiheit ist Arbeit" (114). Carl ist ein Arbeiter, einer "der die Arbeit sieht" (419) und der Hoffis Maximen verteidigt: "Die Freiheit, frei zu sein, ist das Erste, was gelernt werden muss, und zwar möglichst schnell. Ansonsten schlagen Revolutionen immer in ihr Gegenteil um" (275), mahnt er. In dieser Passage wird Hannah Arendts Essay Die Freiheit, frei zu sein, zitiert, in dem sie im Rückgriff auf den Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau über das Verhältnis von Revolution und Freiheit nachdachte. Thoreau hatte provokant gefragt: "Ist es die Freiheit, Sklave zu sein, oder die Freiheit, frei zu sein, auf die wir stolz sind?" Arendt postulierte, dass Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten das Ergebnis von Befreiung seien, aber keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, die den Anspruch auf ein politisches Leben und auf eine neue Regierungsform umfasse, was in Seilers Roman als Experiment und Traum vom Volkseigentum plus Demokratie gedacht werden kann. Ein Traum, den Kant in seiner Schrift als "Sehnsucht" der Dichter bezeichnete, der er die Vernunft entgegensetzte, dem "Leben durch Handlungen einen Wert zu geben".

Das Chagrinleder, in Balzacs Roman Symbol des Geldes, versklavt seinen Besitzer. Es ist mit dem Siegel Salomons versehen, einem sechsstrahligen Stern. Wer wie Carls Eltern diesem Stern, "dem Ruf des Goldes" (57), folgt, seine Arbeit verlässt und sich seiner Verantwortung für sein Eigentum und für den Gang der Geschichte entzieht, dem bleibt am Ende die Besichtigung des käuflichen Sterns seines Idols Bill Haley auf dem Walk of Fame. Carl ist "vom anderen Stern" (131). Dieser ist im Stern 111 aufgehoben, dem ersten DDR-Kofferradio seiner Familie, etwas, woran sich schließlich auch die Eltern erinnern und "das gut und richtig war im alten, vorigen Leben" (340). Damit gewinnt Carl die Deutungshoheit über sein Leben zurück. Stern 111 bleibt ein "Leitstern für die Reise." (340) Doch die historische Chance auf "die Freiheit, frei zu sein", ist vertan. "Die meisten Schiffbrüchigen scheiterten erst nach ihrer Heimkehr" (9), heißt es eingangs im Roman. Carl Bischoff ist ein solcher Heimkehrer, der das Ideal einer sozial gerechten Gemeinschaft, in der sich, wie Marx formulierte "jeder nach seinen Fähigkeiten" (386) entfalten kann, verabschiedet und seine "Passage in ein poetisches Dasein" neu ausrichtet. Sein Wunschbild, der Hirte, vergeht wie Kafkas Hungerkünstler, und Tiere wie Dodo gehören in den Zoo. "Die letzte Zukunft war vorbei, aber das Motto stimmte noch." (386). Was bleibt, ist, wie es das Chagrinleder modellhaft entwirft, das Denken als "Schlüssel zu allen Schätzen", das das Kunstwerk ermöglicht.

In seinem Essay Von Rom nach Hiddensee, der 2015 erschien, hat Lutz Seiler die Schwierigkeiten auf dem Weg zu seinem Romanerstling Kruso beschrieben. Konturen von Stern 111, der das Ringen um eine poetische Existenz, um eine eigene "Gangart", problematisiert, sind bereits in diesem Text erkennbar. Stern 111 ist ästhetisch ebenso anspruchsvoll wie Kruso und besticht in seinem lyrischen Erzählton und seiner unverbrauchten, vielfarbigen Sprache, die sich auch in erotischen Szenen neu erfindet. Was Stern 111 gegenüber seinem Vorgängerroman auszeichnet, ist die Leichtigkeit des Erzählens, die den Leser in den Bann zieht. Dass er den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 erhalten hat, ist nur verdient, ebenso, dass er inzwischen die Bestseller-Listen anführt.


Zitate aus:

Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthensohn. München 2018.

Honoré de Balzac: Das Chagrinleder. Übersetzt von Hedwig Lachmann. Neuausgabe. Berlin 2016.

Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. (1786) In: Kant's Gesammelte Schriften. Bd. 8. Berlin/Leipzig 1923.

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig 1982.

Lutz Seiler: Sonntags dachte ich an Gott. Aufsätze. Frankfurt am Main 2004.



Lutz Seiler
Stern 111
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2020
24,00 Euro
ISBN 978-3-518-42925-9

21. April 2020


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