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REZENSION/018: Martin Walser - Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte (SB)


Martin Walser

Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte

von Christiane Baumann


Von der Zuflucht im Roman
#Me Too und Martin Walsers Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte

Ein Jahr ist seit dem 90. Geburtstag von Martin Walser vergangen und schon wieder liegt ein Buch von ihm auf dem Tisch. Seine Produktivität ist beeindruckend. Der Titel wirkt nicht weniger sperrig als der des letzten Romans Statt etwas oder Der letzte Rank, der sich, wie im Grimm'schen Wörterbuch unter "Rank" zu lesen ist, als "versteckter böser Anschlag" entpuppte. Dieses Mal geht es um "Gar alles", und die Briefe an eine unbekannte Geliebte stehen in ihrer ironischen Selbstreflexion und Leichtigkeit dem "Rank" in nichts nach. Es sind Briefe, Gedichte, Sentenzen, SMS-Nachrichten, wie man sie schon öfter von Walser las und Bruchstücke aus einem Leben, dessen Wirklichkeit als "Würgegriff" (S. 28) erscheint.

In der Romaneröffnung stellt der Erzähler, oder besser der "Absender", seine Identität zur Disposition: "Ich bin nicht ich. Ich ist ein Wort. Ich bin doch kein Wort." (S. 7) Unwillkürlich fühlt man sich an Max Frischs berühmten ersten Satz "Ich bin nicht Stiller" erinnert. In Frischs Roman Stiller befindet sich die Hauptfigur im Gefängnis und leugnet beharrlich ihre Identität. Walsers Ich-Erzähler reflektiert über Sprache als Identität, um auch das sofort zu verwerfen: "Ich bin doch kein Wort" und kein "Wortjongleur" (S. 7). Dieser Erzähler hat seine Identität verloren und stellt die Sprache als Existenzform der Menschlichkeit und als "Hort aller Erfahrung", wie es in Walsers Essay Sprache, sonst nichts (1999) heißt, in Frage. Er kommuniziert nicht mehr mit der Außenwelt, sondern schreibt an eine imaginäre Frau in einem Internet-Blog.

Der Erzähler ohne Identität nennt sich Justus Mall und ist Philosoph, aber eigentlich heißt er Dr. Gottlieb Schall, war Oberregierungsrat und im Justizministerium zuständig für Migration. Jetzt ist er im gesellschaftlichen Verständnis unzurechnungsfähig. Auslöser der Katastrophe war ein Fall von #MeToo. Schall berührte während einer Opernpause im Theater eine junge Frau unsittlich am Schenkel. Diese, Praktikantin bei der Süddeutschen Zeitung, machte den Vorfall, der nur den Bruchteil einer Sekunde umfasste, öffentlich. Schall sah sich als altersgeiler Grapscher an den Pranger gestellt. Der Shitstorm, der über ihn hereinbrach, die moralische Verurteilung vernichtet seine bürgerliche Existenz. Als Ausweg blieb nur noch die Flucht in Krankheit, in geistige Umnachtung - Diagnose Alzheimer. Damit ist die sittliche Ordnung wiederhergestellt.

Die #MeToo-Debatte liefert den Anlass, um die Veräußerlichung moralischer Werte bloßzustellen, die Verlogenheit gesellschaftlicher Normen und einer Moral, die sich überrascht gibt, wenn sich Frauen auf der Besetzungs-Coach prostituieren müssen. Angesichts dieser Befunde wirkt der amerikanische Präsident Trump als "Belebung", weil er "weniger gelogen [hat, C.B.] als je ein Kandidat vor ihm" (S. 89). Schreiben ist die Antwort auf einen empfundenen "Mangel an Gerechtigkeit"(1). Justus kommt aus dem Lateinischen und heißt der "Gerechte". Mall lässt an die Shopping-Mall denken, an das Zur-Schau- Stellen und Promenieren in der Öffentlichkeit, aber auch an Anonymität. Die englische Sprache spielt im Roman eine zentrale Rolle. Malls Geliebte Silke schreibt nur noch in Englisch, denn sie sei "zu lange mit deutschen Wörtern betrogen worden" (56).

