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REZENSION/021: Hans Pleschinski - Wiesenstein (SB)


Hans Pleschinski

Wiesenstein

von Christiane Baumann


Wiesenstein - Ein Hauptmann-Roman zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Es könnte alles so gewesen sein, aber eben auch nur annähernd so oder ganz anders. Hans Pleschinskis Buch über Gerhart Hauptmanns letztes Lebensjahr in der schlesischen Villa "Wiesenstein" bei Agnetendorf ist ein Roman. Das ist hervorzuheben, denn dass Oszillieren der Geschichte zwischen Fiktion und Authentizität lässt manchmal vergessen, dass es sich nicht um eine Biographie, sondern um Literatur handelt. Dazu tragen bisher unveröffentlichte Tagebuchnotizen von Margarete und Gerhart Hauptmann bei, aber vor allem die Fähigkeit Pleschinskis, das Geschehen um den Literaturnobelpreisträger in ein beeindruckendes zeitgeschichtliches Panorama einzubetten. Das Chaos am Ende des Zweiten Weltkriegs, das Ausmaß der Zerstörung auf allen Seiten, Not und Elend, Verzweiflung und Wahnsinn, Mord und Tod werden als Normalität eines Alltags begreifbar, in dem nichts mehr "normal" war.

Der Roman beginnt im März 1945, wenige Wochen nach der Zerstörung Dresdens. Der 82-jährige Hauptmann, von diesem unvorstellbaren Vernichtungsakt gezeichnet, ist zusammen mit seiner Frau Margarete auf dem Weg von Dresden ins schlesische Agnetendorf. In seiner Villa "Wiesenstein" hofft er, dem Grauen des Krieges zu entgehen. Er will "nach Hause" (S. 21). Der Romanbeginn führt dem Leser in geradezu naturalistischen Schilderungen das Bild der Verwüstung in und um Dresden vor Augen. Dann werden Lebensstationen Hauptmanns im Zeitraffer aufgeblendet. Die Sekretärin des Dichters klärt den gerade neu eingestellten Masseur Metzkow über die literarische Berühmtheit auf, was mitunter bemüht wirkt und nicht so recht zum Bildungshintergrund der Figuren passt. So reflektiert der Masseur Metzkow inmitten des Kriegschaos über den "Zweifel am humanistischen Tun und Denken Gerhart Hauptmanns" (S. 51). Mit diesen Rückblenden erhält der Leser, der sich mit Hauptmann bislang nicht oder kaum beschäftigt hat, allerdings Stichworte zu Leben und Werk, wird u.a. der Verfasser des naturalistischen "Meisterwerks" Vor Sonnenaufgang oder des Weber-Dramas erinnert. Dabei ermöglichen Zitate aus zahlreichen Hauptmann-Texten denjenigen, die vor allem diese beiden Dramen kennen, neue und unbekannte Seiten des Dichters zu entdecken. In dieser Verknüpfung gelingt es Pleschinski, Leben und Schaffen Hauptmanns lebendig werden zu lassen.

Der Zweifel "am humanistischen Tun und Denken" Hauptmanns zielt ins Herz des Romans, in dem sich der greise Autor zu Recht die Frage nach seiner Mitverantwortung an der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stellt. War es richtig, im nationalsozialistischen Deutschland geblieben zu sein? Kann sich Kunst heraushalten, bleibt sie "'rein'" (S. 70)? Hatte er sich zu sehr mit der Macht eingelassen? Kleinlaut lässt Pleschinski den Dichter im Roman bemerken: "Ich war immer lau in öffentlichen Dingen" (S. 167), auch in privaten, brauchte er doch Jahre, um die Trennung von seiner ersten Ehefrau Marie Thienemann zu vollziehen. Hauptmann-Forscher wiesen auf das "zwiespältige" [1] Agieren (Eberhard Hilscher), das politisches Engagement ablehnte, doch im Schaffen während der nationalsozialistischen Ära "bewundernswerte Leistungen" hervorbrachte, die einen "Protest gegen die Barbarei" [2] bedeuteten, so Das Meerwunder oder das seinerzeit unveröffentlicht gebliebene Requiem Die Finsternisse. Unentschiedenheit als Lebensprinzip nennt es Rüdiger Bernhardt, weil Hauptmann der "wirkliche 'Künstler' ein Mensch der Entscheidungsverweigerung" [3] gewesen sei. Peter Sprengel konstatierte in seiner Hauptmann-Biographie, der Zweite Weltkrieg sei die "Nagelprobe für das politische Gewissen des alternden Dichters" [4] gewesen und eine Prüfung, die er nicht bestanden habe. In Pleschinskis Roman werden die komplizierten Widersprüche und Zwiespältigkeiten zum Opportunismus. Dabei treten die Schilderungen vom Leben im Haus "Wiesenstein" 1945/46, luxuriös und privilegiert und selbst in schlimmsten Tagen dem Tafelsilber und der Tischetikette verpflichtet, in scharfen Kontrast zu marodierenden Truppen und mordenden Milizen, die brutal gegen die deutsche Zivilbevölkerung in den schlesischen Dörfern vorgehen.

