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REZENSION/033: Saša Stanišić - Herkunft (SB)


Saša Stanišić

Herkunft

von Christiane Baumann


"Einer wird überleben, um zu erzählen ..."

Herkunft - Saša Stanišić' bewegende
Familien-Geschichte

Ein Buch, "das mich brennen würde, wie das Leben mich brennt", wie Christa Wolf einmal sagte, findet man nicht so häufig. Wolf verband mit dem "Brennen" den Anspruch, dass Prosaliteratur die "Lebensprobleme vieler Menschen, ganzer Schichten" zur Sprache bringt, dass sie nicht allein kunstvoll gebaut ist, sondern sich den drängenden sozialen Fragen ihrer Zeit stellt. Herkunft von Saša Stanišić ist ein solches Buch und hat es bereits auf die Bestsellerlisten geschafft. Erzählt werden Kindheit und Jugend des Saša Stanišić und auch wieder nicht, denn im "Zuhause" des Erzählers "wohnen die Fiktionen" (170), die seine Erinnerungslücken füllen. "SPIEL, ICH UND KRIEG" - so lautet eine Kapitelüberschrift, die als programmatische Klammer dieser Erinnerungen verstanden werden kann. Fiktion, so heißt es dort, "ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt" (20). Diese "Reibungen" sind es, die Herkunft bedeutsam machen, denn mit ihnen verbindet sich der Versuch einer politischen Standortbestimmung.

Der Autor ist unschwer im Erzähler zu erkennen. Geboren am 7. März 1978 in Višegrad im damaligen Jugoslawien und heutigen Bosnien-Herzegowina als Sohn einer Politologin, einer Marxismus-Dozentin, und eines Betriebswirtes muss er im April 1992 mit seiner Familie das Land verlassen, um den ethnischen Säuberungsaktionen serbischer Einheiten zu entgehen. Seine Mutter ist Atheistin, hat aber muslimische Wurzeln, die sie plötzlich zur "Muslima" werden lassen. Kurz nach ihrer Flucht gehen "die ersten muslimischen Häuser in Flammen auf" (118). Es ist der Beginn des Bosnienkrieges, der bis 1995 dauern wird und an dessen Ende der Zerfall Jugoslawiens steht. Die Vernichtung dieses einst mächtigen Vielvölkerstaats wird als Verlust erzählt, vor allem aber als Verlust der Idee von einer sozial gerechten Gesellschaft, die sich mit dem Sozialismus verband und zu der sich der Erzähler bekennt: Arbeit, soziale Absicherung, Bildungsgleichheit, Solidarität. Erzählt wird von der einst selbstbewussten sozialistischen Republik Jugoslawien, die aus dem Zweiten Weltkrieg mit Tito zu einem Machtfaktor wurde, von den Kriegen ab 1991, die diesen Staat vernichteten und von Flucht, Heimatverlust und der schwierigen Ankunft in Deutschland, in dem man sich "mit Fremden ein fremdes Leben in der Fremde" (121) teilt.

Integration wird zu einem Prozess der Anpassung bis zum Verdrängen und Verleugnen der eigenen Identität. Dies führt den Erzähler in eine Krise, die ihn zwingt, sich seines "Ichs", seiner Vergangenheit, zu versichern. Geboren in einem Land, dass es nicht mehr gibt, geprägt von einer Gesellschaftsutopie, die zerbrach, wohnhaft in Hamburg mit einem deutschen Pass und entfremdet den Eltern und der Familie, die in alle Welt verstreut lebt, stellt sich dem vierzig Jahre alten Ich-Erzähler nachdrücklich die Frage nach seiner "Herkunft", nach seinen familiären, kulturellen und sozialen Wurzeln. Auslöser für das Erinnern ist im Jahr 2016 der Ausbruch der Demenz bei seiner noch in Višegrad lebenden Großmutter Kristina. Sein Erzählen bildet den Kontrapunkt zu ihrem Erinnerungs- und Identitätsverlust. Es vollzieht sich zugleich vor einem brisanten gesellschaftlichen Hintergrund, der Flüchtlingskrise 2015, und damit in einer Zeit, "in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei [...], als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde." (62)

