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REZENSION/015: Helmut Barthel - Zauber kalt, Teil 1, Bari in Inari (Roman) (SB)


Helmut Barthel

Zauber kalt
Ein Märchen für Erwachsene
Teil 1 - Bari in Inari


Wo es kalt und dunkel ist ...

"Zauber kalt" ist ein ungewöhnlich distanzloses Buch. Es entstand in Anlehnung an die Erlebnisse und Erfahrungen im Umfeld einer Reise nach Lappland, die Autor Helmut Barthel Ende 1975 in Begleitung einer Freundin unternahm. Obgleich er im Prolog auf die Subjektivität seiner Eindrücke hinweist und auch der Untertitel "Ein Märchen für Erwachsene" keinerlei Wahrheitsanspruch vermittelt, erfüllt den Leser vom ersten Absatz an die Gewißheit, es mit einem vollkommen authentischen Bericht zu tun zu haben. Gemeinsam mit Helmut Barthel und seiner Freundin Kirsten gerät man sogleich in den unwiderstehlichen Sog von Begebenheiten, die sich zwischen dem damaligen Hamburger Wohnort des Autors in der Eppendorfer Ludolfstraße und einer gemieteten Blockhütte am Inarisee im nördlichen Lappland ereignen, während die beiden ihr erklärtes Anliegen verfolgen, "nach den Dingen hinter den Dingen zu forschen":

Mich trieb eine sprichwörtlich dunkle Ahnung, mit meiner Ausschau und Suche nach verlorenem Menschheitswissen und Spuren nie kultivierter und zivilisierter Fertigkeiten und Kenntnisse ausgerechnet im Herrschaftsgebiet der Polarnacht, des Nordlichts und des denkbar erdnächsten Sternenhimmels, den ich je gesehen hatte, zu beginnen.
(S. 35)

Nicht ohne humorige Selbstkritik und bar jeglicher Attitüde des von Schicksalsmächten Bevorzugten schildert Helmut Barthel lebendig, augenblicksnah und spannend, wie sich für ihn sein bisheriges Weltbild mehr und mehr aufzulösen beginnt. Dabei spielt die folgende Begegnung im seinerzeit einzigen Ladencafé von Inari eine zentrale Rolle:

Es mußte ein Sami sein, denn er war vollständig bekleidet mit jener traditionellen Ausstattung, die ich in Ermangelung eines besseren Wissens als eine regionale Tracht zu erkennen glaubte. Seine auffällige Kleinwüchsigkeit wurde durch das krause, lange Haar, das ihm ungebändigt vom Kopf abstand, auf eine unvergleichlich wilde und gefährliche Weise betont, daß es schon etwas raubtierhaftes hatte. [...] Es sah aus, als wolle er sich orientieren, und er wendete dabei einmal kurz sein Gesicht in unsere Richtung. Das war der zweite und größte Schock für mich in diesen Sekunden. Denn bei aller Neugier und größter Mühe und wohlgeübter Anstrengung - ich konnte sein Gesicht nicht sehen und die Augen schon gar nicht, obwohl es gerade die waren, die mein Blick zu treffen suchte. Immer, wenn ich mich später erinnern wollte, was genau ich denn gesehen hatte, als ich darum kämpfte, das Gesicht dieses seltsamen Menschen zu erfassen, erschien es mir wie alt gewordenes, verrunzeltes, aber konturloses Leder.
(S. 68/69)

Im weiteren Verlauf der Reise häufen sich Vorfälle, die die beiden Reisenden an ihren Sinnen, ihrem Verstand und zunehmend an dem zweifeln lassen, was nach dem Konsens abendländischer Industriekultur als unhinterfragbar gilt. Das Gefühl, die Orientierungssicherheit am bisher unverrückbar Materiellen wie auch in Zeit und Raum unaufhaltsam zu verlieren, bringt der Autor dem Leser durch geschickt in den Erzählstrang eingearbeitete Zeitschleifen und -sprünge nahe, die mit einem "Huch"-Effekt kurz die Verunsicherung durch die Auflösung gewohnter Kontinuitäten erahnen lassen. Ein gelungener Kunstgriff, der vom flüchtigen Leser zunächst für einen drucktechnischen Fehler gehalten werden könnte, der dann jedoch gegenüber den Versuchen anderer Autoren, inhaltlich Vergleichbares zu beschreiben, durch seine Unmittelbarkeit überzeugt.

Beispielsweise versuchte James Houston in seinem Roman "Spirit Wrestler" [1], der einige persönliche Erfahrungen mit dem alten Wissen der Inuit verarbeitet, Diskontinuitäten im Zeitablauf durch eine stehen gebliebene Uhr zu vermitteln oder durch das plötzliche Auftauchen und spurlose Verschwinden einer Person, die nachvollziehbar erst sehr viel später am fraglichen Ort eintrifft. Dabei bleibt der Leser allerdings stets der staunende Beobachter, wohingegen er in "Zauber kalt" zumindest andeutungsweise selbst von der Irritation betroffen ist.

Die Erzählweise von H. Barthel läßt, nachdem er mit seinem Vorwort abgeschlossen hat, eine Beobachtungsdistanz kaum mehr zu. Seine Diktion des direkten Berichterstatters macht das Miterleben leicht, ja unabdingbar. Seine Sätze sind mitunter komplex, doch immer klar; differenziert, nie weitschweifig. Eine Sprache, die Bilder entstehen läßt, aber nicht aufzwingt:

So sehr sicher war ich, daß ich Kirsten hier hinten gefunden hatte, daß ich der leicht gebeugten Gestalt, die ich an der wohl dunkelsten Stelle, die es im Laden gab, antraf, sanft und doch auffordernd auf den Rücken klopfte.

