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REZENSION/022: Roland Berbig (Hg.) - Auslaufmodell "DDR-Literatur", Essays und Dokumente (SB)


Roland Berbig (Hg.)

Auslaufmodell "DDR-Literatur"
Essays und Dokumente

von Christiane Baumann


Auslaufmodell "DDR-Literatur" - Vom Fehlen eines Fragezeichens in einem neuen Band zur Literatur in der DDR

Wenn die Hälfte der 32 im Band Auslaufmodell "DDR-Literatur" abgedruckten Schriftstellerstatements zur Frage, ob man sich vor der Wende als DDR-Autor betrachtete, ein "ja" oder ein "ja und nein" enthält, ist es legitim, den vom Herausgeber Roland Berbig "vorsichtig" abgelesenen "Trend" (417) eines Selbstverständnisses als deutscher Dichter kritisch zu hinterfragen. Tatsächlich handelt es sich ja nicht um Gegensätzliches. In der DDR beheimatete Autoren schrieben in deutscher Sprache und sahen sich selbstverständlich in die deutsche Literaturtradition gestellt. Noch schwieriger wird es bei einem Blick auf die Antworten zum Begriff "DDR-Literatur". Das Denunziatorische der Fragestellung, ob man meine, der Begriff sei "'verbraucht' und nicht länger tauglich" (416), deutet auf eine ideologisch überformte Sicht. Provokante Antworten von Autoren wie Christoph Hein oder Volker Braun überraschen somit nicht. Weist Hein mit feiner Ironie auf die schlesische Dichterschule, so Volker Braun unter Hinweis auf Karl Mickel auf den "stereometrischen Blick" der DDR-Literatur, auf eine "doppelte Erfahrung", "nach dem Zusammenbruch eines Weltreichs" (443). Mickel hatte 1999 vom subversiven Potenzial einer DDR-Literatur geschrieben, die "in zwei Welten lebte" und "angekommen [sei, C.B.] in der ersten Welt, die die dritte wird". Als "beschädigt" (467, Freya Klier) wird der Begriff zuweilen empfunden. Die Frage im Beamtendeutsch, ob der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich der BRD das dichterische Selbstverständnis verändert habe, reizt zu humorvoller Kommentierung, wie bei Richard Pietraß: "so aktengenau wie Frage zwei dampft mein Stampfkartoffelbrei, durch den dänische Kartenbutter und sächsische Schulmilch fließen, beileibe nicht" (459). Bietet Hermann Kant DDR-Literatur als "deutsche Literatur aus einem sozialistischen Land" (420) an, so geht Reiner Kunze unprätentiös mit dem Begriff um, indem er darunter die in der DDR geschriebene Literatur subsumiert. Friedrich Dieckmann weist auf die Notwendigkeit "objektiver Bestimmungen" (436), auf das "territoriale Kriterium", dem politisch-soziale Implikationen" (437) eingeschrieben sind, die seine Prägnanz ausmachten. Diesem Denkansatz ist auch Thomas Böhme verpflichtet, der auf die historischen Entstehungsbedingungen von Literatur verweist, sich dezidiert gegen eine ideologische Vereinnahmung wendet und erklärt, dass dieser Begriff für ihn "die Gesamtheit der in der DDR geschriebenen und publizierten Bücher" (479) umfasse. Das gelegentliche Unbehagen dem Begriff gegenüber bringt Jens Sparschuh auf den Punkt: "man verkoppelt die eigenen Arbeiten nicht gern mit einem Staatswesen, das untergegangen ist" (481).

Bemerkenswert ist: Ungeachtet der unterschiedlichen Befindlichkeiten entfaltet sich im vielstimmigen Kanon der Enquete ein Problembewusstsein, das zahlreiche Anknüpfungspunkte liefert, weil es den historisch konkreten Entstehungsbedingungen und kulturpolitischen Mechanismen nachfragt, die das literarische Leben und den literarischen Prozess in der DDR prägten sowie die soziale Funktion von Literatur thematisiert. Roland Berbig nimmt in seinem Eingangsstatement "DDR-Literatur - archiviert" diese Angebote und Fäden der Autoren nicht auf, weist explizit eine "Reaktivierung" (44) der Diskussion zum Begriff "DDR-Literatur" zurück. Er will den Begriff ganz verabschieden, bedient sich aber im Titel des Markenzeichens "DDR-Literatur", zumindest als Relikt, gern. Die Umfrage soll diesen Ansatz legitimieren, was sich angesichts der Autoren-Statements als problematisch erweist.