Pleschinski erzählt (auch) die Geschichte von Flucht und Vertreibung in Schlesien, ohne einen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass diese das Ergebnis deutscher Kriegspolitik waren: Der Krieg begann mit einer Lüge Deutschlands und endete in der Schande (S. 26 u. 46), Massenmord und Holocaust. In diesem historischen Bewusstsein schildert der Autor Not und Elend der vertriebenen Deutschen, ihren Leidensweg, mit großer Sensibilität. Wer aus eigener Familiengeschichte Berichte über Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten kennt, findet sie in diesem Roman aufgehoben. Doch so traumatisch diese Erlebnisse auch waren, sie reichen, und das macht Pleschinski deutlich, an den Terror der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft nicht annähernd heran.

Im Epilog beansprucht Pleschinski Authentizität, indem er Personen und Geschehnisse aufführt, die verbürgt und in Hauptmanns Tagebuch belegt sind. Dabei benennt er Leerstellen, darunter die Schicksale der sowjetischen Kulturoffiziere Grigorij Weiss und Wassilij Sokolow (S. 548), die nicht eruiert werden konnten. Das verwundert, gibt es doch zum Wirken sowjetischer Kulturoffiziere in der sowjetischen Besatzungszone einschlägige Studien, die hätten herangezogen werden können. [5] Es weist aber auf ein Problem des Romans. Mit Grigorij Weiss ist ein wichtiges Ereignis am Lebensende Hauptmanns verknüpft, reiste dieser doch zusammen mit dem Dichter und Präsidenten des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Johannes R. Becher im Sommer 1945 in einer wichtigen Mission auf den Wiesenstein. Ihr Auftrag war es, Hauptmann als Ehrenpräsident für den Kulturbund zu gewinnen. Für dieses Amt suchte man einen Repräsentanten, den man den Millionen deutscher Mitläufer als Integrationsfigur anbieten konnte. Gerhart Hauptmann, der Deutschland während der Nazizeit nicht verlassen hatte, aber auch nicht als kompromittierte Persönlichkeit galt und populär war, schien geeignet und sagte zu. In den nachfolgenden Medien-Berichten wurde dieser Vorgang, um Vorbehalte zu vermeiden, mit Johannes R. Becher verknüpft und als deutsche Initiative ausgestellt. Das Wirken von Grigorij Weiss trat dahinter zurück. Diesem medial überformten Muster folgt Pleschinski, womit er der tatsächlichen Rolle des sowjetischen Kulturoffiziers Weiss, die in Quellen belegt ist, nicht gerecht wird. Johannes R. wird zum Parteisoldat, der "dazu auserkoren war, ein Kulturministerium der deutschen sozialistischen Republik auf dem Boden der Sowjetzone zu begründen" (S. 453). Er wird als "Kulturkader" (S. 454) und stalinistischer Befehlsempfänger gezeichnet und behauptet, er habe Ostdeutschland 1945 "zur Pflanzstätte einer friedvollen und sozialistischen Kultur" (S. 465) machen wollen. Darum ging es jedoch 1945 nicht, wie man in zahlreichen Dokumenten nachlesen kann, auch bei Becher selbst. Die demokratische Erneuerung sollte insbesondere das kulturelle Erbe und jene während des Nationalsozialismus in Deutschland verbotenen und verfemten Autoren und damit ein breites Spektrum antifaschistischer und humanistischer Tradition einbeziehen. In der sowjetischen Besatzungszone 1947 herausgegebene Anthologien wiesen diese Intention dezidiert aus: Vom Schweigen befreit, Verbannte und Verbrannte, um einige Titel zu nennen. Einem Roman Geschichtsklitterung vorzuwerfen, scheitert an seinem fiktionalen Charakter, ist jedoch berechtigt, wenn - wie in diesem Fall - Authentizität suggeriert wird.

Pleschinski liefert mit Wiesenstein Bilder vom Zweiten Weltkrieg, der "die Schrecknisse des Dreißigjährigen Krieges" (S. 508) noch übertraf. Krieg, Flucht und Vertreibung werden in ihrer historischen Dimension begreifbar. In der Figur Gerhart Pohls, der an seinem Buch Fluchtburg schreibt, wird die Intention des Autors gespiegelt: "Das Unreich wird präsent bleiben und auch nicht mehr. Ich selbst lege [...] Zeugnis davon ab, versuche auch für Spätere die Bestialität dieser Jahre festzuhalten. Mag sein, [...] dass eines fernen Tages, den wir uns nicht vorstellen können, sogar die Schrecken, die ich beschreibe, allzu bekannt erscheinen könnten. Wird nach etlichen Generationen sogar das Unreich zu den Akten kommen?" (S. 509) Bücher wie diese, wirken dem entgegen.


Anmerkungen:

[1] Hilscher, Eberhard: Gerhart Hauptmann. Berlin 1969, S. 420 ff.
[2] Ebd., S. 427.
[3] Bernhardt, Rüdiger: Gerhart Hauptmann. Eine Biografie. Fischerhude 2007, S. 16.
[4] Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. München 2012, S. 684.
[5] Es seien beispielhaft genannt: Hartmann, Anne und Wolfram Eggeling: Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945-1953. Berlin 1998, S. 145 ff. Bernhardt, Rüdiger: Die Bedeutung sowjetischer Kulturoffiziere für die Konzeptionsbildung bis 1947. In: Zwischen politischer Vormundschaft und künstlerischer Selbstbestimmung. Zur Herausbildung der DDR-Literatur 1945-1955. Protokoll einer wissenschaftlichen Arbeitstagung vom 23. Bis 24. Mai 1989 in Berlin, S. 42 ff.


Hans Pleschinski
Wiesenstein
Roman
Verlag C.H.Beck, München 2018
548 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-406-70061-3

18. August 2018


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