Niemand kann sich meinen explodierenden Schrecken in jenem einen Augenblick auch nur im entferntesten ausmalen, als sich mir mit einer fast plötzlichen Drehung das Gesicht einer uralten Frau zuwandte. Nicht nur, weil ich nicht Kirsten vor mir hatte und auch nicht nur deshalb, weil ich gerade vieles wollte, nur nicht auffallen, sondern auch, weil dieses Gesicht das elementare Aussehen eines hügelgeborenen Felsens hatte, fühlte ich mich angesichts dieser entsetzlichen Offenbarung geradezu versteinert.

Als mich endlich meine Reflexe zur Flucht lösen wollten, packte die Alte mich mit einer Hand derart fest an meinem Oberarm, daß ich sofort an eine übergroße Rohrzange denken mußte. Mein erster krächzender Laut war wohl der Grund, weshalb sie ihren Mund öffnete, und kein speicheltriefendes Raubtiergebiß konnte ich mir so furchterregend vorstellen wie diesen leicht geöffneten Mund mit einem einzigen, deutlich sichtbaren Vorderzahn.
(S. 125/126)

Helmut Barthels geradezu substantiell verdichtete Sprache kommt nicht von ungefähr, ist das Gedicht doch eine von ihm favorisierte Ausdrucksform. Auch zum Thema des vorliegenden Buches hat er sich lyrisch eindrücklich geäußert. So macht sein Gedicht "Fluctui" unmißverständlich klar, daß ein Kontakt mit dem alten Wissen, von dem er spricht, nichts mit den Lagerfeuern jener Schamanen-Seminare gemein hat, an denen sich inzwischen auch in Rovaniemi Lapplandtouristen ihre wohlgefestigte Weltsicht wärmen. Ohne jedoch irgend jemandem die Ernsthaftigkeit abzusprechen, verweist H. Barthel in leisen Tönen und stets auf die eigenen Fehleinschätzungen bezogen auf die Unerläßlichkeit "jener Korrektur, um die es mir in meinen Schilderungen unter dem zusammenfassenden Begriff 'Zauber kalt' eigentlich geht." (S. 51/52)


Fluctui [2]

Als jener Falter Schatten warf
im hellen Schein der Flammen,
da sah ich ihn schon doppelt scharf
und flog mit ihm zusammen.

Der Feuerplatz, das Drumherum,
war meinem Sinn entschwunden,
ich drehte flatterhaft, wie dumm,
ums heiße Licht die Runden.

Mir war, als gähnt' im Flügelschlag
ein riesengroßer Rachen,
und der verschlang mich, wenn ich's sag,
ich konnte gar nichts machen.

Und so verschluckt, ist's mir gescheh'n,
es gab nicht Dach noch Wände,
ich hab' die lange Nacht geseh'n,
den Abgrund ohne Ende.

Er war so endlos, hohl und leer,
kein Halt war in dem Schlund zu finden,
und dunkel war's wie schwarzer Teer,
nicht nur die Sehkraft mußte schwinden.

Alleinsein wär' Geselligkeit
in einem solchen Rachen,
und höllisch schien die Schnelligkeit,
den Teufel hört' ich lachen.

Ich fand mich auf dem Stuhl erschrocken,
das Feuer brannte noch als Glut,
ich sah die Leute um mich hocken,
es lähmten mich die Furcht und Wut.

Ich habe es dennoch gewagt,
den ander'n mitzuteilen,
daß mir das Feuer nichts mehr sagt,
um fortan zu verweilen.

Beim Gehen hört' ich mich noch sagen:
"Habt auf den Falter bitte acht,
er hat so viel für uns zu tragen,
weil er die ganze Welt bewacht."


Resümee

Auf der Weltkarte finden sich heute kaum noch weiße Flecken. Und auch sonst hat eine erklärungsmonopolistische Wissenschaft das Unbekannte weitgehend beseitigt. Die zivilisatorische Ordnung steht. Nie zuvor war die Welt so eng. Selbst die Unabsehbarkeit der Zukunft ist der weitgehenden Gewißheit des ökologischen Kollaps gewichen. Da mutet es geradezu paradox an, daß es ausgerechnet einem Buch, einem Zivilisationsprodukt, gelingt, am Unverrückbaren dieser Ordnung Zweifel zu wecken und im sattsam Bekannten ungeahnte Räume aufzutun. Vielleicht ist "Zauber kalt" in dieser Hinsicht für manchen Leser mehr als ein Buch. Dem Autor sei Dank.


Anmerkungen:

[1] "Spirit Wrestler" (Titel der amerik. Originalausgabe von 1980), deutschsprachige Ausgabe: Geisterjäger, James Houston, Goldmann Verlag 1986)

[2] Helmut Barthel: Lyrik-Lesung 3, Dichterstuben. Eine Auswahl, MA-Verlag, Stelle-Wittenwurth, August 2016, "Fluctui". S. 149


Helmut Barthel
Zauber kalt
Ein Märchen für Erwachsene
Teil 1 - Bari in Inari
MA-Verlag, Stelle Wittenwurth 2015
Softcover
173 Seiten
11,80 Euro
ISBN 978-3-925718-23-6

Die Folgebände 2 und 3 von "Zauber kalt" sind in Vorbereitung

15. November 2016


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