Anknüpfend an Wolfgang Emmrich, sucht der Band die literarischen Felder in ihrer Ost-West-Verzahnung auszuschreiten, um die These einer deutschen Literatur zu untermauern. Nun ist gegen eine Studie zu offiziellen und inoffiziellen ost-westdeutschen Literatur- und Verlagsbeziehungen bis 1989 nichts einzuwenden. Es zeigt sich jedoch, dass die Untersuchung, die ein "von Scheuklappen befreites Eindringen in Nach- bzw. Vorlasswelten" (22) beansprucht, tatsächlich ein ideologisch geprägtes Verständnis von "DDR-Literatur" zum Maßstab macht. Da avanciert die zu DDR-Zeiten "gänzlich andere, übersehene, unterdrückte Literatur", die sich mit den Ausgewiesenen, Ausgereisten und nicht Systemkonformen, von Helga M. Novak bis Richard Leising, verband, zur "eigentliche(n)" (226). Parallel kommt es zu Ehrenrettungen von in der DDR gebliebenen, vermeintlich angepassten Autoren wie Irmtraud Morgner. Dass sich Morgner während eines Gastaufenthaltes an der Universität Zürich als "Autorin im Niemandsland" bezeichnete, berechtigt nun, "sie nicht mehr ohne weiteres als ,DDR-Autorin'" (143), was hier als abwertendes Etikett fungiert, abzustempeln. Auch Franz Fühmann, dessen Probleme mit der Macht in der DDR ein offenes Geheimnis waren, der dennoch blieb und desillusioniert über West und Ost schrieb: "Dort der Markt, da die Doktrin", kann aufgrund seiner subversiven Zeitungsausschnittsammlungen nun als systemkritisch vereinnahmt werden: "Wer noch immer vermeint, Fühmann als Verkörperung jener anderen, eigentlichen ,DDR-Literatur' in Anspruch nehmen zu können, dem ist dringlich zu raten, diesen nur scheinbaren Nebenpfad seiner schriftstellerischen Tätigkeit sorgfältig abzuschreiten" (176). Die ewig Gestrigen mögen es hören! Die "eigentliche" DDR-Literatur ist nun die von DDR-offizieller Seite in Anspruch genommene, in die ein Franz Fühmann nicht (mehr) hineingehört. Er wird zum "böhmisch-österreichische(n) Autor, der bis zu seinem Tod 1984 in der DDR lebte" (164). Die "Fragwürdigkeit einer DDR-Rückbindung" (32) treibt merkwürdige Blüten. Ganz abgesehen davon, dass wohl niemand auf die Idee verfallen würde, Günter Grass als pommerschen Schriftsteller zu bezeichnen, der bis zu seinem Tod nicht nach Polen zurückkehrte, sondern in der BRD blieb. Wohlbemerkt: Die Herkunft, biographische Wurzeln und Prägungen, sozial, geistig-kulturell, topographisch, sind für die Interpretation und Erhellung von Leben und Schaffen unverzichtbar. Doch das Etikett "DDR-Literatur", einst, wie im Band feinsinnig von Elisabeth Borchers, Autorin und einflussreiche Lektorin im westdeutschen Suhrkamp-Verlag, bemerkt, "en vogue" und eine Ware, die sich profitabel vermarkten ließ, firmiert hier als Makel, von dem man befreit werden oder den man angeheftet bekommen kann. Der Autor Jürgen Rennert spricht von einer Zugehörigkeit, die "seit 1990 mehr oder minder diktatorisch von biegsamen Intellektuellen eines anderen gesellschaftlichen Systems staatsnah entschieden" (450) wird. Ein von "Scheuklappen befreites Eindringen" in die Archive, das dem "Phänomen" der Literatur in der DDR auf die Spur kommen will, sollte sich den Luxus leisten, auf politische und ideologische Schubkästen zu verzichten und diese Literatur vielmehr historisch kontextuiert in ihrer Gesamtheit, Prozesshaftigkeit, Widersprüchlichkeit und ihrem Spannungsverhältnis zwischen offizieller Doktrin und individueller Selbstbehauptung betrachten.