Der angepasste bayerische Beamte Gottlieb Schall, aus Malls Sicht wegen eines erotischen Tête-á-Têtes vernichtet, sorgt für einen unüberhörbaren Skandal und muss sich buchstäblich in Schall und Rauch auflösen. Für unzurechnungsfähig erklärt, schreibt er als Philosoph Justus Mall Bücher: "Die Lüge als Mutter der Wahrheit", "Der Irrtum als Erkenntnisquelle" und schließlich unter falschem Namen "Das Tor zur Freiheit", das die "Ziel- und Zwecklosigkeit" (S. 67) menschlichen Seins und, Nietzsche paraphrasierend, die "Geburt der Freiheit im Geiste der Musik" (67) propagiert. Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik sorgte 1872 für einen Skandal, der den Autor um seine wissenschaftliche Reputation brachte. Nietzsche sah in Wagner den Erfüller seiner Idee der Wiedergeburt des Dionysischen. Er entwarf unter Bezug auf Dantes Göttliche Komödie ein Bild vom Leben als Inferno, dessen grauenvolle Wahrheit das Ich zur Erkenntnis der Absurdität des Daseins führt, das nur die Kunst zu bewältigen vermag. Nicht zufällig ereignet sich Schalls gesellschaftlicher Normverstoß in der zweiten Pause von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde nach dem berühmten Liebesduett "Sink hernieder Nacht der Liebe". Und geradezu folgerichtig sind die "Erzlüge" und die "Absurdität", dass Malls Buch "Das Tor zur Freiheit", in dem das "Überflüssige" gepriesen wird, "um damit Geld zu verdienen" (S. 68), zu einem Verkaufserfolg wird.

Ewig aktuell nannte Walser nicht nur seinen im vergangenen Jahr erschienen Essayband, ewig aktuell sind seine Themen, die auch in diesem Roman wiederkehren. Da ist der Mann zwischen zwei Frauen, die Sehnsucht nach der Ehe zu Dritt, ein Normverstoß und Lebensmodell, das auch auf andere Dichter Faszination ausübte. Man denke an Gerhart Hauptmann. Genannt werden als "Ahnherren" Goethe, Schiller und Brecht. Frischs Roman Stiller liefert ein literarisches Beispiel. Da sind die erotischen Sehnsüchte eines alternden Mannes, dem ein Gang durch die Straßen angesichts der weiblichen "Anmacharmee" zum "Spießrutenlauf" und "Lust zur Qual" (S. 32) wird. Da gibt es die übliche Kritikerschelte, die jedoch nicht mehr das ist, was sie einmal war, denn "DPA", gemeint ist Dolf Paul Alt, fiel inzwischen ins Koma, so dass er "Das Tor zur Freiheit" nicht mehr verreißen kann.

Gar alles steht für das Zusammenfallen von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, "ein Zugleich von gar allem" (S. 101). Es ist "die Gegenwärtigkeit von allem. Kein Vorher, kein Nachher" (S. 100), da die Vergangenheit dem Demenz-Vergessen anheimgegeben und die Sehnsucht des Ich-Erzählers nach utopischen Entwürfen nicht mehr einlösbar ist. So bleibt die Geliebte ein "Wunschbild, eine Utopie" (S. 16), und aus dem Blog wird ein Roman. Gar alles, was noch bleibt, ist die Hoffnung auf diesen Roman als Zuflucht. Ganz im Nietzsche'schen Duktus vermag es allein die Kunst, der Absurdität des Daseins und der Vergänglichkeit zu trotzen. Walsers Roman ist eine Provokation, aber zum Glück ist der Erzähler ja unzurechnungsfähig ...


Anmerkung:

(1) Walser, Martin: Ewig aktuell. Aus gegebenem Anlass. Reinbek bei Hamburg 2017, S. 611.


Martin Walser
Gar alles oder
Briefe an eine unbekannte Geliebte
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018
107 Seiten
18,00 Euro
ISBN: 978-3-498-07400-5

27. März 2018


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