In diesem persönlichen und gesellschaftlichen Spannungsfeld bewegt sich das Erzählen, das erschütternde Schlaglichter zum Bosnienkrieg und zugleich bewegende Milieustudien vom Rand unserer Gesellschaft liefert und gnadenlos dokumentiert, was es auch in Deutschland heißt, Flüchtling zu sein. Beschrieben wird der soziale Abstieg der Eltern, die froh sein müssen über jeden schlecht bezahlten Job. Die Mutter, "Expertin" für Ausbeutung, wird nun selbst in einer Wäscherei ausgebeutet. Da das Geld für eine Fahrt ins Schullandheim fehlt, bleibt der Erzähler zu Hause mit anderen Flüchtlingen und sozial Benachteiligten. Was die Zurückbleibenden verbindet, ist, "gemeinsam etwas Geiles [zu] verpassen" (157). Die ARAL-Clique, in der sich "Abgehängte" zusammenfinden, wird zum Anker, weil sie das für Jugendliche Wichtigste ermöglicht: Gemeinschaft, "dass jemand mit dir Zeit verbringen möchte" (162).

Die von Stanišić in dokumentarischem Stil mit präzisen Orts- und Zeitangaben überaus akribisch ausgebreitete Kindheit und Jugend zielen auf Authentizität. Daten und Fakten beglaubigen: Seine "Herkunft ist Krieg" (66) und dieser vernichtet alles: Identität und Familie, Wohlstand, Kultur und ein solidarisches Miteinander. Diese Kindheit lässt sich nur "dissonant" (193) erzählen. Heimat ist für den Ich-Erzähler kein Ort, allein "die Sprache wird weiterfließen. Einer überleben, um zu erzählen." (286) Diese Erzählungen sind aufbewahrt in den Mythen der Völker, für die in Stanišić' Buch der Ort "Oskoruša", an dem die Geschichte seiner Familie begann, zum Symbol wird.

Die mythologische Ebene wird dem dokumentarischen Erzählen entgegengesetzt, was zu ästhetischen Brüchen und zu einer stilistischen Disharmonie führt, die dem Erlebten zu entsprechen scheint. Zur Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens als Dokumentation der Zerstörung und Vernichtung tritt eine "Urszenerie" (49), in der das menschliche Sein wurzelt und die der Poesie Räume öffnet. Eingewoben in die unvorstellbaren Schrecken des Krieges ist der biblische Mythos vom Baum der Erkenntnis und der Schlange als Verführerin des Menschen. Doch der Mythos erfährt eine Umdeutung. Der Heilige Georg, Drachentöter und Bezwinger des Bösen, wird selbst zur "Bestie" (49). Oskoruša, noch in den 1980er Jahren ein Ort mit hundert Bewohnern, ist inzwischen menschenleer, dem Verfall preisgegeben und damit ebenso vom Aussterben bedroht wie der im Serbokroatischen gleichnamige Obstbaum, der Speierling, von dem es in der Mythologie heißt, er gewähre dem Menschen Schutz vor bösen Geistern. Es bleibt die "Zunge der Schlange, die Sprache des Dichters" (227), die Zuflucht und Heimat zu sein vermag. Das sind Gedichte von Friedrich Hölderlin und vor allem von Joseph von Eichendorff und die Erkenntnis: "Die Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, sind quasi unendlich." (229) Diesem Ansatz folgend, endet das "Selbstporträt mit Ahnen" (49) in einem Spiel. Der Leser wird zum Subjekt der Geschichte, kann bei der Lektüre selbst entscheiden, wie es weitergeht. Den Tod der Großmutter vermag er nicht zu verhindern, aber ihm eröffnen sich Möglichkeiten, denn er hat im Leben immer auch eine Wahl. Und so schließt sich der Kreis um "SPIEL, ICH UND KRIEG".

Saša Stanišić
Herkunft
München, Luchterhand 2019
350 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-630-87473-9

9. Juni 2019


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