Nimmt man dies als Ausgangspunkt, laden die im Band ausgebreiteten Archivmaterialien, darunter Briefe, Tagebuchnotizen, kommentierte Zeitungsausschnittsammlungen, Nachlassporträts, sowohl individualbiographisch als auch auf den literarischen Prozess in der DDR bezogen, zu einer vertiefenden Beschäftigung mit Texten und deren Produktionsbedingungen ein. Zu nennen sind insbesondere Irmtraud Morgners Züricher Notizen, die kommentierten Zeitungsausschnittsammlungen von Franz Fühmann und Richard Leising, die Einblicke in den Nachlass Leisings, der aus Gründen der Zensur und aus Angst vor möglichen Repressalien in der DDR fast nichts publizierte, den Briefwechsel des prominenten DDR-Literaturwissenschaftlers Dieter Schlenstedt mit Heinz Czechowski, die Korrespondenzen von Günther Kunert und Jean Améry oder zwischen Verlagsgrößen wie Fritz J. Raddatz und Roland Links. Eine Entdeckung ist zweifellos das Porträt des Geschichtenerzählers Jan Feustel, Sohn der berühmten DDR-Kinderbuchautoren Ingeborg und Günther Feustel. Als substantiell erweist sich das Interview mit Angela Drescher, einer erfahrenen Lektorin des einstigen Aufbau Verlages, die Einblick in das alltägliche Verlagsgeschäft gibt und auch den personellen Kahlschlag in DDR-Verlagen nach der Wende thematisiert: "keiner der entlassenen Kollegen bekam je wieder als Lektor Arbeit" (243).

Drescher, einst Lektorin Christa Wolfs, weist auf den entscheidenden Punkt im Umgang mit Archivmaterialien, wie sie der vorliegende Band versammelt: "Man muss sich einlassen, auch auf Nebenwege, muss neugierig bleiben. So viele Spuren verwischen oder sind verwischt worden." (244) Damit stellt Drescher auf die Verantwortung des Spurensuchers ab, der die Archivalien auszuwerten, zu interpretieren und einzuordnen hat, was subtile Kenntnisse zum politischen, kulturpolitischen und literarischen Background der DDR verlangt. Diese Vernetzungs- und Verortungsarbeit lässt der vorliegende Band an vielen Stellen vermissen. Der Lyriker Georg Maurer wird in seinen Wurzeln als Siebenbürger Sachse präsentiert, der sich durch die nationalsozialistische Ideologie vereinnahmen ließ, was in Widerspruch zu seinem späteren Wirken in der DDR gestellt wird. Die Bruchstelle, die Zeit seiner sowjetischen Kriegsgefangenschaft, die, wie bei vielen seiner Generation, sein Denken veränderte, wird nicht problematisiert. Das, wie die Herkunft aus Sächsisch-Regen in Rumänien, ist bereits in Literaturgeschichten aus der DDR-Forschung nachzulesen.[1] Allein, dass Maurer Siebenbürger Sachse war, sagt jedoch für "die DDR-Literatur" (69) - der Begriff wird von Michaela Nowotnick unreflektiert gebraucht - nichts aus, zumal Bezüge zur DDR-Kulturpolitik der Zeit fehlen. Julia Frohn, die sich ostdeutscher Literatur im Suhrkamp Verlag in der Ära Elisabeth Borchers annimmt, diese als "einzigartige Figur im deutsch-deutschen Literaturaustausch" (99) würdigt, stößt auf einen entscheidenden Unterschied des Buchgeschäfts in Ost und West. Waren in der DDR Zensur und Druckgenehmigungsverfahren zu überstehen, zählten für Borchers nur "ökonomisch vielversprechende Titel" (99), der Profit. Dass "Borchers zuweilen selbst als Zensorin auftreten musste" (99), zum Beispiel im Fall eines Stephan Hermlin-Bandes in der "West"-Ausgabe drei Texte gestrichen wurden, die u.a. die "Braune Presse" anprangerten, wird als legitim hingenommen. Während Katrin von Boltenstern ein subtil gezeichnetes Nachlassporträt zu Richard Leising gelingt, wirkt das von Sabine Sprenger zu Kurt Bartsch unfertig, insbesondere die Frage, "welche Motive, Gegenstände und Probleme" die in der DDR geschriebene Literatur aufzuwerfen "gedachte" (387), irritiert mit dem Blick auf den künstlerischen Transformationsprozess. Plattitüden wie "DDR-Literatur" sei "unter völlig anderen Bedingungen" entstanden "als jene in Westdeutschland" (387) konterkarieren zudem den Titel des Bandes, dem ein Fragezeichen angesichts sich häufender widersprüchlicher Terminologie gut zu Gesicht gestanden hätte. Manches wäre verzichtbar gewesen, liefert es doch bestenfalls punktuelle Befunde, die zudem nicht neu sind, so der Kahlau-Beitrag von Hannes Schwenger oder Karl Mickels Briefe an Heinz Czechowski. Bedeutsam ist die Aufnahme zweier Briefe Hermann Kants an Erich Honecker, in denen der einstige Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes gegen politische Entscheidungen im Kulturbetrieb intervenierte und die nachdrücklich auf die noch ausstehende historisch-kritische Aufarbeitung der DDR-Kulturpolitik und ihrer Repräsentanten weist. Insofern regt der Band zur Diskussion an, auch darüber, wie weitere Landnahmen aussehen könnten. Wenn Roland Berbig allerdings einen Grobfilter mit "Staatsbürgerschaften", "Wohnorten", "Reisetätigkeiten" "Mitgliedschaften in DDR- und internationalen Vereinigungen und Gremien (eingeschlossen Parteizugehörigkeit) für eine "statistische Aufarbeitung und Aufbereitung" (32) eines Netzes im lebensgeschichtlichen Wandel zur Diskussion stellt, dann wirft das nicht nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit auf, dann wird Literatur der DDR nicht mehr archiviert, sondern verwaltet.

