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REZENSION/028: Irina Liebmann - In Berlin (SB)


Irina Liebmann

In Berlin

von Christiane Baumann


Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer: Beim Wiederlesen von Irina Liebmanns Roman In Berlin

Im aktuellen politischen Diskurs ist neuerdings häufiger von der vernachlässigten ostdeutschen Identität zu lesen und zu hören. Nicht eingelöste Erwartungen und Enttäuschungen infolge der Wiedervereinigung nach westdeutschem Gusto sowie eine noch ausstehende beziehungsweise undifferenzierte Aufarbeitung der DDR-Geschichte würden 30 Jahre nach dem Mauerfall mit Macht an die Oberfläche drängen. Der Zuspruch, den der Film Gundermann (2018) von Andreas Dresen erhielt, scheint solche Deutungsmuster zu bestätigen. Das Leben Gerhard Gundermanns, DDR-Liedermacher, Texter der Erfolgsband Silly, Baggerführer und Stasi-IM, zeigt eindrucksvoll, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt und dass es notwendig ist, DDR-Biografien in ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu verstehen. Stempel wie "Ostalgie" oder "ewig Gestrige" sind wenig hilfreich, stellen aber differenziertere Perspektiven auf die DDR schnell in die Ecke des Indiskutablen. Dahinter verschwindet meist der Anspruch einer Vielzahl von Menschen, die in der DDR eine solidarische, sozial gerechtere und demokratischere Gesellschaft schaffen wollten. Der Schriftsteller Christoph Hein sagte vor Jahren in einem Interview, wer wirklich etwas über die DDR erfahren wolle, der müsse Bücher lesen, die in dieser Zeit geschrieben wurden (Spiegel, 9. April 2004). Eine Autorin, die in dieser Zeit Bücher schrieb, war Irina Liebmann.

Irina Liebmann debütierte 1982 in der DDR mit dem Prosa-Band Berliner Mietshaus. Er enthielt reportageartige Skizzen über die Bewohner eines Hauses am Prenzlauer Berg. Maxi Wanders Tonbandprotokolle Guten Morgen, du Schöne hatten 1977 für Schlagzeilen gesorgt. Auch Christine Lambrechts "freimütige Protokolle" Männerbekanntschaften (1986) könnten, neben anderem, genannt werden und belegen einen Trend zum Dokumentarischen in der Literatur der DDR um 1980, mit dem Autoren auf das Auseinanderfallen von idealem Anspruch und erlebter Wirklichkeit reagierten. Authentizität verbürgte Wahrheit: "Kein Kommentar, keine Bildunterschrift, dafür ein lebendiger Augenblick" (172), so beschreibt Liebmann diese Intention im Nachwort zu ihrem 1988 in der DDR begonnenen, 1994 erstmals erschienenen und jetzt, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, neu aufgelegten Roman In Berlin. "Ich schreibe nur auf, was ich selber gesehen habe, selber empfunden und werde damit keine Absicht verfolgen." (173) Das erinnert an das surrealistische Experiment des automatischen Schreibens, wird jedoch durch den Anspruch einer in den 1980er Jahren in der DDR "politisierten Generation" (172) gebrochen, auch durch den Schreibstil, in dem "Biographie, Erinnerung und Kommentar" (1), Geschichte und Gegenwart, erlebte und erzählte Wirklichkeit eine ungewöhnliche Symbiose eingehen. Dieser Stil prägt den Roman In Berlin, in dem die Erzählerin "der Liebmann" gegenübertritt, die letzten Monate in der DDR, ihren privilegierten "Austritt" aus diesem Land 1988 mit einem Reisepass, der es ihr ermöglichte, zwischen Ost und West zu pendeln, und die Wendezeit reflektiert. Die Erzählerin erlebt diese Zeit als schizophren, als einen Zustand des Nicht-Loskommens vom Osten und des nicht Ankommens im Westen, als innere Zerrissenheit, die der Spaltung des geteilten Berlins und später des wiedervereinten und doch durch Welten voneinander getrennten Ost- und Westteils entspricht.

Berliner Mietshaus, In Berlin, Stille Mitte von Berlin (Essay 2002) - Berlin, das ist Liebmanns Thema und lässt an Großstadtromane wie Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin denken. Die als Tochter des Journalisten, Kommunisten und während des Nationalsozialismus nach Russland emigrierten Rudolf Herrnstadt und seiner russischen Frau Valentina 1943 in Moskau geborene Liebmann kam 1945 mit ihren Eltern nach Berlin zurück. Ihr Vater wurde in der sowjetischen Besatzungszone zu einer Schlüsselfigur beim Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Presse. Er war Gründer der Berliner Zeitung und Chefredakteur des Neuen Deutschland. Die Familie lebte privilegiert, bis der Vater aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber der SED-Führung und vor dem Hintergrund der Ereignisse um den 17. Juni 1953 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Liebmann meldete sich in den 1970er Jahren mit ersten Hörspielen zu Wort. Ihr Buchdebüt Berliner Mietshaus 1982 machte sie schnell bekannt, weil sie Bilder der Desillusionierung und Stagnation einfing, die in dem Statement von Stefan und Regina S. gipfelten: "Nur eine Volksbewegung kann die Menschheit retten, sagt Stefan. Das wird nie sein, sagt Regina. Vielleicht doch, sagt Stefan. Das wäre Revolution, sagt Regina." (2) Eine Revolution im Staat der Arbeiter und Bauern? Das war Ketzerei.