Der Band belegt, wie wenig das literarische Feld "DDR-Literatur" in der Forschung bisher bestellt ist und macht deutlich, dass Vorurteile nicht weiterführen. Ohne die Akzeptanz, dass die in der DDR geschriebene Literatur in der Auseinandersetzung mit einer anderen Gesellschaft und Gesellschaftsutopie entstand und dass die der Literatur zugewiesene gesellschaftliche Funktion die Autoren zwang, sich zu verhalten, ist der literarische Prozess der DDR kaum zu beurteilen. Auf das Auseinanderfallen von offiziellem Anspruch und erlebter Wirklichkeit reagierten Schriftsteller mit unterschiedlichen Haltungen, Schreibstrategien und ästhetischen Modellen, was von Affirmation, über Kritik und Protest, die sich im Rückgriff auf literarische Traditionen oder in der Wahl des Genres niederschlugen, bis zur Verweigerung reichte und mitunter im durch Zensur und Maßregelungen bedingten Ausstieg bzw. in Flucht und Ausreise endete. Das Ein- und Aussortieren nach politischer Haltung führt unweigerlich in eine Sackgasse, weil es für Widersprüchliches sowohl individualbiographisch wie im Falle Fühmanns, als auch bezogen auf den literarischen Prozess in Interaktion mit kulturpolitischen Vorgaben keinen Raum bietet. Die Einbeziehung von und Auseinandersetzung mit DDR-Forschungsarbeiten insbesondere der 1980er Jahre zum Gegenstand könnten hier hilfreich sein. Der unverstellte Blick begänne, wenn sämtliche in der DDR geschriebene Literatur ganz selbstverständlich als literarischer Prozess betrachtet und von hier aus ästhetischen Transformationsprozessen nachgefragt würde.


Anmerkung:

[1] Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 11. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Haase. Berlin (DDR) 1977, S. 456 ff.


Roland Berbig (Hg.)
Auslaufmodell "DDR-Literatur"
Essays und Dokumente
Berlin, Christoph Links Verlag 2018
516 Seiten
50,00 Euro
ISBN: 978-3-86153-974-2

11. September 2018


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