Der Roman In Berlin, der nicht mehr in der DDR erschien, beschreibt die Entfremdung des Individuums in der Gesellschaft, in der Klassenkampf nur noch eine Phrase ist, in Bildern der Erstarrung, des Stillstands und Rückzugs. Man lebt in seiner Wohnung, einer "Höhle" (13), wie in einer Wartehalle. Das Leben wird zur "HALTESTELLE" (18). Man wartet mit "ausgeschlagenen Augen" (18) auf das Visum, die Ausreise, will "bloß weg hier", "sich davonmachen" (15), fühlt sich wie ein "Geist" (20) neben seinem Leben. In der Erzählerfigur, die neben der Autorin steht, von dieser als "der Liebmann" in der dritten Person berichtet und sie so zum Objekt werden lässt, materialisiert sich der Identitätskonflikt. "Die Liebmann" bürgt zudem für Authentizität. "Warum will sie weg und wohin [...]?" (104) Gesellschaftliche Veränderung scheint im Osten nicht mehr möglich. Also "Austreten" aus diesem Land, Aufbruch in die Fremde. Doch so mancher "will weg, dabei will er gar nicht" (17). "Die Liebmann steht wie ein Feind vor den Schaufensterscheiben" im Berliner Westen (135). Die Liebe zu einem Westberliner Filmkritiker - sie trägt nicht. "Irgendwas an Westberlin ist nicht wahr." (137). Sie sucht etwas Anderes. Weder der Reisepass noch der Fall der Mauer löst den Identitätskonflikt. Die Flucht in den Westen erweist sich als Flucht vor sich selbst. Sie bricht auf zu einer anderen Reise, die sie zu ihren Wurzeln führt. Sie beginnt, sich "im Spiegel" zu erkennen: "Ich bin in dem Spiegel drin" (146). Unsicher fragt die Erzählerin: "Dann wäre im Spiegel mein Innerstes, das Verborgenste also, das, was ich nicht weiß, so sichtbar, so vor meinen Augen?" (151) Sie blickt in den "Spiegel des Wassers", wie ihn der Psychologe Carl Gustav Jung nennt, wagt Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis. Das Scheitern des Vaters, der 1953 als überzeugter Kommunist und im Namen der Sache Ulbrichts Rücktritt gefordert hatte, war das Familiengeheimnis - "der größte Sieg ein Geheimnis" (149). Das bedeutete Verrat an den eigenen Idealen und wurde zu einer Chiffre für verlorenes Vertrauen, die sich durch das Leben der Erzählerin zieht. "Da war wohl Ende" (127) - begreift die Erzählerin, deren individuelles "Nicht-Gelingen" (174) als Teil des Scheiterns einer Gesellschaftsutopie sichtbar wird. Plötzlich ist sie "in Berlin", das "offen" (163) vor ihr liegt. Erst jetzt wird der unverstellte Blick auf die Wirklichkeit, auf Ost und West möglich.

"Ins Offene, Freund!" (172) Liebmann zitiert in ihrem Nachwort Friedrich Hölderlins berühmte Elegie. Der Roman In Berlin, die Bilder und Episoden aus der Endzeit der DDR mit all ihren Hoffnungen und Irrtümern, dieses Leben in einer Welt, in der das "Wir" noch einen Klang hat ("Wir kennen uns alle von dort", 153), sich aber angesichts von Bespitzelung und Verrat zugleich als brüchig und als Illusion erweist, ist Abgesang und Aufbruch aus der geistigen Enge in eine erhoffte Offenheit. Diese ist jedoch nicht in den Glitzer-Fassaden und Kaufhaus-Schaufenstern des Westens zu finden. Das "mit der Zeit Mitschreiben" legt keine "unerhörten Wichtigkeiten" (174) oder "historischen Ereignisse'" (175) offen, sondern reproduziert in den Momentaufnahmen das immer gleichbleibende Auseinanderfallen von Schreiben und der "ringrum behaupteten Wirklichkeit" (174). Es erzählt vom Identitätsverlust, von Entwurzelung und den Schwierigkeiten des Ankommens in einer gesamtdeutschen Wirklichkeit und liefert damit alltägliche Befunde, die sich in Geschichtsbüchern nicht nachlesen lassen, die Klischees aufbrechen und zu einem differenzierten Geschichtsbild beitragen. Das Offene, von dem hier die Rede ist und das individuelle Freiheit verheißt, wird zum Fluchtpunkt gescheiterter Hoffnungen und des noch nicht Eingelösten, dem nur die Kunst Gestalt zu geben vermag.


Anmerkungen:
(1) Irina Liebmann, Berliner Mietshaus. Begegnungen und Gespräche, Halle-Leipzig 1982, S. 5.
(2) Ebd. S. 34.


Irina Liebmann
In Berlin
Roman. Mit einem Nachwort der Autorin
Frankfurt am Main, Schöffling & Co 2018
175 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-89561-257-2

31. Januar 2019


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